Vor der Wahl: Die DNA der Demokratie

Vereins- und Demokratiebewegung in Deutschland haben eine gemeinsame Geschichte. Auch deshalb ruft DOSB-Präsident Alfons Hörmann alle Vereinsmitglieder auf, zur Wahl zu gehen.

Das Wahlhearing des DOSB 2017 in Berlin. Foto: DOSB/Camera4
Das Wahlhearing des DOSB 2017 in Berlin. Foto: DOSB/Camera4

In der vorigen Woche fand turnusgemäss der von der UN-Vollversammlung vor zehn Jahren beschlossene jährliche „Internationale Tag der Demokratie“ statt. Er will weltweit mit vielfältigen Aktivitäten dazu aufrufen, das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen und Staaten durchzusetzen und zu stärken – bei weitem nicht überall erreichtes Ziel. Dem Appell folgt am kommenden Sonntag hierzulande der Praxistest. Deutschland ist aufgerufen, sein nächstes Parlament zu wählen. Eigentlich ein Freudentag, denn fast 70 Jahre lebt Deutschland in Frieden – länger als jemals zuvor – und befindet sich im Inneren bei mancherlei Verwerfungen insgesamt in wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität. Der demokratischen Verfassung und ihrer Institutionen sei Dank.

Nicht alle wissen das zu schätzen. Ein großer Teil der Bürger wird nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch machen, nicht aktiv am wichtigsten Datum zur Sicherung und Weiterentwicklung einer lebendigen Demokratie mitwirken. In zahlreichen Ländern dieser Welt hoffen die Bewohner vergeblich auf solche Möglichkeit. Da ist selbstverständlich, wenn zahlreiche Institutionen und Initiativen dazu aufrufen, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Darunter auch der DOSB, dessen Präsident Alfons Hörmann eindringlich seine über 90.000 Vereine aufrief, ihre Mitglieder zur Teilnahme an der Bundestagswahl aufzufordern. Mit 27 Millionen Mitgliedschaften ist das immerhin die größte Bürgerbewegung in Deutschland.

Es ist aber nicht nur die respektable Zahl, die Präsident Hörmann in die Wahlschale werfen darf. Es ist vielmehr die basisdemokratische Organisationsform „Verein“, die historisch-genetisch die DNA unserer Demokratie darstellt. Vereins- und Demokratiebewegung in Deutschland haben eine gemeinsame Geschichte. Ein Blick auf die Entstehung des Vereinswesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts macht das deutlich.

Zu der Zeit entsteht ein komplett neuartiges Organisationsmodell in einer Zeit, wo Familie, Kirche, Schule, Handwerk, Industrie, Behörden streng hierarchisch funktionieren, Eltern gesiezt und Offiziere devot gegrüßt werden. Das Leben einer streng autoritären Gesellschaft, in die man zu Befehl oder Gehorsam hineingeboren wird. Das revolutionäre Organisationsmodell ist der Verein – eine nichtkommerzielle und nichtstaatliche Körperschaft. Selbstorganisiert wird geplant und gehandelt, Auge in Auge ohne Visier und Schleier, ohne Titel und Tradition: Jeder hat bei Beratungen und Entscheidungen eine gleichberechtigte Stimme, die Mitgliedschaft ist freiwillig und kündbar, Wahl der Führungskräfte erfolgt auf Zeit, Transparenz gilt bei allen Entscheidungen.

Am konsequentesten wird dieses Organisationsmodell wohl ab 1811 auf dem Turnplatz des „Turnvaters“ Jahn umgesetzt, auf dem der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelebt wird. Er wird schnell zur Erfolgsgeschichte überall in Deutschland, die keineswegs geradlinig verläuft. Vereine werden polizeilich observiert, wegen demokratischer Umtriebe verboten, Vorstände – so auch Jahn – verhaftet und verurteilt. Aber sie sind nicht mehr zu beseitigen, entwickeln sich im 19. Jahrhundert flächendeckend – heute sind es 600 000 Vereine für Alles und Jeden. In der ersten Deutschen Nationalversammlung 1848, nach erneuertem Verbot wieder 1919 und schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 wird ein Vereinsgesetz beschlossen, das Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Grundrecht garantiert. Es ist kein Zufall, dass in den undemokratischen Phasen der neueren deutschen Geschichte Vereine vereinnahmt, verboten, verdrängt oder vergessen wurden.

In über 70 Jahren Demokratie in Deutschland ist der Vereinssport aufgeblüht, hat seine Mitgliederzahl vervielfacht, kreativ neue Angebote entwickelt, Mitarbeiter qualifiziert, Sportstätten errichtet, internationale Verbindungen gepflegt, sich für Schwächere eingesetzt, soziale Offensiven gestartet. Offenheit für alle Bevölkerungsgruppen und friedliches Miteinander im Weltsport charakterisieren die deutsche Vereinssportlandschaft. Vereine blühen in einer Demokratie auf, die Demokratie bedarf der Vereine als ihrer Basis.

Da überrascht es, dass die im Bundestag vertretenen oder nach der Wahl zu erwartenden Parteien wenig zur Bedeutung und Förderung der Vereine in ihren Wahlprogrammen gesagt haben. Das um so mehr, als die ersten Parteien wie auch Genossenschaften aus Vereinen hervorgegangen sind bzw. sich in ihrer demokratischen Konstitution an ihnen orientiert haben. Das gilt auch und besonders für den Vereinssport.

Dabei hat der DOSB frühzeitig Wahlprüfsteine vorgelegt, einen parlamentarischen Abend dazu veranstaltet (das politische Führungspersonal der Parteien fehlte) und eine differenzierte Analyse der Wahlprogramme vorgelegt.

Das Ergebnis ist eher ernüchternd und fällt spärlicher aus als vor den letzten Wahlen. Die zuletzt großen Themen wie Verankerung des Sports als Staatsziel im Grundgesetz, Spitzensportreform und Olympia fehlen oder werden kurz gestreift. Neu ist die mehrfach berufene Förderung des boomenden E-Sports („Kulturgut“), der bislang zur Games-Industrie gerechnet wird. Nur wenige Parteien formulieren für den Sport ein eigenes Kapitel, der noch kein Gesamtkonzept von Sportentwicklung mit konkreten Aufgaben der Akteure – hier vor allem die tragende Rolle des Vereinssports – erkennen lässt. Bei anderen finden sich hier und da Erwähnungen zur Förderung des Ehrenamts, der Sportinfrastruktur, zur Dopingprävention, zum Bildungswert, zur Gesundheitsförderung und Integration wie Inklusion – meist ohne konkreten Zahlen und Pläne. Die Analyse sieht zugespitzt „Versprechungen, Altbekanntes, Nullnummern“.

Es bleibt Aufgabe des DOSB, nach der Wahl den Sport angemessen im Regierungsprogramm zu verankern. Dort sollte der Verein im Mittelpunkt stehen – die DNA unserer demokratischen Zivilgesellschaft, auf die Deutschland nicht verzichten darf.

Positionspapier des DOSB zur Bundestagswahl 2017

(Autor: Prof. Hans-Jürgen Schulke)

In jeder Ausgabe der DOSB-Presse, die wöchentlich erscheint, gibt es einen Kommentar zu aktuellen Themen des Sports, den wir hier als DOSB-Blog veröffentlichen. Diese mit Namen gezeichneten Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle DOSB-Meinung wieder.


  • Das Wahlhearing des DOSB 2017 in Berlin. Foto: DOSB/Camera4
    Das Wahlhearing des DOSB 2017 in Berlin. Foto: DOSB/Camera4