Sportentwicklungsland oder Sportnation?

Der Monat August rückte den deutschen Sport näher an den Abgrund: Die Fußball-Frauen überstanden bei der WM in Australien und Neuseeland die Vorrunde nicht und taten es damit den U21-Junioren bei der EM im Juni nach. Die Kommentare gipfelten in der Analyse, die Nation befinde sich auf dem Weg zum "Sport-Entwicklungsland". DOSB-Vorstandsvorsitzender, Torsten Burmester, schildert seine Sicht der Dinge.

Der organisierte Sport arbeitet täglich daran, dass Deutschland den Trend zum "Sportentwicklungsland" abwendet. Foto: picture alliance
Der organisierte Sport arbeitet täglich daran, dass Deutschland den Trend zum "Sportentwicklungsland" abwendet. Foto: picture alliance

Dabei begann der August für den deutschen Sport verheißungsvoll. Nicht nur bei den erfolgsverwöhnten Bahnradfahrerinnen, sondern auch bei den Bogenschütz*innen hagelte es WM-Medaillen und Quotenplätze für Olympia. Die Kommentare gipfelten nicht, sondern blieben aus. Tweets über Fußball erreichen größere Reichweite, generalisierende Untergangsvisionen provozieren mehr Klicks. 

Das Wehklagen wird wieder anschwellen, wenn es bei der Leichtathletik-WM ab dieser Woche vermutlich wieder schwer werden wird, auch weil Hoffnungsträger*innen verletzt ausfallen. 

Der Blick auf das große Ganze zeigt, dass deutsche Sportler*innen im zurückliegenden Jahr 15 Weltmeistertitel geholt haben und 45 aktuelle Europameister*innen stellen. 

Wir haben topmotivierte und talentierte Athlet*innen, fachkundige Trainer*innen und eine immer noch beeindruckende Sportinfrastruktur. Oder besser, wir hatten eine. 

Denn hier beginnen die Probleme: Wer hinschaut, sieht, dass über Jahrzehnte nicht mehr – oder nicht mehr ausreichend – in Sportstätten investiert wurde, so dass mittlerweile das Prädikat marode vielerorts zutrifft, der Sanierungsstau beträgt stolze 31 Milliarden. 

Unsere fachkundige Trainerschaft arbeitet seit Jahren für den immer gleichen Lohn, häufig war nicht einmal ein Inflationsausgleich drin. Überraschend, dass immer noch die meisten bei ihren Athlet*innen, ihren Vereinen, ihren Stützpunkten bleiben. Aber immer mehr Fachleute folgen lukrativen Angeboten aus dem Ausland oder wandern in den Schuldienst ab – der nächste Fachkräftemangel droht. 

Und die Top-Sportler*innen selbst – sie werden weniger. Wenn ein ganzes Land langsam in Richtung Bewegungslosigkeit driftet, werden auch weniger Top-Talente entdeckt. 70.000 Kinder wurden in Berlin im Rahmen einer breit angelegten Studie auf Beweglichkeit und Gesundheit untersucht. Ergebnis:  Nur jedes fünfte Kind ist überhaupt in der Lage, regelmäßig zu trainieren und dabei schnell, beweglich oder ausdauernd zu sein. 

Da kommt etwas auf uns zu, langsam, aber sicher. Lawinen in Zeitlupen haben jedoch den großen Vorteil, dass wir nicht nur sehen, was da auf uns zukommt. Sondern, dass wir auch rechtzeitig reagieren können. 

Das Fundament muss gestärkt werden 

Dazu müsste sich unser Blick auf den Sport weiten. Ob Fußballerinnen oder Bogenschützen, ihre Erfolge oder Misserfolge lösen größere Emotionen aus als das tägliche Engagement der rund 87.000 Sportvereine an der Basis, und sie werden auch medial ganz anders bewertet und verwertet. Und doch sind sie letztlich nur die Spitze der gesamten Pyramide von Sport, Bewegung und einem gesunden und aktiven Lebensstil. Die über 27 Millionen Mitgliedschaften und Menschen, die vor Ort in ihren Vereinen miteinander Sport treiben, bilden das Fundament. Ob Kreisliga, Senior*innensport oder Leistungskader, ob Betül oder Barbara, Bernhard oder Berkan, Kevin oder Hannelore: sie alle bilden die Sportnation Deutschland.  

Wer auf das Turnier-Aus mit nichts außer Lamento reagiert, erfasst das Gesamtbild nicht und übersieht, dass an vielen Stellschrauben gedreht und daran gearbeitet wird, den vorhandenen Problemen mit Konzepten zu begegnen. 

Dazu zählt, dass Bundesregierung, Bundesländer und Sport erstmals gemeinsam daran gehen, den Sport im Land bei allen Entscheidungen mitzudenken. Sie arbeiten an einem Sportentwicklungsplan, damit es eben nicht in Richtung „Sport-Entwicklungsland“ geht. Die Expert*innen der DOSB-Fachressorts haben ihn zusammen mit dem BMI und 9 weiteren Bundesministerien im Nachgang des Bewegungsgipfels 2023 initiiert und arbeiten an den Details eines profunden Konzepts für die Zukunft der Sportnation Deutschland. Mit ihm, wenn auch die Politik dafür einsteht, leisten wir nichts weniger als den Paradigmenwechsel in der bundesweiten Sportpolitik. Auch deshalb sollten alle Beteiligten ein Interesse daran haben, dass der Sport im kommenden Bundeshaushalt nicht mit Kürzungen, sondern mit Investitionen bedacht wird. 

Bund, Länder und Kommunen sowie der organisierte Sport müssen in unserem Land an den Rahmenbedingungen für Bewegung und Aktivität für Alle feilen. 

Umsetzen müssen wir es dann aber selbst. Wieviel Vorbild sind wir, wieviel bewegte, aktive Zeit verbringen wir mit unseren Kindern? Kinder bewegen sich vor allem auch dann, wenn sie es von Klein auf mit ihren Eltern so gewohnt sind. 

Und sie bewegen sich – das ist die nächste Ebene der Verantwortung – wenn die Angebote in unseren Bildungssystemen funktionieren: Bewegungs-Kindergärten sind großartig, es gibt aber immer noch zu wenige. Im Schulalter schauen wir zu, wie die Bildschirmzeit bei Jugendlichen wächst und wächst. Im Ganztag müssen Schulen so mit Sportvereinen vernetzt werden, dass das Training weiterhin stattfinden und bestenfalls sogar ausgeweitet werden kann. Und was spricht eigentlich gegen ein tägliches Bewegungsangebot in der Schule? Frankreich hat seine Olympiaeuphorie gerade genutzt, um die Anzahl der Schulsportstunden zu erhöhen, zahlreiche angelsächsischen Länder haben sie täglich. 

Mit den Bundesjugendspielen bieten Schulen zusätzliche Bewegung an. Aktuell folgen diese einem internationalen Trend, den u.a. Nationen wie Norwegen geprägt haben, die gemessen an ihrer Einwohnerzahl im Spitzensport erfolgreicher sind als unser Land. Kinder im Grundschulalter machen Sport möglichst spielerisch im ausgewogenen Verhältnis mit Wettkampfformen und möglichst vielseitig. Das sorgt zum einen dafür, dass sie bessere Grundlagen für eine Spezialisierung im goldenen Lernalter zwischen zehn und zwölf Jahren haben. Vor allem aber dafür, dass sie dann überhaupt noch beim Sport geblieben sind. Ich rate also in der aktuellen Diskussion um die Bundesjugendspiele zu mehr Sachlichkeit und Tiefe der Argumente! Das hat, ebenso wie die aktuelle Jugendfußballreform beim DFB, wenig mit Kuschelpädagogik und viel mit langfristigem Leistungsaufbau zu tun. 

Sport ist Teil der Lösung 

Lösung statt Bürokratisieren. Zum Beispiel mit der neuen Leistungssportagentur von BMI und DOSB. Die dafür sorgen soll, dass Ressource nicht in bürokratischen Fallstricken versackt, sondern da ankommt, wo es Not tun: Bei den Athlet*innen und Trainer*innen. 

Lösung statt Problemtrance. Zum Beispiel in unserem Dialogforum Sportentwicklung Anfang September, zu dem wir hochkarätige Expert*innen eingeladen haben, um gemeinsam weiterzudenken. Über den Sport und Werte und ehrenamtliches Engagement und Nachhaltigkeit und Infrastruktur und ja, das alles gehört unmittelbar zusammen und zahlt aufeinander ein. 

Was aufeinander einzahlt, kostet Geld. Andersherum formuliert: Was wir versäumen, kommt uns teuer zu stehen. 

Möglicherweise ist das zweite Vorrundenaus einer deutschen Fußballmannschaft eine Lawine in Zeitlupe. Zwei frühzeitige Heimreisen sind aber nichts, was unsere Handlungsspielräume eklatant einschränkt, und uns den Kopf in den Sand stecken lassen sollte. Und das bringt mich zur Politik. Denn sie hat es in der Hand, dass wir die Lösungen unserer DOSB-Expert*innen auf die Straße bringen. Unsere innovativen Förderkonzepte, unsere Solutions für eine zielführende Talent-Sichtung und alle unsere Projekte für eine stärkere gesellschaftliche Verankerung des Sports. Die Politik hat es in der Hand, dass aus unserem wertvollen Rat ein konkreter Wert entsteht: für die Sportstätten, die Vereinsheime, die Kinder in den Kitas, die Schüler*innen in den Schulen, für alle Menschen, für die der Sport eine Bedeutung hat. In einem Wort: Die Sportnation Deutschland, unsere diverse demokratische Gesellschaft. Und deshalb kämpfen wir dafür, dass der Sport im kommenden Bundeshaushalt nicht mit Kürzungen, sondern mit Investitionen bedacht wird. 

Sport kann alle(s) bewegen. Das ist der Kern des DOSB, unsere tägliche Arbeit. Die gesamtgesellschaftliche Hebelwirkung des Sports kann keine einzige Sekunde zu hoch eingeschätzt werden.

(Author: Torsten Burmester, DOSB-Vorstandsvorsitzender)


  • Der organisierte Sport arbeitet täglich daran, dass Deutschland den Trend zum "Sportentwicklungsland" abwendet. Foto: picture alliance
    Der organisierte Sport arbeitet täglich daran, dass Deutschland den Trend zum "Sportentwicklungsland" abwendet. Foto: picture alliance