Verein auf höchsten Höhen und mit Bodenhaftung

Am vergangenen Wochenende feierte der Deutsche Alpenverein sein 150-jähriges Jubiläum. Zu recht, meint Autor Hans-Jürgen Schulke.

Der DAV zählt heute 1,3 Millionen Mitglieder. Foto: picture-alliance
Der DAV zählt heute 1,3 Millionen Mitglieder. Foto: picture-alliance

Mit 0.08 Prozent Blutalkohol gilt man hierzulande als automobil fahruntüchtig. 0.08 Prozent seiner heute fast 1,3 Millionen Mitglieder zählte vor knapp 150 Jahren der Deutsche Alpenverein (DAV), nämlich gut 1000. Kein Grenzwert, sondern Start. Ein Jahr zuvor war die Initiative der zehn Erstunterzeichner zur Gründung eines Menschen mobilisierenden Wandervereins berufen worden. Sie fand schnell Resonanz, traf sie doch auf verstärktes Bedürfnis von Besitz- und Bildungsbürgertum „in grauer Städte Mauern“, Enge und Schornsteinqualm zumindest temporär zu entgehen. Neben der Inhalation salzreicher Luft am Meer war die Tiefenatmung kristallklaren Klimas im Hochgebirge das Angebot der Wahl. Oder die Nähe des Wohnorts, befand sich das Eisenbahnsystem noch in seinen Anfängen.

Damit begann eine atemberaubende Erfolgsgeschichte, deren Zahlen Höchstwerte darstellen: Hinter den knapp 1,3 Millionen Mitgliedern stehen 357 Sektionen, die insgesamt 321 Hütten betreuen, 207 Hallenanlagen (die größte der Welt befindet sich in München) bieten ca. 400.000 Menschen gut bedachtes Klettern und Bouldern, 27.000 Ehrenamtliche leisten 1,86 Millionen Stunden freiwilliger Arbeit ganzjährig, 20.400 ausgebildete Touren- und Kursleiter sichern 165.000 Einzelveranstaltungen übers Jahr. 30.000 Kilometer betragen die eigens von Mitgliedern ausgebauten und betreuten Wege und Stege, von denen viele über 3000 Meter über dem Meeresspiegel verlaufen.

Höher geht es nicht mit diesem weltweit einzigartigen Verein – oder doch? 2018 wuchs der DAV um 4,18 Prozent, nicht Promille. Das auch in die Breite: Wanderstrecken gibt es in der Nordheide bei Buchholz, Kletterhallen in Hamburg beispielsweise. Zu Recht hat sich der DAV letztes Wochenende selbst gefeiert und ist von Politik und Gesellschaft in höchsten Tönen gelobt worden. Und wenn UN und WHO weltweit „Be Active“ propagieren, dann können sie sich an den DAV wenden. Der Berg ruft.

Was ist die Formel für den phänomenalen Aufstieg dieses aus kleinsten Anfängen entstandenen Vereins, warum haben sich die ersten Wanderfreunde wie ihre Nachläufer nicht mit individueller Genügsamkeit oder kommerziellen Anbietern begnügt? Die Formel ist „LuV“ – Leidenschaft und Verein. Sie waren die Triebkräfte, um aus dem Nichts und über weltweite Kriege und technische Revolutionen hinweg eine dauerhafte soziale Bewegung aufzubauen. Leidenschaft für Kennenlernen wie Erhalt unberührter Natur und die Steigerung der eigenen körperlichen Kräfte in immer höheren und neuartigen alpinen (jetzt auch olympischen) Herausforderungen, der Verein gleichberechtigter Menschen mit der Versicherung gegenseitiger Hilfestellung und dem selbstverständlichen Anpacken beim nachhaltigen Bau von Hütten und Hallen. Wandern für Alle und fast überall ist Versprechen.

Die Chronik des Vereins – dokumentiert in einem hochwertigen Bildband – lässt die Schwierigkeit der Anfänge erahnen, denn von den zehn Mitgründern fiel der jugendliche Karl Hofmann im deutsch-französischen Krieg, der Pfarrer Josef Senn überwand nie den Tod seines besten Freundes bei einer eisigen Bergwanderung und starb früh. Dennoch oder deswegen gab es kein Aufgeben. Das auch immer in Auseinandersetzung mit technischem, touristischem und politischem Wandel. Zu den dunkelsten Kapiteln gehört der schon 1924 im DAV aktiv praktizierte Antisemitismus, die Kollaboration mit dem NS-Staat und Militär. Wandern kennt auch tiefe Täler und Irrwege.

Der geläuterte DAV wurde sich nach dem 2. Weltkrieg zunehmend seiner Rolle im demokratischen Staatswesen bewusst, nahm sie mahnend, kämpferisch und gestaltend an. Früh engagierte er sich in der Umweltbewegung, forderte und praktizierte einen ökologischen Tourismus, wandte sich deshalb gegen eine Olympiabewerbung Münchens, förderte das Wandern für alle gesellschaftlichen Gruppen und als Gesundheitsprävention, organisierte Integration ausländischer Mitbürger und Inklusion behinderter Menschen, treibt die Digitalisierung der Vereinsorganisation an nicht als Abkehr von der Natur sondern um mehr Menschen Zugang, Verständnis und Bindung zu ihr erleichtern. Jung mit 150 Jahren.

So ist der DAV in seinem Jubiläumsjahr beeindruckendes Beispiel für Gestaltungskraft, Lernfähigkeit und verantwortungsvolle Innovationsdynamik der Vereinssportbewegung in Deutschland. Dafür hatten schon 50 Jahre zuvor die Turner unter Jahn mit akrobatischen Kletterübungen auf dem Turnplatz und langen Wanderungen in deutschen Landen Spuren gelegt. Jahn steht heute in der virtuellen Hall of Fame des Sports. Ein alpiner Kletterer fehlt dort noch. Vielleicht ist es nach den Olympischen Spielen 2020 an der Zeit zum Aufstieg.

(Autor: Prof. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Der DAV zählt heute 1,3 Millionen Mitglieder. Foto: picture-alliance
    Jugnedliche und junge Erwachsene klettern mit Seilen gesichert einen Fels hoch. Foto: picture-alliance