DOSB PRESSE: Sie werden demnächst an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Dissertation über die fast 20.000 Mitglieder zählende Turngemeinde Bornheim (TG) einreichen. Was ist das Besondere am Thema „Großverein als Institution in der Zivilgesellschaft“?
BORIS ZIELINSKI: Natürlich gibt es bereits Selbstanalysen von Sportvereinen und anderes Material. Doch dies ist bundesweit die erste Dissertation, die auf einer ausführlichen Befragung von Mitgliedern in Sportvereinen beruht. Diese Art der Befragung ist die Basis dieser Arbeit. Im organisierten Sport gibt es zwar regelmäßige Sportentwicklungsberichte, die Informationen über die Situation in Sportvereinen sammeln und auswerten, aber dabei werden ausschließlich die Vorstände und Funktionäre befragt. Deren Ansichten, Probleme und Situationen zu ergründen, das ist zwar ebenfalls sehr wichtig. Aber es ist meines Erachtens ein großes Defizit, diese Befragungen ausschließlich auf Vorstandsmitglieder zu beschränken. Wer wissen will, wie die Basis und die Mitglieder in Sportvereinen ticken, der muss die Basis danach befragen.
DOSB PRESSE: Was sind denn die wichtigen Themen für die Mitglieder der TG-Bornheim, für die Sie nach Ihrem Sportwissenschaftsstudium seit zehn Jahren als sportlicher Leiter arbeiten?
ZIELINSKI: Bei allen Fragen, die gestellt wurden und die von der Atmosphäre in den Übungsstunden bis zur Wahrung der Vereinstradition und zur Förderung der Jugendarbeit reichten, haben sich am Ende drei Funktionen herauskristallisiert. Bewusst wahrgenommen wird der Verein von seinen Mitgliedern als Institution von Integration und Geselligkeit, als Dienstleister sowie in der Palette seiner sportlichen und kulturellen Angebote. Über diese drei Funktionen definieren die Mitglieder ihren Verein. In dieser Aussage waren sich die Mitglieder sowohl der TG Bornheim als auch der Sportgemeinschaft Bornheim Grün-Weiß und des Turnvereins 1874 Bergen-Enkheim einig.
DOSB PRESSE: Sie haben sich bei der Befragung also nicht auf Ihren Verein beschränkt?
ZIELINSKI: Es ging auch darum, Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen diesem Großsportverein in Relation zu einem Einspartenverein wie den Fußballern von Grün-Weiß Bornheim und einem traditionellen Mehrspartenverein wie dem TV 1874 Bergen-Enkheim herauszuarbeiten. Die Ergebnisse entsprechen denen einer repräsentativen bundesweiten Umfrage. Allein von den Mitgliedern der TG Bornheim kamen 1.500 Fragebögen zurück, das ist enorm. Außerdem ging Manches von dem in die Dissertation ein, was ich als sportlicher Leiter tagtäglich praktisch aus erster Hand erfahre. Die enge Zusammenarbeit mit Geschäftsstelle und Vorstand gehört für mich genauso zum beruflichen Alltag wie die Organisation zum Beispiel der „Tage der offenen Tür“ oder unserer „Gesundheitstage“ oder die Kontakte zu Schulen, Firmen, Kooperationspartnern oder Ärzten. Natürlich ist zugleich der direkte Draht zu den einzelnen Mitgliedern wichtig, um Bescheid zu wissen über all das, was sie gut finden oder ärgert oder was sie an Neuerungen und Verbesserungen anregen. Deswegen ist es für mich umso wichtiger, dass ich möglichst oft in unseren Sporthallen unterwegs bin.
DOSB PRESSE: Wo liegen die größten Unterschiede bei der individuellen Bewertung dessen, was ein Sportverein leisten soll?
ZIELINSKI: Während die TG-Mitglieder die Dienstleistungsfunktion als die wichtigste betrachten, stehen bei den Mitgliedern der beiden anderen Vereine in etwa gleich starkem Maße Integration und Geselligkeit ganz oben. Besonders wichtig ist diese Funktion für Menschen mit Migrationshintergrund. Sie bewerten die Bedeutung des Sportvereins als Ort der Gemeinschaft tendenziell noch höher als die einheimischen Mitglieder. Wobei wir bei der TG Bornheim ein Phänomen beobachten können: Migranten fühlen sich hier nach ihrem eigenen Verständnis weitaus besser integriert, als die deutschen Vereinsmitglieder glauben, dass dies der Fall ist. Als Schlussfolgerung bleibt: Für Migranten hat der Sport als Integrationsfaktor eine exorbitante Bedeutung. Das gilt nicht nur für den Großsportverein, sondern das gilt für alle Vereinstypen.
DOSB PRESSE: Gibt es Gruppen, für die das Integrativ-Gesellige eher nebensächlich ist?
ZIELINSKI: Wenn man die Ergebnisse nach Altersgruppen betrachtet, dann ist Integration und Geselligkeit im Sportverein erstaunlicherweise für junge Menschen zwischen 16 und 18 Jahren sowie für die über 60-Jährigen besonders wichtig. Was im Umkehrschluss heißt, dass für die Altersgruppen dazwischen das Gesellige nicht die Hauptrolle spielt. Zum Beispiel ist für 30- bis 45-jährige Frauen die Palette der Angebote das wichtigste Kriterium. Diese Gruppe will nach dem Sport keinen Schoppen mehr trinken, sondern einfach nur Sport treiben und sich dabei wohl fühlen.
DOSB PRESSE: Welche Schlüsse lassen sich aus Ihrer Studie für die Sportvereine und für Ihre eigene Arbeit ziehen?
ZIELINSKI: Alle drei Vereinsformen haben weiterhin ihre Daseinsberechtigung. Die Einspartenvereine besetzen vor allem Nischen, während Mehrspartenvereine weit mehr gegen die zunehmende Konkurrenz von Großvereinen und natürlich auch von kommerziellen Anbietern zu kämpfen haben. Die klassischen Mehrsparten-Vereine wie der TV Bergen-Enkheim 1874 sollten sich also mehr für die Dienstleistungsfunktion öffnen, zum Beispiel indem flexiblere Hallen- und Trainingszeiten angeboten und die klassischen Abende der Sparten um Kurssysteme erweitert werden. Wir als Großsportverein dürfen nicht den Fehler machen, den Faktor Integration und Geselligkeit zu vernachlässigen und zu meinen, allein über die große Angebotspalette wird sich der Zulauf schon regeln. Für die TG Bornheim war es schon lange ein Wunsch, den Verein einmal gründlich untersuchen zu lassen. Auf diese Weise können Stärken und Schwächen nun verlässlich herausgearbeitet werden.“
Autor: Andreas Müller