Sport in den deutschen diktatorischen Regimen

Hans Joachim Teichler hat eine Textsammlung mit dem Titel „Sport in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ zum Sport in der NS-Zeit und in der DDR zusammengestellt.

In Paris laufen gerade die Olympischen Spiele. Sportlerinnen und Sportler aus der ganzen Welt messen sich in Disziplinen und Sportarten. Die besten erhalten Medaillen. Im Medaillenspiegel wird deren Anzahl nach Gold, Silber und Bronze addiert. Der sportliche Erfolg avanciert zu einer politischen Projektionsfläche: Medaillen als nationalistische Währung?

Spätestens an dieser Stelle lässt sich der Bogen spannen zu dem neuen Buch des renommierten Sporthistorikers Hans Joachim Teichler: Der langjährige Professor für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam legt in seinem Werk „Sport in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ eine opulente Textsammlung mit bereits verstreut veröffentlichten Aufsätzen vor, die er in zwei Teilen für die NS-Zeit und die DDR bündelt. Dabei geht es wesentlich um die Beantwortung der Frage, wie die Führungen beider politischen Systeme die sportlichen Erfolge - auch und gerade bei Olympischen Spielen - als Garant der Überlegenheit des jeweiligen diktatorischen Systems aufgeladen haben.

Für das Hitler-Regime war es basal, mit dem sportlichen Erfolg die Überlegenheit der arischen Rasse zu zeigen. Für die DDR sollten sportliche Erfolge die Überlegenheit des Sozialismus als politisches System herausstellen. Teichler kristallisiert sehr kenntnisreich und feingliedrig die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Sports für diese beiden deutschen Diktatur-Epochen heraus: Beide politischen Systeme versuchten z.B. die männliche Jugend durch Wehrertüchtigung zu gewinnen. Was einst bei den Nazis die HJ war, wurde später in der DDR die Gesellschaft für Sport und Technik. Beide deutschen Diktaturen hofierten das IOC, doch nur Nazi-Deutschland war es möglich, Olympische Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin 1936 abzuhalten; eine Bewerbung der DDR für Leipzig scheiterte kläglich.

Teichlers Textsammlung umfasst über 600 Seiten, je 14 für die NS-Zeit und die DDR. Man muss den Band jedoch nicht unbedingt gleich ganz und von vorn bis hinten lesen. Es bleibt in diesen Tagen sogar Zeit für die Lektüre einzelner Passagen in kleinen Olympiapausen zwischendurch: Wer mit der NS-Zeit starten möchte, kann im Kapitel über die fünf „Akteure“ (Titel) einsteigen und sich hier speziell u.a. mit Max Schmeling, Carl Diem oder mit Leni Riefenstahl beschäftigen. Wer lieber gleich auf das Kapitel „Berlin 1936 und die faschistische Epoche des IOC“ gehen möchte, findet hier Studien, die z.B. die Olympiapropaganda der Nationalsozialisten sowie die Folgen der Spiele für den deutschen Sport betreffen und speziell die faschistische Epoche des IOC thematisieren. Das Kapitel schließt mit (dem Ende) der jüdischen Sportbewegung im Nationalsozialismus.

Es folgen dann die 14 Aufsätze über die DDR. Gestartet wird mit den frühen sportpolitischen Weichenstellungen der SED schon zu Zeiten der SBZ; fünf Studien widmen sich dem Doping bzw. dem „Sportmedizinischen Dienst der DDR“, bevor am Ende ein ernüchterndes Fazit über das Erbe des DDR-Sports gezogen wird: Der sog. Organisationsgrad der Sport treibenden Bevölkerung ist z.B. immer noch in betrüblicher Schieflache mit hüben bis zu 40%, während er drüben sogar in einzeln Landesteilen unter 15 % liegt.

In Paris laufen gerade die Olympischen Spiele. Wie wäre es mit einer kurzen Rückblende in eine olympische Zeit, als es (noch) eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft mit Aktiven aus der BRD und DDR gab: „Die Vorbereitung des DDR-Sports auf die Olympischen Sommerspiele 1964 in Tokio“ (so der Titel des Aufsatzes von Teichler) benennt die politische Zielsetzung der SED klar und konkret. Demnach steht „vor den Sportlern der DDR die Aufgabe, die leistungsmäßige Überlegenheit gegenüber Westdeutschland zu erringen“ (S. 433). Das bedeutete mehr Medaillen und bessere Platzierungen. Das bedeutete von der Staatsführung aber auch aber: keine persönlichen Verbindungen und Kontakte zu Personen aus der BRD und aus anderen kapitalistischen Ländern. Waren diese Vorgaben denn überhaupt alltagstauglich? Dazu kann Teichler sogar mit historischen Begebenheiten bzw. Äußerungen von betroffenen Zeitzeugen aus einem Olympiastadion aufwarten: Bei den Spielen in Mexico City 1968 haben sich – wie das unter Zehnkämpfern so üblich war und immer noch ist – Kurt Bendlin (BRD) und Herbert Wessel (DDR) per Handschlag begrüßt, wofür der DDR-Athlet vom Chef de Mission der DDR (Manfred Ewald) öffentlich gerügt und nur deswegen von ihm nicht suspendiert wurde, weil er zu den Medaillen-Anwärtern zählte. Auf der gleichen Seite im Buch findet sich noch eine andere „verbotene“ Begegnung zwischen zwei „freundlich-feindlichen“ Hochspringern … bitte selbst auf Seite 360 nachlesen!

Am Ende bleibt die ewige Frage nach der Instrumentalisierung des Sports durch die Politik. Diese Frage taucht jetzt auch mit Blick auf Paris immer mal wieder auf. Teichler bietet auf der Basis seiner Studien eine ebenso naheliegende wie unstrittige Antwort an, die hoffentlich auch in der Zukunft Bestand hat - denn: Die beiden damaligen deutschen Diktaturen, die er sportpolitisch inspiziert hat, sind längst „auf der Verliererstraße der Geschichte“ gelandet. Teichler geht sogar noch weiter und schlussfolgert, „dass der Sport immer dann politisch miss- und gebraucht wird, wenn Staaten von Unterdrückung und fehlender demokratischer Legitimierung oder von sonstigen Defiziten ablenken wollen“ (S. 643). Teichler greift hierzu auf die „vernichtende“ Stimme des ehemaligen DDR-Sportmediziners Hermann Buhl aus dem Jahre 1990 zurück: „Es zählte kein Mensch mehr, es zählten nur die Punkte, die Siege, die Medaillen. Dafür mussten alle herhalten, koste es, was es wolle“ (S. 642).

Freuen wir uns also mit, wenn gerade in Paris und anderswo die Aktiven ihre Medaillengewinne und Erfolge in Freiheit erringen und feiern können und wir an der Präsentation ihrer hohen Körperkünste medial oder vor Ort partizipieren dürfen. Das zählt - solange und „wenn auch in Zukunft parlamentarische Mehrheiten in einer Demokratie von der Sinnhaftigkeit einer staatlichen Förderung des Spitzensports auf hohem Niveau überzeugt werden wollen“. Das ist der Schlusssatz von Hans Joachim Teichler auf Seite 644 im Buch. Möge wenigstens dieser Satz bei den Verantwortlichen in Sport und Politik ein offenes Gehör finden. Die Lehren (und die „Leeren“) aus der deutschen Diktaturgeschichte für einen humanen Sport dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Hans Joachim Teichler hat mit seiner Textsammlung dazu ein Memorandum erstellt.    

Hans Joachim Teichler: Sport in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden 2024: Nomos. 646 S.; 114,00 Euro; ISBN 9783985721412

(Autor: Prof. Dr. Detlef Kuhlmann)