Para- trifft ID-Judo beim inklusiven Judowochenende in Hamburg
Eine Vielzahl von Geschichten, die zeigen, wie sich Inklusion in den letzten Jahren entwickelt hat
18.11.2024
30 Teilnehmende im Alter von 12 bis 68 Jahren, davon zehn Menschen mit Seh- und sieben mit einer geistigen Behinderung. Dazu fünf Trainer*innen, darunter Welt- und Europameister*innen, Paralympics-Teilnehmende, sowie einer, der erst kürzlich bei den Paralympischen Spielen in Paris Bronze gewann: Lennart Sass. Das ergibt eine Vielzahl von Geschichten, die zeigen, wie wichtig Inklusion ist.
Lennart Sass ist seit einer Sehnenentzündung im Alter von 16 Jahren blind. Mit ihm zu kämpfen ist besonders für die jüngeren Judokas wie Sven Kilper vom SV Brakel ein besonderes Highlight des Wochenendes. Sven Kilper hat eine Lernbehinderung und trainiert Kinder als Helfer im eigenen Verein. Er sagt: „Wenn ich hier was mitnehme, kann ich den Kindern zuhause auch was zeigen.“ Aber auch die erfahrenen Judokas aus Wiesloch möchten gern ein Foto mit Lennart Sass machen. Michael arbeitet bei der Lebenshilfe und sucht neue Impulse. Lennart hat als Nordlicht, schon selbst in der Halle im Leistungssportzentrum in Hamburg trainiert. Für den Paralympics-Teilnehmer und Bronzemedaillengewinner stellt das Inklusive Judowochenende eine Herausforderung dar, die er bisher noch nicht kannte. Diese gemeinsam zu meistern, ist sein Ziel. Er stellt fest: „Es sind lustige Leute dabei!“
Para Judo und ID (intellectual disability)- Judo, also Judo für Menschen mit geistiger Behinderung, standen bislang eher in Konkurrenz, so Cornelia Claßen, DJB-Behindertensportreferentin ID Judo. „Das Wochenende ist komplettes Neuland,“ sagt sie – und es gelte Gemeinsamkeiten zu fördern.
Hier im Judo-Leistungszentrum passiert an diesem Wochenende etwas ganz Neues. Sebastian Junk, Event-Inklusionsmanager und DJB-Behindertensportreferent Para Judo beim Deutschen Judo-Bund hat das Treffen, das von der Aktion Mensch unterstützt wird, organisiert. Es geht darum, Gemeinsamkeiten zu fördern und die Werte des Judos zu leben. Diese stellt Nicholas Schäfer-Menchetti gleich zu Beginn am ersten Abend durch kleine Übungen vor: HÖFLICHKEIT, behandle die Menschen beim Judo wie Freunde, HILFSBEREITSCHAFT, Hilf deiner Partnerin oder deinem Partner beim Üben, EHRLICHKEIT. Kämpfe immer fair und ehrlich, ERNSTHAFTIGKEIT. Sei immer voll bei der Sache, RESPEKT. Sei freundlich und respektvoll, BESCHEIDENHEIT, WERTSCHÄTZUNG und Mut. Respekt, Ehrlichkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft all das spielt im Judo eine wichtige Rolle und wird hier auch gelebt.
Die Atmosphäre ist entspannt, locker und leicht. Die Werte des Judosports werden an diesem Wochenende nicht nur spielerisch vorgestellt, sondern auch von allen gelebt. Es gibt keine Berührungsängste und große Aufmerksamkeit und Unterstützung dort, wo sie gebraucht wird.
Für David Chan ist die Hauptsache, Körper und Geist gemeinsam weiter zu entwickeln. Einige Paare haben sich aufgrund ihrer Statur gleich am ersten Tag gefunden. Auffallend oft bestehen sie aus einem Partner mit Sehbehinderung und einem Partner mit geistiger Behinderung. Es kommt auch zu Missverständnissen, z.B. als ein junger Mann mit geistiger Behinderung sich immer wieder vor einem blinden Jungen verneigt und sich dann lauthals beschwert, dass dieser nicht reagiert. Gerade für dieses Verständnis sind Veranstaltungen wie diese, bei denen gemeinsam, von- und miteinander gelernt wird und Erfahrungen gesammelt werden, sehr wichtig.
Um Sehbehinderungen zu simulieren, werden auch hier Dunkelbrillen für einige Übungen aufgesetzt. So können alle einmal spüren, wie es ist, sich blind zu orientieren: Wo bin ich, wenn ich geworfen werde, wo stehe ich überhaupt zu meinem Partner. „Ich weiß nicht, ist der vorne, ist der hinten?“ so Peter Franz, Integrationsbeauftragter des Bayerischen Judo-Verbands. Konstruktive Kritik wird gehört: „Die Aufwärmübung war für blinde Teilnehmer schwer nachvollziehbar.“
Event-Inklusionsmanager Sebastian Junk ist das EVI-Projekt wichtig, um im Verband das Thema voranzubringen und Aufklärung zu betreiben, denn, so Junk: „Lass die Leute mal gegen die Wand laufen, das ist besser als sie in Watte zu packen.“ Auch Emirhan, er ist blind und hat, wie seine Begleitung Francine Polderl vom ESV Ludwigshafen berichtet, mit 13 schon in der U18 gekämpft, da es keine passende Altersgruppe gab, und ist dort Zweiter geworden, findet: „nicht viel nachdenken, sondern einfach machen!“
Darin sind sich auch Gertrud und Saskia einig. Sie finden, dass man sich trauen sollte. Ihre anfänglichen Bedenken haben die beiden Schülerinnen mit einer Sehbehinderung überwunden und sich vor einem bzw. vier Jahren zum Judo angemeldet. Wie Christian Zeilermeier vom Sportclub Charis 02, Weltmeister im Judo 1995, der sich vor vielen Jahren als Sehbehinderter für eine Veranstaltung angemeldet hat, die ausschließlich Menschen ohne Behinderungen vorbehalten war. Er kam auf den zweiten Platz. Noch während seiner aktiven Laufbahn als Wettkämpfer, wechselte er ins „Trainerfach“. Ein ganz besonderes persönliches Anliegen sind für ihn die Bereiche Integration und Inklusion im Sport.
In den letzten Jahren seit 1992 hat sich viel geändert. So gibt es inzwischen eigene Para-Prüfungsprogramme für unterschiedliche Gürtelfarben. „Der DJB war schon immer offen für Interessen und Wünsche,“ sagt Sebastian Junk anerkennend.
Das Experiment eines gemeinsames Para- und ID-Judowochenendes ist geglückt. Für gelebte Inklusion braucht es mehr solcher Veranstaltung wie die am letzten Wochenende in Hamburg – auch in andern Sportarten.
Das Projekt „Event-Inklusionsmanager*in im Sport“, kurz „EVI“ eröffnet Menschen mit Behinderungen mehr Chancen im Arbeitsmarkt Sport und sorgt für mehr Barrierefreiheit und Inklusion im Sport. Das EVI-Projekt wird aus den Mitteln des Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert.