Mit einem Festakt, einem Festzug, einer Ausstellung, der Enthüllung einer Gedenktafel und einer Turnschau wird am 11. und 12. Juni an ein bedeutendes historisches Ereignis der Turnbewegung erinnert: Vor 150 Jahren kamen in der fränkischen Stadt (nach schwankenden Angaben) zwischen 970 und 1300 Teilnehmer zum 1. Deutschen Turn- und Jugendfest zusammen.
Die Turner aus 31 Fürstentümer und vier Reichsstädten folgten dem „Ruf der Sammlung“ der Schwaben Georgii und Kallenberg. Sie zahlten einen Gulden Teilnehmergebühr, wohnten in Privatquartieren und nahmen mit einem Turntag, einem Festzug und einem Schauturnen schon wichtige Elemente der nachfolgenden Turnfeste vorweg.
In dem Städtchen nahe Thüringen hatte Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha national gesinnten Kräften einen Freiraum geschaffen. Hier gründeten die Sänger ihren Bund, fand die erste Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins statt und propagierten die Burschenschaften ihren Willen zur deutschen Einheit. Die Turner, die begeistert ihr erstes offizielles überregionales Fest feierten, nutzten die Gelegenheit zu hitzigen Diskussionen über ihren politischen, aber auch über ihren turnerischen Weg.
Höhen und Tiefen der Turnbewegung
Bevor es zur Premiere von Coburg kam, hatte die Turnbewegung Höhen und Tiefen erlebt. Turnvater Friedrich Ludwig Jahn sah in seinen neuen Turnübungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem den Zweck, die Wehrkraft der deutschen Jugend für die Befreiungskriege gegen Napoleon zu stärken. Von der staatstragenden Kraft des neuen Preußen entwickelten sich die Turner zu einer fortschrittlichen Bewegung, die gegen die reaktionären Methoden der Ära Metter-nich mit Zensur und polizeilicher Unterdrückung Sturm lief. Die Folge davon war die Turnsperre (von 1820 bis 1842), die für die Turnbewegung einen schweren Rückschlag bedeutete.
Doch damit nicht genug. Die Revolution von 1848, die mit der ersten parlamentarischen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zu großen Hoffnungen Anlass gab, spaltete die sich neu formierte Turnbewegung. Der „Deutsche Turnerbund“ Jahns akzeptierte ein noch zu einigendes Deutschland unter einem Monarchen. Der abgespaltene „Demokratische Turner-bund“ wollte dagegen gleich einen deutschen Nationalstaat als Republik verwirklichen und kämpfte dafür mit der Waffe in der Hand.
Nach seinem Sieg verfolgte der Obrigkeitsstaat die geschlagenen Kampfverbände der Turner. Zahlreiche Turnvereine wurden verboten. Nicht wenige Turner wurden eingekerkert, viele wanderten nach Amerika aus. Der Historiker Dieter Langewiesche stellt denn auch fest: „Die Spaltung der Turnbewegung markiert die Bruchlinie der Revolution und trägt entschieden zu ihrem Scheitern bei.“
Neuer Aufbruch der Turnbewegung
Die ersten Turnfeste und zahlreiche Gründungen von Turnvereinen, allein tausend zwischen 1860 und 1862, zeugten von einem neuen Aufbruch der Turnbewegung. In Berlin 1861, Leipzig 1863, Bonn 1872 nahmen mehrere tausend Turner an ihren Festen teil. In Frankfurt 1880 und in Dresden 1885 mit mehr als 10 000 sowie 1889 in München mit 20 000 Turnern wurde eine neue Dimension erreicht.
Soziale Spannungen im 1871 gegründeten Kaiserreich erzeugten unüber-brückbare Gegensätze zwischen den bürgerlichen und den proletarischen Turnern, die 1893 zur Gründung des Arbeiter-Turnerbundes (ATB) führten. Vier Jahre nach dem Ersten Weltkrieg setzte das 1. Deutsche Arbeiter Turn- und Sportfest mit 100 000 Teilnehmern einen neuen, kräftigen Akzent.
Während die Arbeiterturner die Gleichberechtigung der Turnerinnen anstrebten, verstand sich die Deutsche Turnerschaft als Männerbund, der Manneskraft und Manneszucht pflegen sollte. 1897 wurden nur widerstrebend die ersten Frauen aufgenommen. Wie die Soziologin Gertrud Pfister ausführt, bestimmten Gesichtspunkte der Moral und Schicklichkeit das Frauen-Turnen.
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts musste eine Anstandsdame anwesend sein, wenn ein männlicher Vorturner die Übungsstunde leitete. Erst nach heftigen Diskussionen wurden die langen dunkelblauen Röcke mit blauer Bluse, Matrosenkragen und Kopfbedeckung allmählich von einer fortschrittlicheren und damit praktischeren Turnkleidung abgelöst. Beim Deutschen Turnfest 1913 in Leipzig turnten die Frauen in weiten, schwarzen Pumphosen, in weißer Bluse mit kurzem Arm. Bis zu den eng anliegenden Gymnastikanzügen von heute war es noch ein weiter Weg. Erst im Jahr 1923 in München durften Frauen offiziell an Deutschen Turnfesten teilnehmen und erhielten dosiert Zugang zu Leitungsfunktionen der Deutschen Turnerschaft.
Verfolgung im Nationalsozialismus
Gleich zu Beginn des „Dritten Reichs“ wurde die Arbeiter-Turn- und Sportbewegung aufgelöst, viele ihrer Mitglieder wurden verfolgt und umgebracht. Währenddessen überbot sich die Deut-sche Turnerschaft mit ihrem fanatischen Präsidenten Edmund Neuendorff schon 1933 bei der Mammutveranstaltung des Deutschen Turnfests in Stuttgart in Ergebenheitsbekundungen gegenüber den Nationalsozialisten.
Die Turner waren mit die ersten, die übereifrig jüdische Mitglieder aus ihren Vereinen ausschlossen. Dem Deutschen Turnfest in Breslau 1938, bei dem sich der mehrmals anwesende Adolf Hitler feiern ließ, hatten ein Jahr vor dem Überfall auf Polen die Nationalsozialisten und die Wehrmacht unübersehbar ihren Stempel aufgedrückt. Turnen diente, nun unter anderen Vorzeichen als bei den Befreiungskriegen, abermals vor allem der Steigerung der Wehrkraft der deutschen Männer.
Das „Frankfurter Turnfest“ 1948 (Die Besatzungsmächte ließen aus Vorbehalten gegen überregionale Strukturen nur diesen Titel zu.) markierte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neubeginn. Offiziell war es nur Bewohnern der aus der amerikanischen und britischen Besatzungszone gebildeten Bi-Zone erlaubt, am Turnfest teilzunehmen. Doch auf verschlungenen Wegen fanden auch zahlreiche Turner aus dem französisch und sowjetisch verwalteten Gebiet in die zerstörte Stadt.
Deren Oberbürgermeister Walter Kolb hatte gerufen, und 30.000 Turner kamen, die zum Großteil in einem Zeltlager nächtigten. Sie feierten vor der Ruinen-Kulisse der Messestadt ein Fest der Hoffnung. Frankfurt hatte zugleich die Signale auf mehr Gemeinsamkeit zwischen dem Lager der bürgerlichen und dem der Arbeiter-Turner gestellt. Mit der Gründung des Deutschen Turner-Bundes (DTB) wurde zwei Jahre später die Kluft zwischen den feindlichen Brüdern von einst überwunden. Erster Vorsitzender: Walter Kolb.
1953 erstes offizielles Deutsches Turnfest
Das erste offizielle Deutsche Turnfest fand dann 1953 in Hamburg statt. Während die Turn- und Sportfeste der DDR in Leipzig sich mehr und mehr zur propagandistischen Leistungsschau des ostdeutschen Sports mit Lichtdom und Fahnenweihe entwickelten, dennoch aber den Teilnehmern ein willkommenes Ventil für ihre Lebensfreude boten, stärkten die Turnfeste im Westen des Landes die sozialintegrative Kraft der Turnvereine.
Hannover 1978 mit dem inzwischen kultigen „TuJu-Treff“ der Turnerjugend und „Swinging Frankfurt“ 1983 mit der Festmeile in der City setzten neue Akzente. 1990 in Bochum und Dortmund waren zum ersten Mal 10.000 Turner aus der nun demokratisch-freizügigen DDR dabei. Das Hamburger Turnfest von 1994 überraschte mit neuem Logo und modernem Outfit. 2002 wurde dann das erste gesamtdeutsche Turnfest nach der Wende in Leipzig, der Stadt der sanften Revolution, zu einem bewegenden Ereignis.
In Frankfurt zeigte sich im vergangenen Jahr der wundersame Wandel der Turnfeste in besonderer Weise. Die einstige Plattform des Männerbundes war inzwischen weiblich unterwandert: Mädchen und Frauen stellten einen Anteil von 67,5 Prozent der 65 000 Dauer-Teilnehmer. Zugleich räumte das Frankfurter Turnfest mit dem Vorurteil auf, es sei ein Stelldichein vorwiegend älterer Turnschwestern und Turnbrüder.
Fast 21.000 der 65.000 Teilnehmer waren erst zwischen 11 und 18 Jahre alt. Das größte Breitensport-Festival der Welt bot zugleich dem Spitzensport mit dem Hambüchen-Hype eine Bühne, präsentierte sich in der „Gymwelt“ als Turn-Messe und begeisterte die Teilnehmer und Zuschauer mit der Flussfestmeile und der abendlichen Lasershow auf dem Main, die von 2,6 Millionen Menschen besucht wurde.
Wie bei der pompösen Stadion-Gala zum Abschluss zeigte sich der anhaltende Trend zum Spektakulären, der dem Wesenskern des Turnfests aufgepfropft wird. Damit sind auch die Zeiten vorbei, in denen die Vereine selbst ihre Turnfeste amateurhaft gestalteten.
Heute führen Profis Regie bei der komplizierten Organisation und der Umsetzung eines attraktiven Programms. Und doch steht und fällt alles mit dem Engagement der ehrenamtlichen Helfer. In Frankfurt waren es 20 000 Volunteers, die ihre Begeisterung in das Turnfest trugen. Die Turnerinnen und Turner, die am Main dabei waren, schwelgen noch in ihren Erinnerungen und nähren doch schon die Vorfreude auf die nächste Auflage an Rhein und Neckar in drei Jahren. Dann wird nach wie vor der Satz des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss gelten: „Das Turnen ist für viele Deutsche die Heimat der Seele.“
Dieser Beitrag wurde für die Ausgabe Juni 2010 im DTB-Vereinsmagazin Deutsches Turnen von Steffen Haffner erstellt.