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Anna-Laethisia Schimek: Zwei Karrieren für das „zweite Leben"

Vor sieben Jahren erlitt Deutschlands schnellste Inlineskaterin einen Herzstillstand. Dass sie heute darum kämpfen kann, nicht nur auf Rollen, sondern auch auf dem Eis im Weltcup zu starten, ist eine Folge ihrer neuen Einstellung zum Leben.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

11.11.2025

Eine Inlineskaterin in Aktion
Anna-Laethisia Schimek war 2016 mit der 5.000-Meter-Staffel Weltmeisterin und holte siebenmal EM-Gold.

Einige der Narben, die den Tag markieren, an dem sich ihr Leben in das Davor und das Danach teilt, sieht man nicht. Sie trägt sie in sich, auf der Brustaorta und der Lunge. Aber all das, was sie bewirkt haben, wird Anna-Laethisia Schimek mit sich und nach außen tragen, ihr Leben lang. Gerade in Zeiten wie den vergangenen Wochen, in denen es das Schicksal wieder einmal nicht so richtig gut meint mit der 32-Jährigen, hilft ihr die Beschäftigung mit der Vergangenheit. „Ich kann dann trotz Enttäuschung wertschätzen, dass ich überhaupt in der Lage bin, meine Ziele im Leistungssport zu verfolgen, denn das hätte auch ganz anders ausgehen können“, sagt sie.

Es war der 26. Oktober 2018, an dem die Team-Deutschland-Athletin auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod wanderte. Nach einer komplizierten Operation am Schlüsselbein, die zunächst einen Lungenkollaps nach sich gezogen hatte, erholte sich die beste deutsche Speedskaterin in ihrer Heimat Groß-Umstadt im Odenwald, als sich ihr Zustand zusehends verschlechterte. „Ich konnte die Symptome nicht deuten. Mir war richtig kalt, trotzdem habe ich geschwitzt wie noch nie und hatte zudem Halsschmerzen“, erinnert sie sich. Das Gefühl, bewusstlos zu werden, verstärkte sich, so dass sie ihren Bruder, der glücklicherweise im Haus war, darum bat, einen Rettungswagen zu rufen. 

Den herbeigeeilten Sanitätern gelang es nicht, den Kreislauf zu stabilisieren, weil sich kaum noch Blut in Armen und Beinen befand. Den Grund dafür entdeckten die Ärzte erst im Frankfurter Uniklinikum, in das Anna-Laethisia Schimek per Helikopter eingeliefert wurde: Ein Operationsdraht hatte sich aus der Schulter gelöst, war durch die Brustaorta gewandert, hatte diese und die Lunge perforiert. Das austretende Blut war in den Herzbeutel gelaufen und hatte den Herzmuskel derart komprimiert, dass dieser unter der Last seinen Dienst versagte. In einer Notoperation konnten die Perforationen geschlossen und das Herz-Kreislauf-System reanimiert werden.

In der Reha musste sie wieder Stehen und Laufen lernen

Nach einwöchigem Krankenhausaufenthalt und einer einmonatigen Reha, in der sich die Hessin mühsam das normale Atmen, Stehen und Laufen wieder aneignete, durfte sie sich im Frühjahr 2019 langsam an Belastung herantasten. Acht Monate nach dem schweren Unfall startete sie bei der Speedskating-EM in Pamplona (Spanien) und gewann im 500-Meter-Sprint sogar die Bronzemedaille. „Wie ich das geschafft habe, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte einfach eine so große Lust und Zuversicht, dass ich mich durch nichts habe stoppen lassen“, sagt sie rückblickend.

Der Körper schien also geheilt, die Psyche jedoch konnte mit der Sprintgeschwindigkeit nicht mithalten. „Ich fühlte mich komplett von meinem Körper entfremdet und hatte kein Vertrauen mehr. Es kam mir vor, als hätte er mich im Stich gelassen“, sagt Anna-Laethisia Schimek. Vor dem schlimmen Rückschlag hatte sie sich stets eingeredet, dass Erschöpfung nichts sei, was in ihrem Kosmos Platz finden solle. „Ich war erbarmungslos mit meinem Körper und nur darauf fixiert, bestmögliche Leistung zu bringen und meine Grenzen immer weiter zu verschieben. Mein Selbstwertgefühl hing an Medaillen. Deshalb habe ich nach dem Unglück auch erst verstehen lernen müssen, warum ich so viel Liebe bekomme, obwohl ich nicht in der Lage war, etwas dafür zu leisten“, sagt sie.

Die Angst vor dem Alleinsein beschäftigte sie mehrere Monate

Wer heute mit Anna-Laethisia Schimek spricht, kann sich nur schwer diese verbissene, auf das gnadenlose Trimmen des eigenen Körpers ausgerichtete Athletin vorstellen, die sie gewesen zu sein meint. Im rund 75 Minuten langen Gespräch lacht sie so häufig ausgelassen wie die meisten Menschen binnen einer Woche nicht. Zu erleben ist eine Frau, die mit ihrem Leben im Reinen scheint. Der Weg dahin jedoch sei ein harter gewesen, sagt sie. „Nach der Operation am Brustbein und am Herzen bildeten sich starke Ängste aus. Natürlich vor allem davor, dass das wieder passieren und dann niemand da sein könnte, um mir zu helfen.“ Allein in einem Zimmer zu sein oder in der Abgeschiedenheit spazieren zu gehen, fiel ihr lange Zeit schwer. „Ich bin immer mit dem Handy in der Hand eingeschlafen. Der Akku meines Telefons war immer geladen, um in der Lage zu sein, einen Notruf abzusetzen.“

Zwar versuchte ihr Partner Constantin, selbst ambitionierter Mountainbiker, mit offenem Ohr und starken Armen Unterstützung zu geben. „Wir sind in dieser Zeit unglaublich zusammengewachsen, er hatte es sehr schwer mit mir und war dennoch absolut geduldig. Aber in den Nächten, in denen ich in der Reha im Einzelzimmer lag, konnte auch er nicht bei mir sein und helfen.“ Dennoch habe sie die Reha als „Crashkurs in Angstbewältigung“ wahrgenommen. „Es ist ein Lernprozess, wenn man zum Alleinsein gezwungen wird“, sagt sie.

  • Anna-Laethisia Schimek

    Ich bin liebevoller mit meinem Körper geworden. Ich war zu lange nicht dankbar genug dafür, dass er alles tut, um gesund zu bleiben, und habe viele Signale nicht umgesetzt, die er gesendet hat. Es sind viele Denkmuster aufgebrochen, die mich schon vor dem Unfall geplagt haben, ich habe einige Glaubenssätze verändert und fühle mich heute freier.

    Anna-Laethisia Schimek
    Speedskaterin und Eisschnellläuferin
    Team Deutschland

    Nach und nach, mit der Hilfe von psychologischen Expert*innen und ihrem familiären Umfeld, gelang es Anna-Laethisia Schimek, die meisten Ängste wieder zu verlernen. Am längsten begleiteten sie die Flashbacks, die Sirenengeheul oder das Geräusch eines Helikopters verursachten. Ihr letzter nennenswerter psychischer Einbruch liegt mittlerweile drei Jahre zurück. „Deshalb glaube ich, dass ich das Unglück mittlerweile verarbeitet habe“, sagt sie. Geblieben sind vor allem Dankbarkeit dafür, überlebt zu haben, und eine positive Einstellung zum Leben generell. „Ich bin liebevoller mit meinem Körper geworden. Ich war zu lange nicht dankbar genug dafür, dass er alles tut, um gesund zu bleiben, und habe viele Signale nicht umgesetzt, die er gesendet hat. Es sind viele Denkmuster aufgebrochen, die mich schon vor dem Unfall geplagt haben, ich habe einige Glaubenssätze verändert und fühle mich heute freier“, sagt sie.

    Drei, vier Tage habe sie nach der Operation nicht an Leistungssport gedacht. Dann machte ihr der behandelnde Arzt im Gespräch Mut, dass sie es zumindest physisch wieder in die Weltspitze schaffen könne. „Das war der Moment, in dem mir klar war, dass ich zurückkehren wollte. Selbst wenn es fünf Jahre gedauert hätte, hatte ich damit immerhin wieder ein Ziel“, sagt sie. Dazu kam, dass ihr damaliger - und aktueller - Arbeitgeber, die Landespolizei Hessen, sie bedingungslos unterstützte. „Ich war damals noch nicht auf Lebenszeit verbeamtet, aber ich habe regelmäßig mein Gehalt bekommen und alle Freiheit, wieder komplett gesund zu werden. Dafür bin ich bis heute dankbar“, sagt sie.

    Vor drei Jahren startete sie in Berlin ihre Eisschnelllauf-Karriere

    Die Frage, wie sich ihre sportliche Karriere ohne die Nahtoderfahrung („Ich habe wirklich meinen Körper von oben auf dem Operationstisch liegen sehen“) entwickelt hätte, ist eine hypothetische. Fakt ist, dass sich Anna-Laethisia Schimek seit dem Schicksalstag im Oktober 2018 bewusst und mit dem Mut zum Risiko Neuem öffnet. Deshalb folgte sie vor drei Jahren auch dem Angebot des damaligen Speedskating-Bundestrainers Alexis Contin, der auch als Stützpunkttrainer am Berliner Eisschnelllauf-Leistungszentrum in Hohenschönhausen tätig war, sich in der Wintersaison im Eisschnelllauf zu versuchen. „Ich hatte gespürt, dass ich im Inlineskating ein wenig stagnierte. Ich brauche Veränderung, um mich zu entwickeln und zu verbessern, da kam das Angebot genau richtig.“

    Als Laie könnte man meinen, dass Inlineskating und Eisschnelllauf dermaßen artverwandt sind, dass der Wechsel zwischen den beiden problemlos funktioniert. Falsch gemeint, sagt Anna-Laethisia Schimek. „Von außen sieht es viel ähnlicher aus, als es ist. Es sind zwei sehr unterschiedliche Sportarten, Eisschnelllauf ist super technisch. Jedes Timing muss sitzen, damit man die im Sprint notwendige Geschwindigkeit erreicht. Eine Kufe fühlt sich ganz anders an als Rollen, die fast jeden technischen Fehler verzeihen. Auf dem Eis kostet jeder kleine Patzer Geschwindigkeit“, sagt sie.

    Mit diesen Widrigkeiten hat Anna-Laethisia Schimek nun zu kämpfen. Nachdem sie bei den World Games, den Weltspielen der nicht-olympischen Sportarten, auf Inlineskates Mitte August in Chengdu (China) Bronze über die Distanz „One Lap“ holte und über 1.000 Meter als Vierte ganz knapp am Podium vorbeischrammte, war die Hoffnung groß, es in der anstehenden Wintersaison 2025/26 ins deutsche Aufgebot für den Eisschnelllauf-Weltcup zu schaffen, der an diesem Wochenende in Salt Lake City (USA) beginnt. Als jedoch im Rahmen der Deutschen Meisterschaften in Inzell Ende September die interne Qualifikation anstand, musste sie an Corona erkrankt aussetzen und verpasste die erste Chance. „Ob es eine zweite gibt, ist derzeit unklar, mir bleibt also nichts anderes, um am Stützpunkt in Hohenschönhausen zu trainieren und bereit zu sein, wenn sich eine neue Gelegenheit ergibt. Anfang Januar will ich wieder vollkommen fit sein“, sagt sie.

    Teilnahme an Olympischen Spielen bleibt ihr großer Traum

    Sie sagt es mit einem Lächeln, denn auch wenn der Ärger über das Virus groß war, lässt sich Anna-Laethisia Schimek von derlei Unwägbarkeiten die Laune nicht mehr verhageln. Das Speedskating, mit dem sie mit eineinhalb Jahren bei ihrem Heimatverein Blau-Gelb Groß-Gerau begann, weil auch ihre Brüder Inlineskating betrieben, komplett hinter sich zu lassen, war und ist keine Option, „das kriegt niemand mehr aus mir heraus, da ist mein Herz zu Hause, da will ich immer wieder hin.“ Im Sommer 2026 ist die WM in Paraguay ihr Ziel.

    Ihr Traum aber, das bleibt die Teilnahme an Olympischen Spielen, und weil das auf Rollen aktuell nicht möglich ist, verfolgt sie ihre zweite Karriere auf dem Eis mit hoher Intensität. Auf den Sprintdistanzen über 500 und 1.000 Meter will die Athletin, die auf dem Eis für den OEC Frankfurt startet, nachhaltig zu einer Option für das Nationalteam werden. „Auf der einen Seite sagt mein Ego: Wie kannst du so schlecht sein und es nicht in den Weltcup schaffen? Auf der anderen Seite bin ich einfach dankbar dafür, von unten anfangen und so große Fortschritte machen zu können“, sagt sie.

    Im kommenden Jahr erscheinen in der dtv Verlagsgesellschaft ihre Memoiren. Anna-Laethisia Schimek hat sie komplett selbst geschrieben, „das war eine Art der Verarbeitung, die mir gut getan hat.“ Die Nachwirkungen ihres Weges zurück ins Leben mögen damit abgeschlossen sein. Die letzten sportlichen Kapitel aber, die wollen noch geschrieben werden. Und wer ihre Geschichte kennt, wird kaum daran zweifeln, dass das Ganze auf ein weiteres Happy End zusteuert.

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