Über ein kritikwürdiges Stück "Kulturindustrie"

Theodor W. Adorno und der Sport

 

Von Prof. Dr. Michael Krüger

 

In diesen Wochen ist bei der Zeitungslektüre ein Gedenktag kaum zu

übersehen: Der große deutsche Philosoph, Soziologe, Musiker und Kulturkritiker Theodor W. Adorno wäre am 11. September 100 Jahre alt geworden. Aber was hat Adorno mit dem Sport zu tun? Nicht sehr viel und doch eine ganze Menge; denn Adorno wurde, ohne dass ihm dies selbst bewusst geworden sein mag, zu einem der Vordenker der linken Sportkritik der 1970er Jahre, deren Folgen bis heute zu spüren sind.

Der Sport spielte im Leben Adornos eigentlich keine Rolle, auch nicht in seinem Denken. Aber es gibt einige Stellen in seinem umfangreichen Werk, in denen er den Sport, sportliche Betätigungen und Leibesübungen als Beispiel für das aufführt, was er als „Kulturindustrie“ bezeichnete. „Die affektive Besetzung der Technik, der Massenappell des Sports, die Fetischisierung der Konsumgüter sind Symptome dieser Tendenz“, schrieb Adorno 1965 in seinem Artikel „Gesellschaft“. Die „Kritische Theorie“ Adornos und seiner Kollegen am Frankfurter „Institut für Sozialforschung“, wie Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Ludwig Marcuse oder Erich Fromm, hatte den Anspruch, die Unmenschlichkeit der herrschenden Ordnung zu entlarven und auch Wege auf zu zeigen, sie zu stürzen oder zu verändern: „Es bedürfte der lebendigen Menschen“, fuhr Adorno in demselben Artikel fort, „um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation fortgesetzt, dass sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.“

Spiel und Sport seien in die spätkapitalistische Gesellschaft verwoben und deshalb keinesfalls Ausdruck von Freiheit, Individualität und Spontaneität, wie es die bürgerliche Ideologie des Sports glauben machen wollte, sondern Teil oder Anhängsel dieser Maschinerie der Unterdrückung. Diese in der Konsequenz seines Denkens liegende kritische Analyse des modernen Massenphänomens Sport formulierte Adorno in einem Aufsatz, der 1963 in dem Band „Prismen“ mit dem Titel „Veblens Angriff auf die Kultur“ erschien. Es ging ihm also gar nicht um den Sport, sondern um die kritische Gesellschaftsanalyse eines, wie heute geurteilt wird, modernen Klassikers der Soziologie, des als Sohn norwegischer Immigranten in den USA geborenen und wirkenden Thorstein Bunde Veblen (1857-1929). Veblen beschäftigte sich in seinem Buch „The Theory of the Leisure Class“ ausführlich mit dem Sport. Dieses Buch, das 1958 auf deutsch unter dem Titel „Theorie der feinen Leute“ erschien, ist eine bittere, bisweilen satirische Analyse der modernen, amerikanisch geprägten Gesellschaft und war sowohl von marxistischen Einflüssen als auch von dem Buch eines anderen Klassikers der modernen Soziologie, von David Riesmans „Die einsame Masse“, geprägt.

Adorno schloss sich vorbehaltlos der Veblenschen Sicht an, dass „jegliche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder und den Leibesübungen der Universitäten bis zu den großen sportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unterdrückung und Beutegeist“ zu deuten sei (Prismen, S. 79). Aber damit nicht genug. Er setzte noch eins drauf und topte Veblen um einen, aus der Sicht der Kritischen Theorie entscheidenden Aspekt: „Denn zum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. Einzig Veblens rationalistische Psychologie verstellte ihm das masochistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue (...) Der moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert.“ (S. 80).

Damit war von einem der Väter der Kritischen Theorie und der Studentenbewegung ein vernichtendes Urteil über eine Erscheinung des modernen Lebens und der Gesellschaft gefällt, das im krassen Gegensatz zur Interpretation des Sports durch seine bürgerlichen Apologeten stand. Der Sport und die Leibeserziehung, so hatten deren Theoretiker gerade in (West)Deutschland und nach dem Ende der Hitlerdiktatur und des Zweiten Weltkriegs immer wieder betont, dienten dem körperlich-seelischen Ausgleich und der Freiheit des Menschen in einer Gesellschaft, die immer mehr dazu führe, Körperlichkeit und Bewegung einzuschränken und die Menschen in immer strengere Formen der Arbeitsdisziplin zu pressen. Spiel und Sport wurden als eine Welt für sich interpretiert, in der es möglich sei, deren negative Begleiterscheinungen und Folgen zu kompensieren. Im Sport könne man – frei nach Schiller und Carl Diem – noch ganz Mensch sein, weil der Mensch im Sport noch seinen „Spieltrieb“ ausleben könne – vorausgesetzt, man hält den Sport frei von störenden Einflüssen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Mit dieser idealistischen Vorstellung vom Sport war nach dem Verdikt von Adorno erst mal Schluss. Da sich die noch nicht so zahlreichen Sportstudentinnen und Sportstudenten – erst ab Ende der 1960er Jahre konnte man Sport als gleichberechtigtes, akademisches Fach an den westdeutschen Universitäten studieren – von ihren Kommilitonen nicht nachsagen lassen wollten, einer Sache zu dienen, die „ins Reich der Unfreiheit“ gehöre („wo immer man ihn auch organisiert“), setzte nun eine radikale Kritik am Sport und speziell an den Formen des Sports ein, die als besonders repressiv, aggressiv und unfrei angesehen wurden, nämlich dem Leistungs- und Wettkampfsport. Dass in Tübingen am „Institut für Leibesübungen“ die Weitsprunggrube mit Gülle gefüllt wurde, mag man noch als eines unter vielen ähnlich abstoßenden Beispielen der Mischung aus Studentenulk und radikalem „68er“ - Studentenprotest abtun, aber es passte ins Bild der von Adorno und später auch von Jürgen Habermas geäußerten Fundamentalkritik am Sport.

War der Mist in der Weitsprunggrube in Tübingen das einzige, was von Adorno und der Kritischen Theorie im Hinblick auf den Sport übrig blieb? Welche Folgen hatte Adorno für die weitere Sportentwicklung? Folgte man Adorno und der „Kritischen Theorie“, blieben eigentlich nur zwei Alternativen: Da unter den gegebenen Verhältnissen der Sport immer „ins Reich der Unfreiheit“ gehörte, egal, wo und von wem er organisiert wurde, blieb erstens nur die Wahl, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Da sich dies nicht so ohne Weiteres erreichen ließ, musste man sich zweitens mit den Gegebenheiten arrangieren und versuchen, den Sport zu ändern. Er sollte nicht mehr „entfremdet“, „verdinglicht“, „entmenschlicht“, „maschinisiert“ sein. Streng genommen, ging das nach Adorno zwar nicht (weil es keinen guten Sport im schlechten geben kann), aber Tatsache ist, dass die Sportkritik der „Neuen Linken“ den Leistungs- und Wettkampfsport ins Visier nahm, weil man in ihm die Verzerrungen einer entmenschlichten, unfreien Körper- und Bewegungskultur wahrzunehmen glaubte, die nach Adorno „ins Reich der Unfreiheit“ gehörte und die Habermas in einem Aufsatz 1967 als „Verdoppelung der Arbeitswelt“ bezeichnete.

Was man brauchte, war so gesehen eine Alternative zu diesem Sport, Formen des „nicht-sportlichen“, „alternativen“ Sports, einen „Freizeitsport“, der sich, wie es in dem erst 2002 erschienenen „Handbuch Freizeitsport“ heißt, durch eine eigenständige, vom traditionellen Wettkampf-, Leistungs- und auch Breitensport unabhängige, humane Sinn-und Motivstruktur definiert.

So gesehen war auch der „Zweite Weg“ des deutschen Sports und des Deutschen Sportbundes, die Erfindung eines neuen, anderen Sports neben dem klassischen, traditionellen Sport, der nach Adorno „ins Reich der Unfreiheit“ gehört, eine Antwort auf Adorno und die Sportkritik der „Neuen Linken“.