In Stadt und Landkreis Kassel wurde der Fitmacher, der präventiv und rehabilitativ wirkt, vom Landessportbund Hessen (LSBH) schon 2006 getestet. Damals bildete die Initiative den neunten Baustein der Aktion „Europa(s) Meister“ im Zuge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das grüne Rezept wird seit dem 19. August auch im Landkreis Groß-Gerau und seit 20. August im Landkreis Offenbach ausgestellt.
"Sport kann Medikamente reduzieren"
In Kassel unterstützten anfangs 280 der dort 840 niedergelassenen Ärzte die Offensive. „72 Prozent davon sind heute noch dabei“, bilanziert Eckhard Cöster. „Ärzte verschreiben keine Pillen, sondern Bewegung“, unterstreicht der Geschäftsbereichsleiter Breitensport und Sportentwicklung im LSBH. Sportvereine offerieren qualifizierte Angebote. Von den 7.800 Clubs im LSBH arbeiten 630 mit 1.500 zertifizierten Angeboten. Professor Winfried Banzer, Präsidiumsbeauftragter im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) für Gesundheit sowie Landesbeauftragter Sport und Gesundheit im LSBH: „Es gibt beste Erfahrungen, dass Sport Medikamente reduzieren kann.“
Studien dokumentieren gar Reparatur-Vorgänge am erkrankten Herzen. Chronische Krankheiten (Rücken, Diabetes), Depressionen und psychische Erkrankungen oder Herz/Kreislauf werden durch Sport, Bewegung und Training gemildert. Der Leiter der Abteilung Sportmedizin der Goethe-Universität in Frankfurt feiert Ideenreichtum der Vereine sowie Leistungsfähigkeit und Qualität der Übungsleiter: „Wir stellen uns dem Qualitätsmanagement.“ Der Wegweiser „Kreis Groß-Gerau - fit und beweglich“ listet neben Ernährungstipps und Übungsanleitungen zunächst zertifizierte Angebote von 37 der 270 Sportvereine und Volkshochschul-Kurse auf. Knapp 100 Praxen von 300 niedergelassenen Ärzten im Landkreis tragen die Bewegungsoffensive mit. Gut Ding will Weile haben, das wissen auch die Netzwerker zu denen der Turngau, Staatliches Schulamt, Gesundheitsamt, Altenhilfe und Volkshochschule gehören. Der Sportbeauftragte des Kreises Groß-Gerau, Klaus Astheimer, hält weiteren Partnern die Tür offen: „Das Netzwerk ist noch nicht geschlossen.“
Hilfe zur Selbsthilfe
„Mit unserer Aktion wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, für mehr Bewegung werben und damit zugleich unser Gesundheitssystem mittel- bis langfristig finanziell entlasten“, erkennt der Erste Kreisbeigeordnete Thomas Will den Wert des Netzwerkes und der Fitnessfibel. Der 64 Seiten starke Wegweiser harrt nun der Aufmerksamkeit und Anwendung. „Ich möchte das mit in den Verein nehmen“, unterstrich Herbert Dewald, Übungsleiter bei der SG Dornheim. Er hofft, dass durch die Aktion zugleich mehr Leute den Weg in die Vereine finden. „Es ist wichtig, dass die Leute in Bewegung kommen“, weiß der ehemalige Sportlehrer.
„Die Patienten gehen mit ihren Beschwerden zum Arzt. Dieser stellt nach der Untersuchung das Rezept aus. Gemeinsam kann im Wegweiser nach dem passenden Sportangebot geschaut werden“, skizzierte Ralf-Rainer Klatt, Präsidiumsmitglied im LSBH für Breitensport und Sportentwicklung, bei der gut besuchten Kickoff-Veranstaltung im Landratsamt Groß-Gerau die Ideallinie. Der Patient wandert danach mit dem Rezept, auf dem der Arzt Informationen für den Übungsleiter vermerkt, in den Sportverein, wo er ein zertifiziertes Angebot nutzt.
Vereine sollen verstärkt Angebote im Gesundheitssport anbieten
Klatt: „Hier ist ein neuer Knotenpunkt dieses Netzwerks entstanden durch die Vereine. Aber ohne Partner können wir das nicht leisten.“ Mit am Netzwerk knüpfen auch Krankenkassen - einige vergüten „Sport pro Gesundheit“-Angebote - und die Landesärztekammer, die in Hessen ein Gutteil der rund 29.000 Ärzte, davon 8.000 bis 10.000 niedergelassene, vertritt. Pressesprecherin Katja Möhrle, relativiert jedoch: „Das ist kein Rezept, dass ein Arzt wie für Medikamente ausstellt, sondern eine Empfehlung und eine freiwillige Sache, die er nicht vergütet bekommt.“ Der Aufbau des „Netzwerkes Sport und Gesundheit im Kreis Groß-Gerau“ war eine der Handlungs-empfehlungen des Sportentwicklungsplanes, 2007 vom Kreistag verabschiedet. Thomas Will: „In Rekordzeit ist dieses wichtige Ziel umgesetzt worden.“ Die politische Regie erwartet, dass die Vereine verstärkt und nachhaltig Gesundheitssport anbieten und das Gütesiegel „Sport pro Gesundheit“ einbinden. Klaus Astheimer zieht den Rahmen weiter: „Wir möchten verschiedene Zielgruppen ansprechen, vom Kind bis zu den Senioren. Die Bevölkerung soll sensibilisiert werden, dass Bewegung wichtig ist.“ Wie wichtig Aktivität ist, predigt Winfried Banzer gebetsmühlenartig. Der Sportmediziner zeichnet ein düsteres Bild wachsender Bewegungsarmut und fortschreitender Zivilisationskrankheiten: Rückenschmerzen, Übergewicht, Bluthochdruck, bedrohliche Adipositas schon im Kindesalter. Diabetes wird 2025 bereits 20 Prozent der Bevölkerung heimsuchen. Gleichgewichtsstörungen und fehlende Muskelkraft provozieren bei älteren Menschen 30 bis 40 Prozent Sturzverletzungen. Bewegungsmangel führt zu Aufmerksamkeitsstörungen, untergräbt das Selbstwertgefühl und lähmt die Gehirnfunktionen. Depressionen sind eine Folge. Banzer bilanziert mehr Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten als durch Infektionskrankheiten: „Wir haben einen Paradigmenwechsel.“
Schon der tägliche Spaziergang mit dem Hund, wirkt gesund. „Da ist jedes Mittel recht, auch wenn es bellt.“ Bewegung in den Alltag integrieren, heißt sein einfachstes Rezept. Treppen steigen und Lifte sparen zum Beispiel. „Bewegung kann ein natürliches Heilmittel sein.“