Zwischen Mythos und Modell

„Migrantensportverein“, was ist das? Die Frage kennt keine objektive Antwort. Klar ist: Keiner dieser Vereine gleicht dem anderen.

Boxen ist bei Migrant/innen ein beliebter Vereinssport. Foto: LSB  NRW/Andrea Bowinkelmann
Boxen ist bei Migrant/innen ein beliebter Vereinssport. Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann

Es galt, ein Bild aus einer relativ groben Skizze zu zeichnen. Selbstorganisation von Migranten im Sport“: Unter diesem Titel  sollte der Sportsoziologe Silvester Stahl einem Thema auf den Grund gehen, das für  das DOSB-Programm „Integration durch Sport“ (IdS) wahrhaft bedeutend ist. Und das bisher viel diskutiert, aber wenig erforscht wurde. 

Nun hat Stahl, Göttinger Lehrbeauftragter, Ergebnisse vorgelegt. Eines hätte sich schon vorher sagen lassen: Sogenannte Migrantensportvereine sind der häufigste Ausdruck der Selbstorganisation. Die Frage war: Was meint diese Bezeichnung? Was verbindet diese Vereine und was trennt sie – voneinander wie von dritten? Woher kommen sie, wo stehen sie, wohin gehen sie? Darauf sollte die Aufarbeitung ebenso Antwort geben wie auf die entscheidende Frage: Welche dieser Vereine lassen sich für IdS gewinnen - und wie? In der Konzeption des Programms heißt es: „Migrantensportvereine führen zu einer Zunahme des Anteils von Migrant/-innen am vereinsorganisierten Sport.“ 

Kleiner, männlicher, geselliger 

Im Sportentwicklungsbericht 2009/10 des Bundesinstituts für Sportwissenschaft werden solche Vereine selbstorganisierte Migrantensportvereine genannt, deren Mitgliedschaft und Vorstand zu mindestens 75 Prozent aus Migranten bestehen. Das waren 0,6 Prozent der (online) befragten Vereine. Der Auswertung zufolge ist Folgendes typisch für sie:

  • eine relativ geringe Mitgliederstärke (Mittelwert 78 Mitglieder gegenüber 371 bei anderen Vereinen)
  • Konzentration auf eine Sparte (im Mittel rund 80 gegenüber etwa 60 Prozent) und insgesamt auf Fußball
  • ein hoher Männeranteil unter den Mitgliedern (Durchschnittsanteil 90 gegenüber circa 62 Prozent)
  • eine Dominanz der 19- bis 40-Jährigen unter den Mitgliedern (Durchschnittsanteil 63,5 gegenüber 28 Prozent)

In ihrer Philosophie betonen diese Vereine unter anderem:

  • Gemeinschaft und Geselligkeit
  • die Pflege von Tradition
  • den Anspruch Jugendliche von der Straße zu holen
  • den Willen, möglichst vielen Bevölkerungsgruppen Sport anzubieten


Die heikle Begriffsfrage 

Das Thema ist knifflig. Weil es der Begriff des (selbstorganisierten) „Migrantensportvereins“ ist, den Wissenschaft, Politik und DOSB verwenden. Nach Wahrnehmung von Şuayip Günler, Vorstandsmitglied beim IdS-Stützpunktverein SV Türkgücü Kassel, ist er - wie „Migrant“ - geeignet zu verfälschen und Gefühle von Ausgrenzung zu erzeugen (siehe Interview des Monats). 

Auch Stahl weist nunauf Vereine hin, die die Bezeichnung ablehnen, obwohl sie nach formalen Kriterien zutrifft. Das gelte insbesondere dort, wo Aussiedler das Bild prägen; sie sähen sich häufig nicht als „Migranten“. 

Das schafft ein Definitionsproblem. Denn welches sind die besagten Kriterien? Stahls Darstellung führt dreierlei an. Erstens hat der Großteil der Mitglieder einen Migrationshintergrund (nach Definition des statistischen Bundesamtes); zweitens werden entsprechende Vereine maßgeblich von Personen mit Migrationshintergrund organisiert; drittens stehen sie „in Selbstbild und Außenwahrnehmung mit dem Migrationshintergrund der Mitglieder in Zusammenhang“. 

Was also, wenn sich die Organisation nicht als „Migrantensportverein“ versteht, siehe oben? Oder wenn sie das nicht mehr tut? Viele einst von Migranten formierte Vereine haben im Lauf der Zeit ihren Ansatz, einige auch ihren Namen geändert. Stahl räumt ein: „Eine genaue Kategorisierung einzelner Vereine ist manchmal unmöglich und auch nicht immer zweckdienlich.“ 

Vier Typen

Theorie aber benötigt Typologie. Auch auf Kosten begrifflicher Unschärfe. So beschreibt Stahl (nicht ohne „Abgrenzungsschwierigkeiten“ zu betonen) vier Kategorien von Migrantensportvereinen. „Ethnische Sportvereine“, „Aussiedlersportvereine“, „Multiethnische Sportvereine“ und „Instrumentelle Integrationssportvereine“. Die letzte Gruppe ist quantitativ überschaubar – etwa 25 in Deutschland – und für das Programm insofern nicht zentral, als ihre Mitglieder von anderen Trägern unterstützt werden. 

Die mutmaßlich größte Kategorie (mit laut Stahl rund 500 Vertretern) bilden „ethnische Sportvereine“. Sie beziehen sich in ihrer Identität und teils im Namen auf die Herkunft der meisten Mitglieder und haben nicht selten „ein besonders intensives Vereinsleben“. Aus IdS-Perspektive gewähren sie theoretisch direkten Zielgruppenzugang, der praktisch von ihrem interkulturellen Drang abhängt. Ihn einzuschätzen erfordert einen genauen Blick. So verrät der SV Türkgücü Kassel  namentlich, bedingt auch in der Mitgliederkonstellation seine Tradition. Faktisch treibt er - mit einem Breitensportfußballturnier plus Stadtteilfest, in Kooperation mit Kindergärten und Schulen, zuletzt gar Zahnarztpraxen – soziale und kulturelle Integration voran. Kein Wunder, dass er seit 2010 Teil des Programms ist, als einer von etwa 25 ethnischen Vereinen. 

Besonders wichtig ist der genaue Blick laut Stahl bei „Tendenzvereinen“, eine Form ethnischer Sportvereine. Ihre „Tendenz“ ist weltanschaulich, sie stehen „einer politischen Bewegung oder einer Religionsgemeinschaft nah“, so die Handreichung. Mag damit hier organisatorische Abhängigkeit etwa von einer Partei und/oder ein Hang zur Abschottung verbunden sein, sagt das dort  nichts weiter aus. 

Edelweiß aus Geretsried

Vorsicht vor Verallgemeinerung: Dazu mahnt auch das Profil von Edelweiß Geretsried. Der 1999 gegründete, in der Aufarbeitung näher beschriebene Aussiedlersportverein arbeitet nahezu seit Entstehung an „Integration durch Sport“ mit. Man kann verstehen, dass Waleri Weinert den Begriff „Migrantensportverein“ nicht sehr schätzt. „Am Anfang waren wir nur Russlanddeutsche“, erzählt der Mann, der Trainer, pädagogischer Betreuer und Vorstand in einem ist und den mit Unterstützung der Stadt errichteten Sport- und Freizeittreff mitgebaut hat und selbst putzt. „Ich bin dann mit den Jungs durch die Stadt gezogen und wir haben Einheimische angesprochen, ob sie nicht mitmachen wollen.“ 

Heute zählt Edelweiß 165 Mitglieder zwischen 7 und 50 Jahre, 40 Prozent sind deutscher Herkunft - eine von 14 Nationalitäten. „Die Grenzen sind weg“, sagt Weinert, der im Team mit weiteren Ehrenamtlichen, darunter viele Migranten, allerlei sportliche und nichtsportliche Angebote organisiert. Fokus: Boxen. Weinert, Diplom-Pädagoge und vielfach lizenzierter Übungsleiter, bietet tägliches Training in zwei Gruppen an. Das international besetzte Geretsrieder Integrations-Boxturnier findet großen, auch medialen Widerhall. 

Der Akzent auf Kampf- und Kraftsport ist nach Stahls Untersuchung nicht untypisch für Aussiedlersportvereine, das intensive Vereinsleben von Edelweiß ebenso wenig; dass in Geretsried grundsätzlich Deutsch gesprochen wird (nicht russisch) ist es durchaus, und desgleichen die IdS-Mitarbeit: Von rund 40 im DOSB organisierten Aussiedlersportvereinen sind etwa 20 am Programm beteiligt. 

Offen Religiös

Prinzipiell scheinen auch multiethnische Sportvereine zur Integrationsarbeit prädestiniert. Nicht selten liegt in kultureller Begegnung ja ihr Gründungszweck. Ein anderer Teil hat seinen multiethnischen Charakter entwickelt: aus einer monoethnischen, nicht selten „deutschen“ Tradition heraus. „Von denjenigen Stützpunktvereinen des Programms, in denen Zuwanderer und Zuwanderinnen die Mitgliedermehrheit stellen, entsprechen viele diesem Vereinstyp oder kommen ihm zumindest recht nah“, heißt es in der Aufarbeitung. 

Einige Vereine sind multiethnisch, ohne dass dies ihre Identität ausmachte. Dazu zählt der SV Muslime Hamburg, 2008 von drei jungen Männern muslimischen Glaubens gegründet. Bis dato auf Männerfußball und -basketball konzentriert, bemüht er sich mit Unterstützung des IdS-Landesprogramm nun um den Aufbau einer Frauenabteilung. Der Verein spricht eindeutig, aber nicht ausschließlich Muslime jedweder Herkunft an und verlangt von seinen Mitgliedern ein Bekenntnis zu sportlicher Fairness. 

Der SV Muslime nennt sein Konzept „bisher einmalig“ in Deutschland. Sportsoziologe Stahl seinerseits erkennt Indizien für einen Trend. Muslimische Sportvereine spielten im deutschen Vereinssport – und womöglich für IdS - „zukünftig vielleicht eine deutlich größere Rolle, als dies bislang der Fall war“.

(Quelle: DOSB / Nicolas Richter)


  • Boxen ist bei Migrant/innen ein beliebter Vereinssport. Foto: LSB  NRW/Andrea Bowinkelmann
    Boxen ist bei Migrant/innen ein beliebter Vereinssport. Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann