Stichwort: Wandern Drei Fragen an den Natursoziologen Dr. Rainer Brämer

 

"Es gibt viele Gründe, Wandern als Sport anzusehen"

 

DSB PRESSE: Ihre Theorie lautet "Die Jugend entdeckt das Wandern". Wie kommen Sie

zu diesem Ergebnis?

BRÄMER: Wir beobachten mit unserer Forschungsgruppe Wandern der Universität Marburg schon seit Jahren eine Verjüngung des Wanderpublikums. Bei unseren jährlichen Befragungen von über tausend Wanderern auf prominenten deutschen Wanderwegen ist das Durchschnittsalter stetig gesunken. Mittlerweile ist der typische deutsche Wanderer 45 Jahre alt, das entspricht in etwa dem Mittelwert der entsprechenden Bevölkerungsgruppe. Der Anteil der 20 bis 39-Jährigen hieran ist innerhalb weniger Jahre von einem Viertel auf ein Drittel gewachsen. Zugleich stellen wir fest, dass immer mehr Gehsportler über das Abitur oder einen Hochschulabschluss verfügen, mittlerweile sind das bereits 40%, in der Gruppe der 20 bis 39-Jährigen sogar 50%, also doppelt so viel wie im Bevölkerungsschnitt. Das war der Anlass, mit unserer diesjährigen Befragung sozusagen an die Quelle der neuen Wanderbewegung zu gehen. 1.300 Studierende aller Fächer an 11 deutschen Hochschulen haben unsere Fragebögen ausgefüllt. Heraus kam, dass das Wandern beim akademischen Nachwuchs im Vergleich zu anderen Natursportarten zusammen mit Skifahren und Joggen an zweiter Stelle der Beliebtheitsskala hinter dem mit Abstand am meisten geschätzten Radeln rangiert. Besonders interessant hierbei ist die Altersentwicklung: Während Studienanfänger nur zu 45% gern wandern, steigt die Quote bei den Absolventen auf 75%, womit der Wanderschuh Ski und Mountainbike weit überholt und fast zum Rad aufgeschlossen hat. Das entscheidende Einstiegsalter in den sanften Natursport Wandern liegt offenbar im Bereich von 25 Jahren. Gleichzeitig beobachten wir aber auch bei Jugendlichen ein steigendes Interesse an der fußläufigen Entdeckung der heimischen Landschaft. Die früher besonders stark ausgeprägte Pubertätsabstinenz zwischen der wanderfreudigeren Kindheit und Spätadoleszenz schwächt sich ab, und wir treffen im Wald neuerdings wieder reine Jugendlichengruppen - ähnlich wie beim Wandervogel ganz ohne elterliche oder pädagogische Begleitung.

DSB PRESSE: Sie bezeichnen Wandern als eine ernstzunehmende Sportart. Wie begründen Sie diese These:

BRÄMER: Um einen klassischen Leistungssport handelt es sich beim Wandern natürlich nicht. Dafür aber um so mehr um einen anspruchsvollen Breitensport. Denn was versteht man heute unter Breitensport? Doch wohl in erster Linie eine Bewegungs- bzw. Trainingsform, die einem zu mehr körperlicher Fitness und Gesundheit verhilft. Wie neuere medizinische Studien zeigen, kommen diesem Ziel wenig intensive Ausdauersportarten am nächsten. Sie stärken das Immunsystem und stabilisieren den Fettstoffwechsel in optimaler Weise, was man vom Leistungssport nicht behaupten kann. Hier rangiert Wandern ganz vorne, zumal es mit weniger Nebenwirkungen als das Joggen auskommt. Und wenn man in unseren Mittelgebirgen ab und an eine Steigung zu bewältigen hat, ist auch der Kreislauf bestens bedient. Hinzu kommt, dass nach Ausweis medizinischer Langzeitstudien die gesundheitliche Präventivleistung des Sports vorrangig vom in die Trainingsbewegung investierten Energieverbrauch abhängt. Beim Wandern verbraucht man aber für den Kilometer fast so viel Bewegungskalorien wie beim Laufen. Der Unterschied zwischen beiden Beinsportarten besteht hauptsächlich darin, dass man beim Laufen infolge einer Überbeanspruchung des Sauerstoffversorgungssystems ins Hecheln kommt - manche halten das für das entscheidende Kennzeichen von Sport. Führt die Wandertour über naturnahe Wege und schließt sie auch ab und an eine Steigung ein, dann liegt der kilometerbezogene Kalorienverbrauch beim Wandern sogar über dem beim Rundenlaufen. Eine übliche Tageswanderung entspricht damit vom für Gesundheit und Fitness maßgeblichen Energieverbrauch her in etwa einem Halbmarathon - ein Grund mehr, Wandern als Sport anzusehen.

DSB PRESSE: Wie sollte der organisierte Sport auf die neuesten Entwicklungen und Erkenntnisse reagieren?

BRÄMER: Ähnlich wie der Tourismus oder die Sportausstatterindustrie haben auch die Sportverbände die Wanderer lange Zeit weitgehend links liegen lassen, obwohl sie allein schon von der Zahl und neuerdings auch vom Trend her eine Kernzielgruppe aller drei Anbieter darstellen. Es geht also darum, sie erst einmal ernst zu nehmen, ihnen ähnlich wie Bikern oder Kletterern ein eigenes Identitätsgefühl zu vermitteln. Denn Wandern ist heutzutage angesichts der vielfältigen Wahlmöglichkeiten im Freizeitbereich schon längst keine Verlegenheitsaktivität mehr, sondern ein "special interest", für das man sich eine hochwertige Ausrüstung zulegt und auf das man sich intensiv vorbereitet. Von daher sollte der organisierte Sport das Wandern nach innen wie außen besser positionieren. Dazu gehört eine Aufwertung und Neuausrichtung der Wanderabteilungen auf moderne Bedürfnisse und eine gezielte Imagewerbung für den sanften Natursport Wandern. Da es sich beim modernen Wanderer um einen ausgesprochenen Individualisten handelt, der am liebsten mit dem Partner oder im kleinen Freundeskreis seine ganz eigenen Wege geht, müsste man auch darüber nachdenken, ob das gruppengeprägte Vereinswandern nicht durch andere Angebote zu erweitern wäre - wie etwa freie Wanderertreffs und Wandertrails oder etwa eine Wandercard, die Wanderern ein ganzes Dienstleistungsbündel von geführten Touren über fachkundige Beratung bis zu Einkaufs- und Reisevergünstigungen bietet. Schließlich könnte man auch ganz gezielt spezielle Zielgruppen wie etwa die Trekker oder die mehr körperlich orientierten Sportwanderer im engeren Sinne ansprechen.