Die schrittweise Einführung der Ganztagsschule in Deutschland hat in den letzten Jahren eine Menge guter Ideen gebracht, aber auch offene Fragen hinterlassen. „Wir stehen durch diese Bildungsreform vor der größten Herausforderung in der jüngsten aktuellen Sportentwicklung“ sagte Prof. Gudrun Doll-Tepper auf dem 21. Hochschultag der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) in Halle.
Frau Prof. Doll-Tepper, beim dvs-Hochschultag in Halle/Saale hat sich ein Dialogforum mit den Auswirkungen der Ganztagsschulen auf den Vereinssport beschäftigt. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dem Meinungsaustausch?
GUDRUN DOLL-TEPPER: Für uns hat sich zum einen gezeigt, dass es ganz wichtig ist gut zuzuhören. Nirgendwo ist die Entwicklung gleich, die Probleme und Herausforderungen sind sehr unterschiedlich. Und dieses gilt es aufzunehmen und in unsere Beurteilung einfließen zu lassen. Zum zweiten hat es sich gezeigt, dass es immer noch weitaus mehr offene Fragen als Antworten über die Einführung dieser Schulform und ihre Auswirkungen auf den organisierten Sport gibt. Selbst die Experten müssen dieses eingestehen. Aber es gilt weiterhin, was wir schon seit langem sagen: In dieser Veränderung der Schullandschaft liegt trotz aller verständlichen Ängste bei den Vereinen auch eine Herausforderung, neue Wege zu gehen. Die Sportvereine besitzen die große Chance, selbst etwaigen negativen Entwicklungen gegenzusteuern.
Laut DOSB Sportentwicklungsbericht 2009/2010 arbeiten bundesweit 27 Prozent aller Sportvereine mit einer Schule in unterschiedlichen Formen zusammen. Sind Sie denn mit dieser Zahl zufrieden?
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn diese Zahl höher liegen würde. Allerdings zeigt die Entwicklung auch, dass die Bewegungsangebote von Sportvereinen im Ganztag zunehmen und vielfältige, kreative Beispiele in der Praxis entstehen. Die gemeinsamen Angebote beziehen sich dabei beispielsweise auf Arbeitsgemeinschaften, Schulsportfeste und Schulsportwettbewerbe. Für das organisierte Sportsystem gehören der Ausbau und die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen zu den größten Aufgaben in der Zukunft. Insbesondere müssen die Rahmenbedingen verbessert werden, um den Vereinen den Schritt in dieses neue Aufgabenfeld zu erleichtern.
Die Sportvereine ändern sich, wenn auch langsam. Ändern sich denn auch die Schulen?
Grundsätzlich zeigen sich die öffentlichen und freien Schulträger an Schulen bereit, Angebote von Sportvereinen innerhalb der Ganztagsbetreuung zu integrieren. Wir stellen fest: Wenn der Schulleiter oder die Schulleiterin eine Affinität zum Sport hat, dann bewegt sich auch die Schule. So beobachten wir, dass immer mehr Schulen Schulprofile wie ´die gesunde Schule´ oder ´die bewegte Schule´ entwickeln, um die Schülerinnen und Schüler für den Sport zu begeistern. Wichtig wird auch sein, dass wir die Kinder einbeziehen, die wir bisher noch nicht mit Bewegungsangeboten erreicht haben. Dafür müssen wir verstärkt entsprechende Vereinskonzepte bereitstellen. Was wir aber generell anstreben: Wir wollen den Sport zum unverzichtbaren Bestandteil der Bildung machen. Er ist aber auf Bundesebene bisher nicht Bestandteil der Bildungsberichterstattung. Das wollen wir ändern.
Können Sie denn einschätzen, welche Auswirkungen die verstärkte Einführung der Ganztagsschulen und die zeitliche Mehrbelastung durch die gymnasiale Schulzeitverkürzung auf die Mitgliederzahlen des Nachwuchses in den Sportvereinen haben werden?
Das können wir leider noch nicht, denn dafür fehlen die flächendeckenden Erkenntnisse. Vereinzelt ist allerdings bereits ein Rückgang der Aktivitäten von Jugendlichen in den Sportvereinen, Kirchen und Musikschulen zu verzeichnen, da Eltern und Schüler sich einem erhöhten Leistungsdruck ausgesetzt fühlen. Davon betroffen sind sowohl Umfang und Intensität des Sporttreibens, verstärkt im Nachwuchsleistungssport als auch das ehrenamtliche und freiwillige Engagement im Sport. An dieser Stelle ist die Sportwissenschaft gefordert, die entsprechenden Untersuchungen anzustellen, wobei natürlich bei Nicht-Teilnahme am Vereinssport eine genaue Untersuchung der Gründe erfolgen muss. Es kann sein, dass ein Jugendlicher eine andere Art von Sport bevorzugt wie Skaten oder Ähnliches, also die Ursache nicht im Schulsystem zu suchen ist. Das muss natürlich differenziert analysiert werden. Aber dennoch: Es ist derzeit nicht auszuschließen, dass die zeitliche Mehrbelastung durch das Schulsystem zu negativen Auswirkungen in den Mitgliederzahlen führen wird. Wir werden dies im Auge behalten und rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.