Zum 1. September übernimmt der 56-jährige Schwabe die Leitung des Londoner Victoria and Albert Museums. Marcus Meyer und Jörg Stratmann haben mit Martin Roth ein Interview für das DOSB-Magazin "Faktor Sport" geführt. Das Gespräch kreist um Olympische Spiele, die wie kulturelle Transmissionsriemen wirken, sportliche Länderausstellungen und problematisches Quotendenken:
Herr Roth, Sie haben sich eine Menge Kritik für ihre Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ in Peking eingefangen. Unter anderem wurde Ihnen der Vorwurf gemacht, Sie würden sich der chinesischen Regierung anbiedern. Hat Sie die heftige Reaktion überrascht?
Martin Roth: Dass es Ärger und Streit geben würde, war nicht besonders überraschend. Aber dass es einen so persönlichen Charakter erhält, das schon. Vor allem, weil ich in der "Zeit" vorsätzlich falsch zitiert worden bin. Eine ganz eigene Erfahrung. Meine 14-jährige Tochter ...
... leidet jetzt in der Schule.
Nö, davor bewahrt sie schon ihr Freundeskreis. Na ja, sie sagte auf jeden Fall, dass es an „die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (Erzählung von Heinrich Böll, die Red.) erinnere. Ich war ganz erstaunt, das man mit 14 diese Thematik kennt, aber das passte: Einer wirft eine Münze hoch und alle anderen schießen drauf. Glücklicherweise habe ich sehr viel Zuspruch aus der Politik und von vielen Privatpersonen bekommen.
Das IOC sah sich wegen der Menschrechtsfrage in China zu den Olympischen Spielen in Peking 2008 gleichfalls Vorwürfen ausgesetzt. Sehen Sie Parallelen?
Immer, wenn man sich auf ein neues und unsicheres Feld begibt und sich damit in die Öffentlichkeit wagt, entstehen solche Diskussionen. Das ist berechtigt, und in diesem Punkt sind Kultur und Sport ganz nah beieinander.
Wo sehen Sie die Berührungspunkte?
Ob wir Bilder ausstellen und sich jemanden daran erfreuen lassen, oder ob wir jemanden zum Sport animieren. Es geht zunächst darum, dass man Menschen zusammenbringt.Bei beiden ist es ein Bildungsauftrag. In dem einen Fall nur etwas körperbetonter.
Manche Medien sehen mehr die politische Aussage als den Bildungsauftrag.
In öffentlichen Diskussionen im Westen wird immer schnell verurteilt, einfach Meinungen und nicht Fakten präsentiert. Zum Beispiel bei China. Da befinden Menschen, die das Land nicht kennen, pauschal darüber, was für die Bevölkerung gut sei: nämlich, dass sich bloß keiner von außen den Machthabern annähert, dass man sich abschotten soll. Aus meiner Sicht ist es aber wenig sinnvoll, 1,3 Milliarden Menschen über einen Kamm zu scheren. Ich höre in China ganz oft, dass die Leute sagen: Wir sind neugierig, wir sind bildungshungrig. Also muss man auf sie zugehen, auch wenn das eine Kooperation mit der Regierung bedeutet - es geht einfach auch nicht anders.
Der Sport will aber nicht politisch sein.
Jeder öffentliche Ausdruck hat eine Botschaft, und diese ist bis zu einem gewissen Grad politisch, das läßt sich doch gar nicht vermeiden. Das ist die gesellschaftliche Dimension von Sport und Kultur: Ein bisschen mehr davon erfahren, was der andere macht, und wenn der eine in Isfahan und der andere in Rosenheim lebt, haben Sie automatisch eine politische Spannung zu überwinden.
Es schlägt also ungewollt in diese Richtung Brücken.
Ja. Und es gibt nicht viele Bereiche in der Gesellschaft, die das für sich in Anspruch nehmen können. Ich glaube einfach daran, dass Begegnungen von Menschen etwas in Gang setzen. Wenn Regierungen – wie in China – im Zusammenhang mit einer Ausstellung oder einem Sportevent die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen; selbst dann ist es noch möglich, viele Menschen zu sensibilisieren und auf die Menschrechtssituation in diesem Land aufmerksam zu machen. Dadurch entstehen dynamische Prozesse und die sind besser als eine reine Blockadehaltung. Das ist in jedem Verein, jeder Ehe, jeder Beziehung oder WG so: Sobald man nicht mehr miteinander redet, ist es aus (lacht). Wie sagte Herbert Wehner schon? „Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen, Sie Grünschnabel.“
Gilt das auch für eine Fußball-WM in Katar?
Ich finde es zwar sportlich absurd, dort Fußball zu spielen, aber klasse, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass es keine Ränder mehr gibt in unserer globalisierten Gesellschaft – und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell.
Und wenn sich eine Regierung mit einer Ausstellung, einer Fußball-WM oder den Olympischen Spielen brüstet?
Na und? Soll man deshalb nicht mehr für die Menschen da sein? Ich hab’s schon gesagt: Menschen zusammenzubringen, das begreife ich als unseren Auftrag – vor allem vor unserem geschichtlichen Hintergrund. Dieser Anspruch bezieht sich auf Kultur und Sport gleichermaßen. Vor den Olympischen Spielen in Peking haben wir eine Gerhard-Richter-Ausstellung initiiert, die sogar den Weg ins offizielle Rahmenprogramm fand.
Stand die Ausstellung in direktem Bezug zu den Spielen?
Ja, das war beabsichtigt. Allerdings lautet eine meiner Maximen: Mach’ nie eine Ausstellung während eines sportlichen Großereignisses. Sie geht meistens unter. 2010 in Vancouver lief es anders. Da haben wir einen Vertrag mit einer First Nation, einem Indianerstamm für ein Projekt unterzeichnet, das wir erst Anfang Mai dieses Jahres in Vancouver Island und hier in Dresden eröffnet haben: Eine Potlatsch-Ausstellung (Geschenktradition der Ureinwohner Kanadas, die Red.). Dass der Vertrag während der Olympischen Spiele unterzeichnet wurde und die Designerin der Ausstellung die Gestalterin der Medaillen ist, Corinne Hunt, hat uns Öffentlichkeit gebracht. Sport war in diesem Fall der Transmissionsriemen für die Kultur – zum Nutzen beider Seiten.
Ist Ihnen im Zusammenhang mit Ihrem Wechsel an die Spitze des Victoria and Albert Museums schon aufgefallen, dass im kommenden Jahr in London die Olympischen Spiele ausgetragen werden?
Na klar, das war einer der Gründe, weshalb ich zugesagt habe. Ganz ehrlich (lacht).
Inwieweit wird es Sie betreffen?
Es ist eine tolle Geschichte. Die Kultur und damit auch das V&A werden davon profitieren, dass das Gebiet rund um die Exhibition Road zu einem großen Kulturdistrikt umgebaut wird. Hier ist die Sportveranstaltung wieder so ein Transmissionsriemen und Impulsgeber. Ausstellungen über englisches Design begleiten die Spiele. Es wird für mich natürlich eine Herausforderung sein, als Anfänger in England Direktor des Nationalmuseums zu sein. Und das als Deutscher.
Man kann seit einigen Jahren bei Ausstellungen eine Entwicklung zur Eventisierung feststellen. Es geht nicht mehr allein um Inhalte, sondern auch um das Begleitprogramm, wie im Sport. Verändert das die Kunst beziehungsweise deren Wahrnehmung?
Schwierige Frage: Ich glaube, dass es neue Zielgruppen erschließt und die Leute dazu bringt, sich überhaupt mit Kunst zu beschäftigen. Die Besucherzahlen in den Museen sind in den vergangenen 20 Jahren stetig gestiegen. Wir haben mehr Gäste als die Fußball-Bundesliga.
Sind die Beweggründe für einen Besuch nicht wichtiger als Zahlen?
Ich bin zunächst froh über jeden Besucher, der kommt auch wenn er keinen inhaltlichen Anspruch hat: Man muss nicht etwas über Rubens wissen; wenn man zum Flirten oder Kaffee trinken ins Museum geht, ist das auch okay. Ich treffe immer wieder Leute, die mir erzählen, dass sie ihren Partner im Museum kennengelernt hätten. Blinddate in einer Ausstellung (lacht). Das find’ ich super.
Hat die Kultur vom Sport profitiert, weil in Stadien zuerst ein neues Freizeit- und Konsumverhalten eingeübt wurden?
Ich glaube, es handelt sich eher um eine Parallelentwicklung... Aber Sie stellen echt gute Fragen (lacht). Vielleicht treffen wir uns in 14 Tagen wieder, dann kann ich in der Zwischenzeit darüber nachdenken... Die Sozialisierung der Menschen hat sich geändert. Früher war es kleinkarierter, enger im Denken, die Abneigung gegenüber neuen Entwicklungen und alternativen Lebensformen war groß: Denken sie an die 68er-Bewegung oder die Rockmusik. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, ich bin in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen.
Die Gesellschaft hat sich geöffnet.
Aber es gibt auch eine gegenläufige Bewegung: Einerseits schreitet die Individualisierung der Menschen voran, andererseits gibt es den Trend, in der Menge mitzugehen, zu Massenevents zu pilgern und darin aufzugehen. Dieser Entwicklung zum großen Gemeinschaftserlebnis darf sich die Kunst nicht verschließen. Es sollte am Ende nur nicht alles gleich sein, man muss schon noch wissen, ob man vor einem Peter Paul Rubens oder einem Neo Rauch steht.
Alle stürmen in die große Van Gogh-, Caravaggio- oder Andy Warhol-Ausstellung. Sehen Sie in dieser Schwerpunktsetzung auch eine Gefahr für die Vielfalt der Kunst? Der Sport leidet durchaus darunter.
Ich kenne das Quotendenken natürlich und finde es problematisch, dass etwas nur ein Erfolg ist, wenn es im Fernsehen auftaucht oder so und so viele Besucher hat. Da wird die mediale Durchsetzungskraft mit Qualität verwechselt. Das ist das Risiko. Andererseits: Das Beste, was passieren kann, ist, wenn man es tatsächlich in die TV-Nachrichten schafft. Gestern war ich um 15 Uhr in den Nachrichten und dann in der Wiederholung noch einmal um Mitternacht. Sie glauben gar nicht, wer alles zu dieser Zeit Fern sieht und sich bei mir gemeldet hat.
Wenn man WMs, EMs und oder Olympische Spiele als Länderausstellungen begreift; was glauben Sie, kann man darüber transportieren?
Ganz klassisch: Völkerverständigung. Auch wenn der Begriff heute nicht mehr angesagt ist. Sie können soviel sie wollen über Facebook und Twitter kommunizieren, am Ende kommt es darauf an, dass man sich gegenübersteht. Es braucht die direkte Begegnung und Berührung.
Müsste es in diesem Zusammenhang eine stärkere Verzahnung von Sport und Kultur geben? Eine, die eine nationale Identität vermittelt,
ohne sich darauf zu beschränken, dass man gut feiern kann?
Der Austausch könnte meiner Ansicht nach intensiver und ehrlicher sein als in der Vergangenheit. Das Kulturprogramm darf für Sportveranstalter nicht nur Alibifunktion haben; es muss Eigenständigkeit gegenüber den Spielplänen besitzen und sollte sozial verankert sein, damit es nicht allein auf der Oberfläche wirkt. Einer meiner Mitarbeiter in der Generaldirektion, Ahmed Ben Ali, marokkanischer Herkunft, der übrigens Sport studiert hat, kommt aus einer No-go-Area in Essen. Da muss man hingehen. Nicht nur auf den Opernplatz in der Frankfurter Innenstadt. Das ist wirklichkeitssicher. So wie beim Kulturprogramm André Hellers zur WM 2006. Das funkelte und glänzte zwar, aber mutig experimentiert hat er nicht.
Der Kunstvermittler
Die berufliche Sozialisation von Martin Roth ist eng ans Museum geknüpft. Schon seine Promotion 1987 an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen hatte die Geschichte des kulturhistorischen Museums zum Thema. Forschungsaufenthalte am Deutschen Historischen Institut in Paris und eine wissenschaftliche Mitarbeit im deutschen Historischen Museum Berlin folgten. Kurz nach der Wende übernahm Roth die Leitung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden. Von 1996 bis 2000 arbeitete er im Management der Expo 2000 in Hannover, ehe er im Herbst 2001 zum Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ernannt wurde.
Roth gilt als moderner Museumsdirektor, der sich um Strukturen, Organisation und Finanzen kümmert und den Künstlern freie Hand lässt. Für die Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ in Peking, musste sich der 56-Jährige nach der Verhaftung des Menschenrechtlers Ai Weiwei im Frühjahr heftiger Kritik erwehren. Zum 1. September wird der Schwabe die Leitung des Londoner Victoria and Albert Museums übernehmen. Roth ist seit Dezember 2010 Persönliches Mitglied des DOSB.
Das Interview erschien in der zweiten Ausgabe 2011 von "Faktor Sport"