Wenn man in diesen Tagen durch die afghanische Hauptstadt Kabul fährt, sieht man links und rechts der Straßen Fußball spielende Kinder und Jugendliche. Ahmad Farad (16) ist einer unter vielen tausend Straßenfußballern. Er hat im Bürgerkrieg seine Eltern und sieben Geschwister verloren und in der Zeit des Taliban-Regimes bei seinen Großeltern in einer Ruine gewohnt. Ohne Wasser und Strom. Er sagt: „Beim Spielen bin ich der glücklichste Mensch auf dieser Welt und kann alles vergessen, was sich in meiner Erinnerung aufgestaut hat. Aber ich weiß, dass sich alles von heute auf morgen ändern kann. Doch vor Raketen und Anschlägen habe ich keine Angst, Allah wird’s richten!“
Fußball-Verbot unter den Taliban
Als im Jahr 2003 das damalige Nationale Olympische Komitee (NOK) für Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) und finanziert vom Auswärtigen Amt ein Team von Fußball-Experten nach Afghanistan schickte, war man sich der schwierigen Situation, die bis heute bei den fast täglichen Anschlägen nicht besser geworden ist, bewusst. Die damalige Aufgabe war in einem Land, das dreißig Jahre lang von Zerstörung von Blutvergießen geprägt worden war, schwierig genug. Der Aufgabenkatalog sollte an der Basis, dem Straßenfußball, beginnen.
Vor allem die Kinder und Jugendlichen hatten unter dem Regime der Taliban gelitten. Ihnen war beispielsweise untersagt worden, Fußball zu spielen. Zuwiderhandlungen wurden streng bestraft. Als das deutsche Team über die Medien einen Aufruf startete, um die jungen Menschen zu aktivieren und in Stadtbezirken Straßenfußball-Ligen zu organisieren, meldeten sich 800 Teilnehmer. Ali Askar Lali, Deutsch-Afghane und Mitglied des deutschen Experten-Teams, erinnert sich.
„Wir standen vor einer fast unlösbaren Aufgabe, diese vielen jungen Menschen, die Schreckliches erlebt hatten, organisatorisch in ein Programm einzubetten, das von ehrenamtlichen Übungsleitern geleitet werden sollte. Doch es ging besser als wir dachten, denn die Helfer waren mit großem Engagement an die Aufgabe herangegangen. Die meisten von ihnen waren ja arbeitslos, hatten genügend Zeit, in Schichtarbeit mit den Kindern zu spielen.“
Doch das größte Problem lag in der Beschaffung von Bällen und den nur wenigen Plätzen, auf denen gespielt werden konnte. Meistens mussten auf Trümmergrundstücken die Felder markiert werden, Backsteine ersetzten die Torstangen. Da die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel beschränkt waren, kamen die Experten auf die Idee, deutsche Sponsoren anzuschreiben.
Hilfe von Bundesligavereinen
Prompt trafen große Mengen von Hilfsgütern von deutschen Bundesligavereinen wie Bayer Leverkusen, Eintracht Frankfurt oder dem VfB Stuttgart in Afghanistan ein. Auch Franz Beckenbauer reagierte auf das SOS aus Afghanistan mit einer großzügigen Spende seiner Stiftung.
„Die Kinder wieder spielen zu sehen, war eine große Freunde für mich“, sagt Ali Askar Lali heute, der ja selbst seine Jugend in Kabul verbracht hatte. Er wusste, wie wichtig die Komponenten sind, die der Fußball bietet. Da ist von Fair Play die Rede, von Lebensfreunde, Teamgeist, von Kameradschaft – und der Hoffnung auf ein besseres Morgen.
5.000 Zuschauer beim ersten Turnier
Noch bevor das deutsche Team an die nächsten Aufgaben heranging, wollte man mit dem Beispiel des Aufbaus des Straßenfußballs einen wichtigen Grundstein legen. Zum ersten Turnier in West Kabul kamen 5.000 Zuschauer. Vier Wochen später saßen im Olympic-Stadion von Kabul, in dem in der Taliban-Zeit noch Menschen hingerichtet worden waren, doppelt so viele Zuschauer, um die Spieler bei einer zweiten Runde anzufeuern. „Es waren Erfolgserlebnisse, die wir bis heute nicht vergessen haben und die den Grundstein legten für unsere weitere Aufgabe“ sagt Lali, der in den folgenden Monaten mit seinem Team daran ging, eine Liga für Senioren zu starten, Vereine zu gründen, Trainer auszubilden und auch an den Neuaufbau der National-mannschaft zu denken. Der Start des Frauenfußballs war ein weiteres, fundamentales Erfolgserlebnis
Doch zurück zum Straßenfußball, der elementaren Form des Spiels. Als der damalige DSB-Präsident Manfred von Richthofen einen runden Geburtstag feierte, hatte er eine Idee. Er bat in seiner Einladung an viele prominente Gäste darum, auf exklusive Geschenke zu verzichten und stattdessen mit einer Geldspende zum weiteren Ausbau des Straßenfußballs in Afghanistan beizutragen, Ein stolzer Betrag kam zustande, der dazu benutzt wurde, vor den Toren der Stadt Kabul einen Bolzplatz zu bauen, der bis heute das Zentrum des Straßenfußballs ist.
Spenden von vielen Seiten
Die Kunde vom Erfolg des deutschen Projekts sprach sich indessen weiter herum, und die Nachricht über die Erfolgsstory aus Afghanistan wurde auch in Deutschland von den Medien übernommen, Das Ergebnis: Von vielen Seiten kamen Spenden zusammen. So stellte sich zum Beispiel der ehemalige Frankfurter Nationalspieler Ronald Borchers im vorigen Jahr sofort zur Verfügung, um mit vielen weiteren Prominenten und den Vereinen aus Aschaffenburg und Neu Isenburg ein Benefizspiel zu veranstalten. Und wieder floss das gesammelte Geld in Richtung Afghanistan und den Straßenfußball.
Ali Askar Lali, der wieder zurück in Deutschland ist, hält den Kontakt zu seiner Heimat mit Hilfe der Projektträger Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB), DFB und des Auswärtigen Amtes aufrecht. „Wir haben in den letzten Jahren in Afghanistan viel erreicht. Wenn wir dabei zurückdenken, so wissen wir aber auch dieses: ohne den Start des Straßenfußballs im Jahr 2003 und den danach erfolgten weiteren Aufbau hätten wir in meiner Heimat das Ziel nicht erreicht.“
Höhepunkt des Projektes: eine Reise der Straßenfußball-Auswahl zu einem Turnier nach Berlin im Jahr der vorigen WM. „Das war für uns alle ein großes Erfolgserlebnis und für die einst leidgeprüften Spieler Labsal auf ihre so geschundenen Seelen“ sagt Lali.
Hinweis: Ali Askar Lali, Klaus Stärk und Autor Holger Obermann waren seit 2003 maßgeblich am Aufbau des Fußballs in Afghanistan beteiligt.