Herr Özdemir, sind Integration und Sport zwei Begriffe, die Ihrer Ansicht nach zusammengehören?
Nein, das ist kein Begriffspaar, sondern der Sport ist das Synonym für Integration. Wenn wir Sport und Integration zu erklären versuchen, behaupten wir zu wissen, was der Sport macht und welche Kraft er eigentlich hat.
Und, was ist genau gemeint?
Wir in der Politik meinen immer: Die Kraft, die daraus entsteht, dass eine Mannschaft, deren Mitglieder außerhalb des Platzes wahrscheinlich nie etwas miteinander zu tun gehabt hätten und auch nie zusammenarbeiten würden, gemeinsam ein Ziel erreichen, Bestleistung erzielen, möglichst den Sieg. So ist im Sport die Integration eigentlich schon angelegt, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedürfte.
Ist das nicht ein sehr kurzes Verständnis von Sport, das vor allem auf Leistung und Erfolg abhebt?
Der Sport hat mir gezeigt, dass man in der Gesellschaft seinen Platz nur dann bekommt, wenn man Leistung erbringt, bereit ist, den Meter extra zu gehen. Ob auf dem Fußballplatz, in der Schule oder in der Partei. Dieser Leistungsanspruch ist aber mit dem Versprechen verbunden, solidarisch zu sein. Also: Dass man Bestleistung erbringen konnte, hat was damit zu tun, dass man gute Rahmenbedingungen vorgefunden hat, unabhängig davon, welche finanziellen und generellen Voraussetzungen einem in die Wiege gelegt worden sind. Der Gewinner zeigt sich solidarisch mit denen, die unterlegen sind, zeigt ihnen, dass es beim nächsten Mal wieder ganz anderes aussehen kann. Er motiviert sie: Das könnt ihr auch.
Haben Sie in Ihrer Kindheit und Jugend Diskriminierung erlebt?
Natürlich bin ich Lehrern über den Weg gelaufen, die der Ansicht waren, dass ein Türkenkind nichts anderes als ein befriedigend verdient hätte. Das war die gläserne Decke für mich. Dass ich bei der Benotung diskriminiert worden bin, das hat es nachweislich gegeben.
Was hat Sie nicht daran verzweifeln lassen?
Meine Familie und das soziale Umfeld haben dabei eine große Rolle gespielt. Wenn ich nur in der Schule gewesen wäre, meine Eltern mich nicht zum Sport geschickt hätten und ich diese Gemeinschaft erlebt hätte, wäre ich wahrscheinlich irgendwann völlig frustriert gewesen und hätte gesagt, dass dieser Lehrer stellvertretend für den Rest der Gesellschaft steht. Auf den Sportplätzen habe ich aber immer wieder von Freunden gehört, das lässt du dir doch nicht bieten. Und meine Familie hat mir dabei geholfen, gegen diese Diskriminierung vorzugehen. Dennoch, trotz dieser Erfahrungen fühlten sich viele Dinge damals leichter und selbstverständlicher an, als heute …
Was meinen Sie?
Wenn wir als türkischstämmige, muslimische Kinder beim Vereinsgrillen dabei waren, und meine Eltern gesagt haben, meine Kinder essen aus konfessionellen Gründen kein Schwein, dann haben die kurz innegehalten und gesagt, mach mal einen zweiten Grill auf. Das wurde nicht diskutiert. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass konservative und rechte Kräfte in unserem Land, solche kulturellen Unterschiede herausstellen, um daran zu beklagen, dass wir angeblich unser Land an die Ausländer verlieren. Damals war das kein Thema. Wenn jemand einen anderen Glauben hat, wird ihm eben sein Fleisch so gebraten, wie er es braucht. Keine große Sache.
Wie schauen Sie als Mensch mit eigener familiärer Zuwanderungsgeschichte auf den Integrationsbegriff?
Gar nicht. Integration und Migration ist alles Kokolores, um es mal mit den Worten eines großen Nationaltrainers zu sagen. Wir müssen weg von dem politisierenden Integrationsbegriff, hin zu echter, diskriminierungsfreier Teilhabe. Jede und jeder nach ihren und seinen Rechten, aber auch Pflichten. Und das diskriminierungsfrei. So verstehe ich Integration. Ansonsten kann jeder sein Leben so leben wie er möchte. Das ist die große Stärke dieses Landes und das ist es, was es groß gemacht hat.
Teilhabe ist schön und gut, es hat sich aber herausgestellt, dass sie sich meistens nicht von allein einstellt, ohne dass man sie regulativ einfordert, auch Sanktionen ausspricht.
Ja, die Seilschaften und Strukturen, die an vielen Stellen der Gesellschaft herrschen, müssen wir viel stärker öffnen und den Multiplikatoren deutlich machen, es bringt nichts, nur unter sich, im eigenen Saft zu schmoren. Wir haben es ja während Corona gesehen, als wir die Kinder nicht auf den Sportplatz gelassen haben, während die Profifußballer dem Geld hinterhergejagten. Das hat in der Breite zu massiven Mitgliederverlusten in den Vereinen geführt. Da sind Menschen gegangen, die wissen, wie so eine Vereinskultur in Deutschland funktioniert. Da reden wir noch gar nicht über die neuen, über die Menschen, die Anschluss suchen in Deutschland.
Wo sehen sie die Stellschrauben für Veränderungen?
Wir müssen einen neuen Anlauf wagen, an vielen Stellen, beim Bundesprogramm „Integration durch Sport“ – das in den vergangenen Jahrzehnten exzellente Arbeit geleistet hat – genauso wie beim behördlichen Umgang mit den Zuwanderern. Wenn ich jahrzehntelang diese Trennung habe: Rechter Schalter, Bezirksamt, du bist ein echter Duisburger, linker Schalter, irgendwo dahinten, Du bist Ausländer. Das macht ja was mit einem Menschen. Es zeigt ihm: Du gehörst nicht dazu. Das zumindest haben wir mit dem Staatsangehörigkeitsrecht in der Zwischenzeit ein Stück weit verändert, indem wir auch Mehrstaatlichkeit zugelassen haben.
Was ist denn die Basis: eine gemeinsame Leitkultur, wie es immer mal wieder von konservativen Parteien versucht wird?
Nein. Mich interessiert nur, steht der Mensch auf dem Boden des Grundgesetzes, will er mit mir die Zukunft des Landes gestalten und seinen Wohlstand mehren und verteidigen. Integration zeigt auch, wer gegen die Werte verstößt, wie die Demonstranten, die jüngst in Hamburg das Kalifat gefordert haben. Diese Probleme müssen wir mit der Härte des Rechtsstaates lösen: Vereinsverbot, Versammlungsverbot, Demonstrationsverbot. Das sind Menschen, die gegen den Geist von diskriminierungsfreier Teilhabe sind. Und wer die nicht respektiert, bei dem müssen wir den Mut haben, zu sagen, du gehörst nicht zu Deutschland.
Haben sie das Gefühl, dass sich die Parteien vor dem Hintergrund der vielen gesellschaftlichen Probleme und den hohen Umfragewerten für die AfD überparteilich zusammenfinden?
Nein, das sehe ich leider überhaupt nicht.
Können Sie die parteilichen Differenzen im Umgang mit Zuwanderung, Islamismus und Rechtsextremismus im Rahmen der Mannschaftsaufstellung beim FC Bundestag besser handeln als im Parlament?
Natürlich ist die Kabine bei uns politisch, aber sie ist freundschaftlich. Der FC Bundestag bietet auch das Forum „entre nous“ zu sprechen. Es ist guter Usus: Das, was in der Kabine besprochen wird, bleibt auch dort. Darauf bin ich sehr stolz. Es ist noch nie was nach draußen gegangen. Sobald wir aus der Kabine treten, haben alle den Adler auf der Brust und wir spielen für den FC Bundestag – da spielt die parteiliche Herkunft keine Rolle mehr. Nur noch die Aufgabe auf dem Platz.
Ganz stimmt es nicht. Sie haben gerade eine Diskussion über ihre AfD-Mitglieder geführt und sie vom Spielbetrieb ausgeschlossen.
Ja, wir haben eine sehr offene Diskussion zum Umgang mit den Kollegen aus der Fraktion der AfD geführt. Angestoßen allerdings von außen, aus dem Sport. Die haben uns gesagt: Leute, wir haben eine ganz klare Compliance, wir spielen nicht mit Rassisten. Wieso tut ihr das?
Und?
Aus meiner Sicht hat die Diskussion beim FC Bundestag schon viel zu lange gedauert, und es ist die richtige Entscheidung, dass wir es offen und übrigens mit der Beteiligung der AfD-Kollegen, diskutiert haben. Es war kein Tribunal, keine Gerichtsverhandlung. Aber ich würde ja auch nie einen AfD-Abgeordneten in meine Sitzung oder zu meiner Partei einladen, weil ich der Meinung bin, dass er in einer Gemeinschaft ist, die zutiefst rechtsextreme Werte verkörpert. Der Weckruf waren diese gesellschaftliche Diskussion, die Tausende Menschen, die gegen Rechts auf die Straße gegangen sind, und die Tatsache, dass wir eine Reihe von Mannschaften hatten, die nicht mehr gegen uns spielen wollten, wenn wir einen AfD-Abgeordneten auf dem Platz haben.
Wie hat die Mannschaft reagiert?
Es ist eine große Erleichterung durch die Mannschaft gegangen und eine große Erleichterung durch die Riege derer, die mit uns spielen wollen.
Was erwarten Sie sich von der Fußball-EM?
Alles. Es ist Fußball. Mit anderen Worten gesprochen: Das wichtigste auf der Welt (lacht).
Ihr Tipp?
Wir werden Europameister. Ich sehe eine Mannschaft, die ihre Differenzen beiseitegelegt hat. Da menschelt es. Ich erwarte, dass diese Jungs, die den Adler auf der Brust tragen, wissen, dass sie es nicht für Geld tun, nicht für Sponsoren, nicht für sich selber und ihre Karriere, sie tun es für mehr als 80 Millionen Menschen und sie tun es für Millionen von Kindern, die ihnen nacheifern wollen. Und ich erwarte von ihnen, dass sie gute Vorbilder sind, was Werte und Anstand angeht. Und auch was den Erfolg angeht.
Das Spiel des FC Bundestags gegen ein Auswahl-Team aus Menschen des Bundesprogrammes „Integration durch Sport“ findet am 14. Mai 2024 in Berlin statt.
(Quelle: DOSB)