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Sie sollen wachsen

Kickfair hat den Deutschen Engagementpreis erhalten. Lohn für eine Organisation, die die Möglichkeiten des Straßenfußballs ausschöpft. Und für eine Frau, die erfolgreich an Zukunft arbeitet.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

14.12.2012

Erfolg muss nicht der Erfolg von Marcel sein: Als Sechstklässler in der Hauptschule sah er sich nutzlos. Lebensgefühl: so jung und schon ohne Perspektive. Er kam zum Straßenfußball, stieg in ein Projekt ein, es ging aufwärts, und wie: mittlere Reife, Abitur mit 1,0, Aufnahme zur Pilotenausbildung durch die Lufthansa, einer von 350 unter 7000 Bewerbern.

Erfolg ist auch der Erfolg von Dzemo. Früher war er laut dem Vater schon mal „frech“, die Mutter sah „das Soziale“ eher nicht als seine Stärke. Heute ist er „Youth Leader“ bei KICKFAIR: ein junger Mensch (16), der als Mitglied eines Teams Spielorte für Turniere organisiert und noch jüngeren Menschen Fußball nach Toleranz-Regeln erklärt; der sich in Lehrerkonferenzen vorstellt, um die Wirkung eines Projekts darzulegen, bei dem – zum Beispiel – das Prinzip gilt: Tore der Jungs zählen nur, wenn ein Mädchen eines schießt. Wenn Dzemo von besserem Verständnis zwischen den Gruppen im heimischen Stadt- und Familienzentrum spricht, erscheint er selbst als Treiber und Zeuge dieser Entwicklung.

Marcel und Dzemo, solche Geschichten erzählt KICKFAIR. Zum Beispiel in Videos auf der Website. Steffi Biester erzählt solche Geschichten nicht – ist nicht ihre Art. Sie führt die Geschäfte der Einrichtung in Ostfildern, sie hat das Grundsätzliche im Blick, sie betont das Verfahren, das solche Geschichten begünstigt. „Wir trauen uns, jungen Menschen das Zepter in die Hand zu drücken“, sagt sie. Kürzlich wurde dieses Verfahren auf großer Bühne bestätigt. Im Deutschen Theater zu Berlin empfing KICKFAIR den Deutschen Engagementpreis 2012; als Gewinner im „Gemeinnützigen Dritten Sektor“, eine von sechs Kategorien des nicht dotierten, aber prestigestarken Wettbewerbs.

Vom Sport zur Bildung

Konkret empfing den Preis Steffi Biester. Sie hat KICKFAIR mit Co-Geschäftsführer Jochen Föll gegründet, sie gibt der etwas anderen Fußballorganisation mit ihrem Dutzend Voll- und Teilzeitmitarbeitern Impulse ebenso wie Gesicht und Stimme. Wobei man ihr glauben kann, wenn sie von flachen Hierarchien und enger Abstimmung mit Föll spricht. Die beiden arbeiten seit 2001 zusammen, sie scheinen so schwer trennbar wie KICKFAIR und das Konzept Straßenfußball für Toleranz, das das Duo nicht erfunden, aber entscheidend fortentwickelt hat.

Das begann bei der baden-württembergischen Landeskoordination von „Integration durch Sport“. Dort stieg die frühere Physiotherapeutin Biester nach Abschluss ihres Studiums ein – Sportwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Philosophie. Und dort nahm sie, etwa zeitgleich mit den IdS-Kollegen in Brandenburg, „Straßenfußball für Toleranz“ ins Programm auf. „Mit der Zeit stellten wir fest, dass das Konzept interkulturelle Begegnung ermöglicht, aber auch umfassendes soziales Lernen einleiten kann“, sagt Steffi Biester. Im Jahr 2007 folgte die Gründung von KICKFAIR, eng abgestimmt mit dem DOSB respektive IdS, die heute zu den wichtigsten Partnern gehören.

Den Wurzeln zum Trotz: KICKFAIR, Steffi Biester sagt das sanft, aber bestimmt, ist mehr Bildungs- denn Sportakteur. „Die Methode Straßenfußball für Toleranz ist natürlich zentral für uns, aber sie eröffnet nur den Zugang zu den Jugendlichen. Unsere wesentliche Arbeit  besteht darin, die im Spiel entstehenden Lernmomente anschließend zu wiederholen und zu vertiefen, abseits des Fußballs.“

Laut einer Evaluation der Uni Tübingen von 2011 erreichen KICKFAIR-Projekte bundesweit rund 5000 Kinder und Jugendliche im Jahr. 100 bis 120 davon werden später Mentoren oder „Youth Leader“ an einem der über 40 Straßenfußball-Standorte, die KICKFAIR mit Vereinen, Schulen, Kommunen unter dem Projektnamen „Kickformore“ aufgebaut hat. Einige werden zunächst  als „Teamer“ tätig, die beim Straßenfußball an die Stelle von Schiedsrichtern treten (siehe Opens external link in new windowTdM Oktober, Opens external link in new windowAus den Ländern), später bauen sie – unter Betreuung durch KICKFAIR – vielleicht selbst etwas auf, ob in einem Verein, in der Schule, als Ausbilder jüngerer Teamer oder als Youth Leader, der ein Turnier organisiert und so sich und den Straßenfußball im kommunalen Umfeld verankert.

Kickformore und mehr

Steffi Biester bildet manchmal lange Sätze, wiederholt etwas, beides hat nichts mit erhöhtem Mitteilungsbedürfnis zu tun. Sondern mit ihrer komplexen Arbeit, mit ihrem Verständnis von sozialem Lernen, das für sie ebenso umfasst, „auf ein Ziel hin zu arbeiten wie eine Excel-Tabelle zu gestalten“. Nicht zu reden vom Nächstliegenden: Kommunikation, Fairness, Respekt et cetera. Die Spannbreite spiegelt sich in den Handlungsleitfäden, die KICKFAIR für Projektpartner entwickelt hat: Straßenfußball als Lernbasis für Mediation, Partzipation oder Demokratieverständnis, aber auch für Organisation und strategisches Denken.

Denn KICKFAIR ist viel mehr als „Kickformore“, als örtliche Straßenfußball-Netzwerke. Man kann sich die primär staatlich und durch Stiftungsgelder finanzierte Organisation als Libero im sozialen Raum vorstellen: Anspielstation für alle, die Lernen fürs Leben intuitiv statt kognitiv angehen wollen. „Viele unserer Partner sagen uns, dass sie mit Straßenfußball Jugendliche erreichen, an die sie vorher nicht herankamen“, sagt Biester. Das Problem liegt darin, dieses Potenzial zu vermitteln: dass Fußballspielen mit Zugabe – auf Dauer – so tief greifen kann.

Aber, wie angedeutet: Projektangebot und Nachfrage wachsen. Mit „Fußball Lernen Global“ spricht KICKFAIR Schulen an, bildet Lehrer aus oder erstellt Unterrichtsmaterialien. In „Internationale Lernkooperationen“ sucht der Verein Austausch mit Straßenfußballpartnern weltweit – auf Augenhöhe, wie Biester betont, auch KICKFAIR muss und will lernen, sich entwickeln. Vermehrt ist man zudem als Berater tätig, für Kommunen, Jugendeinrichtungen, Unternehmen; und man kooperiert modellhaft mit dem Jobcenter Esslingen: Straßenfußball für Toleranz soll jungen Menschen den Übergang in den Beruf erleichtern.

So viel zu tun, so viel zu planen, zu verwalten. Wenn sich Steffi Biester als „Managerin“ beschreibt, spricht sie offen vom Bedauern, kaum noch in den Projekten wirken zu können. Sie versucht das durch engen Kontakt zu den Mitarbeitern im Großraumbüro zu kompensieren. Dort gingen auch Youth Leader ein und aus, sagt sie. Man stellt sich einen fröhlich grüßenden Dzemo vor und denkt sich: Was für ein Lohn für eine Frau, die das Sinnstitftende ihrer Arbeit so auf den Punkt bringt: „Jugendliche wachsen zu sehen“.

(Quelle: DOSB / Nicolas Richter)

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