System mit Tücken in der Erfurter Gunda Niemann-Stirnemann-Eishalle

In einer wöchentlichen Serie stellt Andreas Müller sportliche Karrieren vor dem Hintergrund ihrer Vereine vor. Den Anfang macht Gunda Niemann-Stirnemann mit dem ESC Erfurt.

Gerade hat Angela Schindhelm auf dem Eis in der Gunda-Niemann-Stirnemann-Halle einigen Steppkes von der Grundschule am Schwemmbach beigebracht, wie man auf Kufen die Kurven nimmt. Übersetzen heißt das in der Fachsprache. Links herum und rechts herum haben es ihre Schützlinge auf etwas zittrigen Beinen immer wieder geübt. Nun steht die 56jährige Frau in einem kleinen Kabuff und nimmt von den Kleinen die an sie ausgeliehenen Schlittschuhe entgegen. Die große Eishalle scheint in einen Mittagsschlaf versunken. Auf dem 400-m-Oval ist kein Mensch zu sehen. „Das ist sehr schade“, sagt Angela Schindhelm. Die beim städtischen Amt für Bildung angestellte Freizeitpädagogin würde am liebsten gleich mit der nächsten Gruppe weitermachen. 

Von etwa 15 Grundschulen und ebenso vielen Kindergärten der Stadt wird ihr unentgeltliches Eislaufangebot regelmäßig genutzt. Leider macht das nur etwa die Hälfte aller Kitas und Grundschulen aus. Für die anderen ist der Weg in die Eishalle zu weit. Mitunter liegt es an den Lehrern und Erziehern, die zu viel Respekt vor dem glatten Terrain haben und es lieber meiden. Solchen Vorbehalten wird neuerdings begegnet, indem Pädagogen auf dem Eis „Nachhilfeunterricht“ erhalten. Am aktuellen Kurs von Angela Schindhelm nehmen 20 Lehrer und 40 Kindergärtnerinnen teil. Ein gutes Omen. Schließlich ist es in Erfurt seit vielen Jahren gute Tradition, dass Mädchen und Jungen ihre ersten Schritte auf Kufen im Rahmen des Grundschulunterrichts oder bereits als Kita-Kinder machen.

Unterricht auf Kufen als Fundament des Leistungssports

Dieses Modell ist das Fundament, damit Thüringens Metropole eine Hochburg des Eisschnelllaufsports bleiben und der Nachwuchs weiterhin in die Fußtapfen von Ausnahmeathletin Gunda Niemann-Stirnemann treten kann. Der Weg von Schindhelms ABC-Schützen, zu denen auch Stirnenanns Töchterchen Victoria zählt, zu künftigen Olympioniken gleicht einer langen Geraden. Die begabtesten Kids kristallisieren sich spätestens bei den alljährlichen „Stadt-Kinder- und Jugendspielen“ heraus. Erst einmal entdeckt, finden sie Aufnahme in das „Talente-Leistungszentrum“ des Eissportclubs Erfurt (ESC). Dort trainieren derzeit etwa 100 Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren in fünf Gruppen vom Vorschüler bis zu den Klassenstufen 1 bis 4. Die talentiertesten von ihnen bekommen die Chance, ab Klasse 5 aufs benachbarte Sportgymnasium „Pierre de Coubertin“ zu wechseln und eine leistungssportliche Laufbahn einzuschlagen. Alle erfolgreichen Erfurter Eisflitzer sind in den vergangenen Jahren diesen Weg gegangen – von Sabine Völker, die ihre Kariere inzwischen beendete, über Daniela Anschütz-Thomas, die im Januar EM-Silber im Mehrkampf gewann, bis zur neuen großen Hoffnungsträgerin Stephanie Beckert.

Von den 443 Schülern der Eliteschule des Sports sind derzeit 79 Eisschnellläufer. „Das Gros davon kommt aus Erfurt“, weiß Schulleiter Klaus Böttner. Mit Beginn des Schuljahres 2008/09 wurden an der Schule neun ESC-Eisschnellläufer neu begrüßt. In guten Jahren lag die Zahl bei 15 bis 18. Künftig wieder zu solch guten Quoten zu gelangen, das ist eines der persönlichen Ziele von Gunda Niemann-Stirnemann. „Wir müssen mehr Kinder motivieren, dass sie zur Sportschule gehen und die Doppelbelastung von Schule und Sport auf sich nehmen. Vor allem bei den Eltern gibt es oft Ängste, die wir ihnen nehmen müssen und denen wir mit besonders guten Betreuungsangeboten für die Sportler entgegenwirken müssen “, sagt die prominente Trainerin. Beim Olympiastützpunkt Erfurt angestellt, hat sie die 16- bis 18-Jährigen unter ihren Fittichen. Gelingt es nicht, die Talente und deren Eltern für die leistungssportliche Laufbahn zu gewinnen, droht die Quote der Nachrücker in den kommenden Jahren rapide zu sinken. Dann, so weiß Niemann-Stirnemann, werden von den 20 bis 30 Kandidaten pro Jahr vielleicht nur noch drei oder vier den Weg auf die Eliteschule finden.

Wie Franz Weickert und Pascal Beckert. Gegenüber den Neuen aus der fünften Klasse sind die beiden 17jährigen Stirnemann-Schützlinge schon alte Hasen. „Man ist schon etwas stolz, gerade von ihr trainiert zu werden“, sagen die beiden Teenager. Vor allem flößt die Frau, die 11 Einzelstrecken-Weltmeisterschaften über 1500 m, 3000 m bzw. 5000 m und zwischen 1991 und 1999 acht WM-Titel im Mehrkampf gewann, ihren Zöglingen enormes Vertrauen ein. „Sie hat so viel Erfahrung. Sie wird schon genau wissen, was sie macht“, sagt Franz Weickert über seine Trainerin, die über ein ganzes Jahrzehnt das Maß der Dinge im internationalen Eisschnelllaufen war und an der Sporthochschule in Köln gerade inmitten ihrer Diplomprüfungen steht. Ende März soll dieses Kapitel beendet sein.

„Gunda bietet sich immer an und kommt gern vorbei“

Als Nachwuchs-Trainerin bildet die 42-Jährige auf dem Erfurter Eis heute die Medaillengewinner von morgen aus. Allein deswegen hat sie großes persönliches Interesse, dass immer genügend Talente nachwachsen und die Achse vom Eislauf-Unterricht für Anfänger über das Talente-Leistungszentrum des ESC bis zur Eliteschule des Sports weiter trägt. Kein Wunder also, dass die prominente Thüringerin nicht nur wegen Töchterchen Victoria oft bei Angela Schindhelm und ihren Eis-Kindern vorbeischaut. „Gunda bietet sich immer an und kommt gern vorbei“, berichtet die Sozialpädagogin und weiß um die große Wirkung der dreimaligen Olympiasiegerin auf den Nachwuchs. Doch für einen Run auf die „Spargel“ genannten Schlittschuhe mit ihren langen Kufen kann selbst eine solche Ikone in ihrer Heimatstadt nicht sorgen. „Von einem Ansturm aufs Eisschnelllaufen kann keine Rede sein. Wir haben nicht den Massenzulauf. Es ist schwer, sportliche Kinder zu finden“, gesteht Marian Thomas, seit Oktober 2007 ehrenamtlicher ESC-Geschäftsführer.

Binnen zwei Jahren 200.000 Euro Schulden abgezahlt

Der 34 Jahre alte Betriebswirtschaftler und Ehemann von Daniela Anschütz-Thoms ist heilfroh, dass der Verein vor der Auflösung bewahrt werden konnte. Nach einer Insolvenz im Jahre 2001 und einer gerade noch abgewendeten Insolvenz im Jahre 2006 wurde die teure Eishockey-Abteilung – mit Ausnahme der Hobbyspieler – ausgegliedert. Bis zum Juli 2008 wurden binnen zwei Jahren 200.000 Euro Schulden abgetragen und alle Forderungen der Gläubiger bedient. Dank ihrer Beiträge und einem Pool aus 15  Sponsoren sehen die etwa 400 ESC-Mitglieder in den Abteilungen Eisschnelllauf (265), Eiskunstlauf (50), Eishockey (60), Eisstockschießen (15) und einer kleinen Bobsparte um Pilotin Anja Schneiderheinze wirtschaftlich stabileren Zeiten entgegen. Laut Thoms sei „Ordnung in die Finanzen gebracht“ worden. Dies sei die elementare Voraussetzung, damit das System zwischen Angela Schindhelms Sichtung und Gunda Niemann-Stirnemanns Feinschliff an den Talenten nicht zusammenbricht.

Angesichts der Entschuldung war es dem ESC möglich, im Dezember vorigen Jahres den Kandidaten für die Junioren-Weltmeisterschaften einen so genannten „Klima-Lehrgang“ auf Gran Canaria zu ermöglichen. Für die Talente aus den Klassen 1 bis 4 gibt es Zuschüsse zu den Sommercamps. Teeanger Franz Weickert erinnert sich noch gut daran, wie ihm und anderen Fortgeschrittenen das Busticket für eine Fahrt nach Heerenveen in Holland spendiert wurde, um dort neue Schlittschuhe zu besorgen. „Wir wollen alle Sparten gerecht behandeln. Gleichzeitig sind wir leistungssportlich ambitioniert. Das ist ein Spagat“, betont Geschäftsführer Thoms. Inmitten dieses Spannungsfeldes befinden die Kosten für die Übungsleiter. Allein acht arbeiten gemeinsam mit Angela Schindhelm für das „Talente-Leistungszentrum“. Zumeist sind es ehemalige Aktive, die ihren Traum von der Weltklasse inzwischen aufgeben mussten, an der Eliteschule nebenan noch ihr Abitur bauen und sich schon in Richtung Studium orientieren. Für die Sozialpädagogin ist diese Mischung nicht unbedingt optimal. Sie wünscht sich bei der Betreuung des Nachwuchses mehr personelle Kontinuität. „Wir brauchen im Verein junge Leute, die langfristig mit Enthusiasmus und Engagement unterrichten“, erklärt sie und gibt zu bedenken, dass auch sie selbst „nicht mehr ewig“ zur Verfügung stehe. Ein klares Signal an den Niemann-Stirnemann-Verein und das städtische Amt für Bildung, das Fundament für weitere Erfolgsstorys auf dem Eis-Oval nicht brüchig werden zu lassen. Ansonsten, so die Befürchtung, werde die schöne moderne Eishalle am Steigerwald künftig nur noch Tummelplatz für Freizeitläufer sein.