Was „68“ in Bewegung brachte

Auch im Sport gab es 1968 Ereignisse, die das Denken verändert haben: Das deutsche Turnfest in Berlin, die Olympischen Spiele in Mexiko und die Notstandsolympiade in Hamburg.

Mexiko 1968: Die Amerikaner Tommie Smith (m.) und John Carlos (l.) protestieren gegen Rassendiskriminierung. Mit auf dem Podest der Australier Peter Norman. Foto: picture-alliance
Mexiko 1968: Die Amerikaner Tommie Smith (m.) und John Carlos (l.) protestieren gegen Rassendiskriminierung; mit auf dem Podest der Australier Peter Norman. Foto: picture-alliance

Derzeit sind Buchhandel, Gazetten und TV-Features mit dem Komplex „Die 68er“ beschäftigt – die runde Zahl bietet Rückbesinnung und Resümee. Die einen schwelgen nostalgisch in (pseudo-) revolutionärer Erinnerung, andere analysieren eher nüchtern Ursachen, Ereignisse und Wirkungen dieses Jubiläumsjahres, manche wiederholen stereotyp die Schuld für alle aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen bei den zerstörerischen „Antiautoritären“ jener Zeit. Die Millenials stehen einigermaßen ratlos vor ihren Großvätern und suchen gemeinsam mit ihren zu der Zeit noch nicht geborenen Lehrern in einem gruppenorientierten Projektunterricht bei Wikipedia nach Hintergründen.

Sie werden staunend in eine Zeit blicken, in der es hohe Arbeitslosigkeit gab, nur wenige das Gymnasium besuchen konnten, die Spiegel-Affäre autoritäres Denken der Politik offenbarte, Frauen nicht ohne Genehmigung der Ehemänner ihren Beruf wählen durften, der Vietnam-Krieg der USA Zweifel an deren moralischer Führungsrolle für die freie Welt hervorrief, die geteilte Welt sich in zwei grundverschiedenen politischen Systemen feindlich gegenüber stand.

Es ist nicht überzeugend, bestimmte politische Ereignisse wie das Attentat auf Dutschke oder die wütenden Proteste gegen den Springer-Verlag linear mit G20-Gipfel oder Meinungsfreiheit im Netz zu verbinden. Hilfreicher ist eine mentalitätsgeschichtliche Betrachtung: Was hat sich in diesen 50 Jahren an Einstellungen, Werten und Denken der Menschen verändert?

Die jungen Rechercheure in den Schulen werden entdecken, dass dieses Land in der Gesamtheit seiner Bevölkerung vielfältiger, offener, toleranter, gerechter, bildungsorientierter, umweltbewusster und bewegungsfreudiger geworden ist. Nicht überall, oft widersprüchlich, keineswegs überall in feste Strukturen gegossen. Und sie entdecken vielleicht auch, wie sehr diese Veränderungen momentan gefährdet sind.

Sport als heile Welt

Sport stand bei den Aufbrüchen vor 50 Jahren nicht auf der Agenda. Die 1950 vereinbarte Einheitssportbewegung hatte die Kontroversen zwischen Turnen und Sport, zwischen bürgerlichem und Arbeitersport, zwischen den unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen des Sports überwinden lassen.

Es ging um die Grundversorgung der hart arbeitenden Bevölkerung, soweit sie Zeit und Motivation für Sporttreiben hatte. Und um die Wiederherstellung der bewährten Sportstrukturen in Sportarten und Wettkämpfen – wenig Kraft blieb für kritische Würdigung mancher Sportführer und ihrer NS-Vergangenheit.

Vereine sahen den Sport unpolitisch, als heile Welt, und so wurde er von den meisten Sporttheoretikern auch dargestellt. Allein die ständigen Auseinandersetzungen mit der DDR bei der (Allein-) Vertretung bei den Olympischen Spielen waren Ärgernis. Das spitzte sich mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 zu. 1968 trat die DDR erstmals mit eigener Mannschaft bei den Olympischen Spielen an – wichtiger Anstoß für neues Denken.

Aus der zeitlichen Distanz wird schon früh eine sukzessive Verschiebung in der Tektonik des Sports erkennbar. Kürzung der Arbeitszeit und geringere körperliche Belastungen verlangten mehr und neue Angebote.

Die dem „volkstümlichen Turnen“ verpflichteten Turner reagierten als erste, der damalige Deutsche Sportbund (DSB) fasste das mit den Kommunen zusammen als „Zweiter Weg des Sports“. Die Orientierung am Wettkampfsport hatte eine Alternative erfahren. Sie konnte später von „antiautoritär“ denkenden Sportlehrern, Übungsleitern und Sportstättenplanern aufgegriffen werden und bot praxisnahe Anknüpfung ohne unverständliche ideologische Überhöhung. Sie wurde in den 70er Jahren etwa bei der Sportjugend in der Bildungsarbeit übernommen und gesellschaftstheoretisch fundiert.

Wenn man nach konkreten sportlichen Ereignissen im Jahr 1968 fragt, die Denken verändert haben, so kann man drei Daten nennen – zweifelsfrei ein sehr selektiver Blick: Das deutsche Turnfest in Berlin, die Olympischen Spiele in Mexiko und die Notstandsolympiade in Hamburg.

  • Das Turnfest mit 70.000 Teilnehmern fand wenige Wochen nach den großen Studentenunruhen statt. Die Organisatoren fürchteten Zusammenstöße zwischen revolutionären Studierenden und traditionell eher staatstragenden Turnern aus deutschen Provinzen. Es kam zu keinen Zusammenstößen, aber zur beeindruckenden Rede des späteren Turnerpräsidenten Jürgen Dieckert, der über die Person Friedrich Ludwig Jahn („junger Revolutionär“) überzeugend die Verbindung zwischen der demokratischen Vereinsbewegung 150 Jahre zuvor und den aktuellen Protestformen der Studierenden herstellte. Es sollte allerdings eine ganze Zeit dauern, bis die mit Texten von Rigauer, Marcuse oder Güldenpfennig zur Arbeitersportbewegung und „emanzipatorischem Sportunterricht“ geführte politisch-ideologiekritische Diskussion die freiheitlich-demokratische Substanz des Vereinssports sah. Die turnerischen Traditionen schlugen Brücken. Aus Protesten erwuchsen aktive Vereinsvorstände.
  • Die Olympischen Spiele 1968 waren selbstverständlich ein Weltereignis. Sie fanden in einer unfriedlichen Welt statt. Der umstrittene Vietnamkrieg mit Bombardierungen und Massakern befand sich auf dem Höhepunkt, zahlreiche protestierende Studenten waren vor dem Olympiastadion in Mexico City erschossen worden, bei der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf protestierten zwei Amerikaner gegen den Rassismus in ihrer Heimat. Das Bild mit der geballten Faust auf dem Siegerpodest ist bis heute allgegenwärtig. Sport war keine heile Welt, war Teil und Spiegel gesellschaftlicher Konflikte, in denen er seine Position neu begründen und gestalten musste.
  • Ende 1968 liefen über tausend Studierende durch die Hamburger Innenstadt im Sportdress zur „Notstandsolympiade“ – ein Happening mit Sackhüpfen und Eierlaufen sowie einer Ehrung für alle durch einen authentischen Olympiasieger. Der spätere UN-Sonderbeauftragte Willi Lemke war einer der Organisatoren, Uwe Seeler applaudierte ebenso wie die Tagespresse. Es entstand die erste Interessenvertretung der Sportstudenten, die sich bald bundesweit konstituierte. Deren Vertreter fanden sich im Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband (adh) und dem Arbeitskreis der Sportinstitute wieder, andere in Sportverbänden. Sie waren innovativ bis verwegen in der Ausbildung von Sportlehrern, olympiakritisch und dennoch aktiv im Studentenlager 1972. Die heiteren und schrecklich endenden Spiele haben sie geprägt. Sie protestierten gegen den Olympiaboykott und gründeten die Initiative „Sportler für den Frieden“.

Damalige Akteure und Zeitgenossen mögen manches anders bewerten. Wichtiger ist, dass 1968 nicht Anekdote und Episode war, sondern Impulse in die Sportorganisationen und die Sportwissenschaft gegeben hat, mehr vielleicht noch Schul- und Vereinssport bewegt hat. Beide sind dadurch offener, vielfältiger, befreiender, freudvoller, auch politisch bewusster geworden und haben zum Sport als einzigartiger Massenbewegung hierzulande beigetragen.

(Quelle: DOSB-Presse Ausgabe 17-18/Prof. Hans-Jürgen Schulke)


  • Mexiko 1968: Die Amerikaner Tommie Smith (m.) und John Carlos (l.) protestieren gegen Rassendiskriminierung. Mit auf dem Podest der Australier Peter Norman. Foto: picture-alliance
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