Sportvereine sind Kulturgut

Die Plattform für die Organisation von Gemeinwohl und Sportkultur ist der Verein. Dem hat die UNESCO-Kommission zu Recht ein Denkmal gesetzt, meint Autor Hans-Jürgen Schulke.

Die Hamburger Turnerschaft von 1816 gehört zu den ältesten Vereinen. Foto: picture-alliance
Die Hamburger Turnerschaft von 1816 gehört zu den ältesten Vereinen. Foto: picture-alliance

Als vor rund vier Jahren der DOSB den Antrag vorbereitete, seine Vereine von der deutschen UNESCO-Kommission als Immaterielles Kulturerbe anerkennen zu lassen, fand das in der veröffentlichten Meinung Überraschung, mitunter Ungläubigkeit. Sportverein als Kulturgut ist nicht selbsterklärend. Zu sehr sind sie Selbstverständlichkeit im gesellschaftlichen Alltag, Öffentlichkeit erlangen sie im Profisport oder im Lokalteil. Und sie sind Massenphänomen, dessen Besonderheit und kulturelle Kraft erst frei zu legen ist. Aus dem Grund hat wohl die Kommission länger geforscht als bei eher gängigen Kulturtechniken und Brauchtümern wie Gebärdensprache, Papiertheater oder Weinkultur. Am Ende stand der Ritterschlag zur „Gemeinwohlorientierten Sportvereinskultur“.

Vorher hatte der DOSB Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Erfolgreich gelungen ist ihm das, indem er den Bogen spannte von der Werte- über die Institutionalisierungsfrage zur kulturellen Selbstorganisation. Die Werthaltigkeit des Vereinssports besteht im vertrauten Gemeinschaftsleben, der Gesundheitsförderung, Bildung von Respekt vor dem Konkurrenten, Inklusion behinderter und Integration zugezogener Menschen – also flächendeckende und selbstlose Gemeinwohlorientierung insbesondere mit seiner millionenfachen ehrenamtlichen Unterstützung.

Die sportlichen und sozialen Aktivitäten reichen von wettkampforientiertem Sport über choreografierte Bewegungskunst bei Tanz und Artistik, Gesänge und Musikgruppen, gezieltem Lernen bei Lehrgängen und Kongressen bis zu vielfältiger sprachlicher und visueller Kommunikation. Das alles erfolgt in kreativer Selbstorganisation, schöpft aus Gewachsenem wie Bewährtem und erprobt zugleich Neues. Das ist Kultur von unten und für Alle, Selbstfindung und -verwirklichung. Im Maschinenraum des organisierten Sports gibt es keinen Stillstand.

Die Plattform für die Organisation von Gemeinwohl und Sportkultur ist der Verein. Dem hat die UNESCO-Kommission mit ihrem Prädikat „Vereinssportkultur“ zu Recht ein Denkmal gesetzt. Es gilt,  den 90.000 Vereinen mit mehr als 27 Millionen Mitgliedschaften, rund 20.000 Vereine sind über 100 Jahre alt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts – in der Begründung des DOSB wird das ausführlich dokumentiert – entsteht in einer ständischen, streng hierarchischen Gesellschaft die radikaldemokratische Organisation „Verein“. Jeder hat eine Stimme, alle sind gleich, Ideen darf jeder einbringen, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, Hilfestellung für Ungeübte ist selbstverständlich. Auf dem für alle offenen Turnplatz des legendären Turnvaters Jahn erhält das Konzept herausfordernden Raum. Es überdauert Kriege und politische Umbrüche, wird von der Obrigkeit bekämpft, findet immer wieder Neuerer, ist DNA unserer Demokratie. Gerade bewährt es sich trotz vieler Erschwernisse resilient in der Pandemie, sucht sich neue Räume.

Wer die politische Tektonik des bundesdeutschen Sports aufmerksam begleitet, für den kommt die Auszeichnung der UNESCO nicht überraschend. Waren die Feiern zur 200-jährigen Eröffnung des Berliner Turnplatzes durch Jahn 2011, seine Berufung in die Hall of Fame des Sports oder Eintritt der ehrwürdigen Hamburger Turnerschaft von 1816 in ihr drittes Jahrhundert (zur Jahrtausendwende war der Verein klinisch tot, 20 Jahre später hatte er sich mit einem einzigartigen Stadtteilzentrum aus Sport und Fitness, Bildung, Theaterkunst, Geschichtskontor, Bibliothek, Arztpraxen neu erfunden) noch kalendarische Ereignisse, so nehmen Tiefenbohrungen zu den haltbaren Wurzeln des Sports erkennbar zu.

Im Mai 2019 wurde vom Förderverein für demokratische Erinnerungskultur, der AG Sportmuseen und mit dem Badischen Turnerbund ein Kolloqium zu Ehren Gustav Struves organisiert. Der war Turner, Vereinsgründer, Parlamentarier und Revolutionär gegen den Adel, für die Emanzipation der Frauen und Offizier in den amerikanischen Freiheitskriegen. Es fand in der von Bundespräsident Gustav Heinemann initiierten Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt statt. Allein die Auswahl des Ortes war Teil von Person, Programm und Position: In Rastatt wurde der Aufstand für eine demokratische Republik 1848, an dem zahlreiche Turner beteiligt waren, von preußischen Truppen gewaltsam beendet.

Kurz danach trat die Jahn-Gesellschaft dem Verein für demokratische Erinnerungskultur bei und dokumentierte so Jahn als - nicht immer unumstrittenen - Vorturner der deutschen Demokratiebewegung. Das bekräftigte der Deutsche Turnerbund anlässlich der WM in Stuttgart 2019, wo in einem internationalen Kolloquium die enorme Bedeutung von Jahn für die praktische Umsetzung der Vereinsidee verdeutlicht wurde – ohne ihn ist die Vereinssportbewegung undenkbar.

2020 hat die renommierte Körber-Stiftung ihren Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für Schulklassen unter das Thema gestellt „Bewegte Zeiten. Sport macht Gesellschaft“. Tausende junger Leute erforschen Geschichten und Geschichte des Sports, werden überall auf die Spuren der Turn- und Sportvereine stoßen – eine bekannte Welt und doch dank der UNESCO vielen ganz neu.

Wie sagte der erste Reichstagsabgeordnete der SPD, August Bebel (ein Vereinsvorsitzender und Befürworter des Arbeitersports): „Wer nichts hinter sich hat, hat auch nichts vor sich!“

(Autor: Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Die Hamburger Turnerschaft von 1816 gehört zu den ältesten Vereinen. Foto: picture-alliance
    Gymnastik auf Matten in einer Turnhalle der Hamburger Turnerschaft von 1816 Foto: picture-alliance