Der WM-Titel als Eintrittskarte zum Kreis der Elite
Vor dem Start der Weltcupsaison reflektiert Schwimm-Weltmeisterin Anna Elendt ihren WM-Triumph, erklärt die Vorteile ihres Trainings in den USA und sagt, was sie verändern möchte, um 2028 in Los Angeles um eine Olympiamedaille kämpfen zu können.

06.10.2025

Ob es wirklich eine gute Idee ist, Ende dieser Woche die Reise nach Indiana anzutreten, das wird Anna Elendt erst wissen, wenn sie es ausprobiert hat. In Carmel, einer 100.000-Einwohner-Stadt nördlich von Indianapolis, steht für die Weltelite im Schwimmen von Freitag bis Sonntag die erste Station der Weltcupsaison 2025 an. „Ich bin zwar voll im Training und auch schon wieder gut in Form. Aber ob ich wirklich top vorbereitet bin, stellt sich dann erst im Wettkampf heraus“, sagt die 24-Jährige. Die Chance, in ihrer Wahlheimat USA den ersten Auftritt nach dem größten Erfolg ihrer bisherigen Karriere zu genießen, will sich Anna Elendt aber nicht entgehen lassen.
Ende Juli war sie in Singapur auf ihrer Paradestrecke 100 Meter Brust Weltmeisterin geworden, in deutscher Rekordzeit von 1:05,19 Minuten ließ sie Kate Douglass (USA) und die Chinesin Tang Qianting hinter sich und schnappte sich eine Goldmedaille, die nicht nur in deutschen Medien als Sensation gefeiert wurde. Neun Wochen danach kann die Spitzenathletin von der SG Frankfurt den Erfolg noch nicht recht einordnen. „Ich muss ehrlich sagen, dass er noch immer nicht so richtig angekommen ist“, sagt sie. Direkt nach der Rückkehr aus Asien nach Austin, wo sie seit 2020 lebt, wurde sie an ihrem Arbeitsplatz beim Financial-Technology-Konzern Ouro zurückerwartet, wo sie in Teilzeit als Projektmanagerin jobbt. „Zeit, um das alles zu verarbeiten, hatte ich nicht.“
Was der überraschende Triumph bewirkt hat, kann Anna Elendt deshalb auch noch nicht vollumfänglich einschätzen. Sie werde von ihrem Umfeld nicht anders behandelt als ohne WM-Gold auf dem Konto. Auf der Arbeit hätten einige erst durch eine Meldung im Intranet zu ihrem Titelgewinn überhaupt erfahren, dass sie Leistungsschwimmerin ist. „Aber ich habe festgestellt, dass ich für mich jetzt das Gefühl habe, wirklich zu den Besten dazuzugehören.“ Der WM-Titel als Eintrittskarte zum Kreis der Elite – für Anna Elendt, die in Austin seit einiger Zeit mit der Pro-Gruppe von US-Starcoach Bob Bowman trainiert, fühlt sich die neue Wertschätzung an wie eine ausgiebige warme Dusche nach einem langen Marsch bei Kälte und Regen durch unwegsames Gelände.
Nach Olympia in Paris dachte sie ans Aufhören
Einen solchen hatte sie im übertragenen Sinn nach den Olympischen Spielen von Paris zu überstehen. Das bittere Aus im Vorlauf nagte lange an der so lebensfrohen Athletin, die mit ihrer lockeren, stets positiven Art normalerweise eine der Stimmungsaufhellerinnen im deutschen Team ist. „Ich habe danach sogar ans Aufhören gedacht, denn ich war so frustriert, dass ich meine Leistung nicht abrufen konnte, obwohl ich mich super gefühlt habe“, sagt sie rückblickend. Geholfen habe ihr ein klarer Schnitt im gewohnten Trainingsablauf. „Ich habe zwei Monate bis auf Joggen gar nichts gemacht, bin dann mit einer Einheit pro Woche gestartet und habe Woche für Woche um eine Einheit gesteigert, bis ich wieder bei acht bis neun angekommen war und gemerkt habe, dass ich noch einmal voll angreifen will“, sagt sie.
Und genau das hat Anna Elendt seit vergangenem Herbst getan. Ende des vergangenen Jahres schied sie nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums in Sportmanagement und Wirtschaft zwar aus dem College-Team der University of Texas aus, die Trainingsmöglichkeiten dort darf sie jedoch auch weiterhin ausgiebig nutzen. „Ich muss jetzt zwar die Miete für mein Apartment, die medizinische Betreuung und die Verpflegung komplett selbst zahlen. Aber das Umfeld hier ist so herausragend, dass ich mich entschieden habe, zumindest so lange in Austin zu bleiben, wie ich Schwimmen als Hochleistungssport betreibe“, sagt sie. Zwar vermisse sie ihre Familie und ihre Freunde weiterhin sehr, außerdem hat sie in den USA noch immer nichts gefunden, das das von ihr so geliebte Ahoj-Brausepulver ersetzen kann. Aber das Prickeln, das sie im Training mit der Weltelite täglich spürt, ist mehr als eine Kompensation für das, was ihr fehlt.
Die Leistungssportkultur in den USA, die auch in anderen Sportarten viele Athlet*innen aus Deutschland über den Atlantik zieht, hat Anna Elendt in den vergangenen fünf Jahren schätzen gelernt. Angesichts der Erfolge, die beispielsweise die Magdeburger Trainingsgruppe von Bernd Berkhahn seit einiger Zeit vorweisen kann, will sie zwar in das Klagelied über mangelhafte Förderung in der Heimat nicht einstimmen. „Erfolgreiche Arbeit ist auch in Deutschland möglich. Aber es ist einfach Fakt, dass ich dort niemals mit so einer Dichte an Weltklasse trainieren könnte, wie es hier der Fall ist“, sagt sie. Das Vertrauensverhältnis zu ihrer Trainerin Carol Capitani spielt eine wichtige Rolle. Aber die Pro-Gruppe, die Bob Bowman in Austin mit Superstars wie Frankreichs Olympia-Überflieger Leon Marchand aufgebaut hat, habe das Training noch einmal auf ein neues Level gehoben.
„Ich bin hier von so vielen Weltklasseleuten umgeben, das treibt mich täglich dazu, an meine Grenzen zu gehen“, sagt sie. Dadurch habe sie derart an Muskeln und Ausdauer zugelegt, dass sie in Singapur das hohe Anfangstempo, dem sie in Paris noch Tribut hatte zollen müssen, bis zum Ende durchhalten konnte. „Ich wusste einfach, dass ich genug Kraft habe, um voll durchzuziehen“, sagt sie, „und das hat mir so viel Sicherheit gegeben, dass ich nicht daran gezweifelt habe, ganz vorn mithalten zu können.“ Mittlerweile habe sie deshalb auch das Selbstvertrauen, sich selbst als Gewinn für die Trainingsgruppe einzuschätzen, auch wenn sie nicht mehr für die College-Auswahl antreten darf. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hilfreich es ist, als junge Studentin von Weltmeistern zu lernen. Jetzt kann ich vielleicht etwas von dem weitergeben, was ich hier während meiner College-Jahre mitnehmen durfte“, sagt sie.
Diese Worte unterstreichen die Einstellung, mit der die gebürtige Hessin sich in den Herzen der Menschen in ihrem Umfeld eingenistet hat. Anna Elendt, die mittlerweile auf Deutsch und Englisch gleichermaßen träumt und manchmal länger nach den deutschen Entsprechungen für englisches Vokabular suchen muss, denkt nicht nur an das eigene Fortkommen. Sie pflegt auch den Schulterblick und arbeitet an ihrer Weiterentwicklung außerhalb des Pools. Nachdem sie während ihrer Studienzeit in wechselnden Besetzungen immer in Wohngemeinschaften lebte, hat sie kurz vor der WM im Juli eine eigene Wohnung in Austin bezogen, die sie nur mit ihrer Katze Didi teilt.
In Los Angeles will sie 2028 um eine Olympiamedaille kämpfen
Die Geschichte, wie Didi in ihr Leben trat, sagt auch einiges über den Menschen Anna Elendt. Auf dem Weg zum Training war sie falsch abgebogen und hielt vor einer Mall, um die Karte zu studieren, als sie einen scheinbar streunenden Hund bemerkte, der über die Straße lief. „Ich habe versucht, ihn anzulocken, um ihn zu schützen. Irgendwann kam die Besitzerin und hat sich sehr bei mir bedankt, dass ich ihrem Hund geholfen habe. Auf einmal hielt ein schwarzer Van mit getönten Scheiben neben mir. Aus dem Fenster beugte sich ein Mann, der wohl gesehen hatte, dass ich mich um den Hund gekümmert hatte, und fragte mich, ob ich seine Katze haben wolle“, erzählt sie. Als sie zunächst verneinte, sagte er: „Dann werfe ich sie in den nächsten Müllcontainer.“ Kurz darauf hielt sie ein wenige Wochen altes, abgemagertes und von Flöhen befallenes Fellbündel in ihren Händen. Zwei Jahre danach ist aus Didi ein sehr gepflegtes, gut genährtes Tier geworden, das während des digitalen Gesprächs mehrfach durchs Bild stolziert.
Auch weil sie Didi nicht zu lange allein lassen möchte, tritt Anna Elendt nur auf der ersten der drei nordamerikanischen Weltcupstationen an, für die der Deutsche Schwimmverband ein sechs Athlet*innen umfassendes Aufgebot gemeldet hat (Bericht dazu hier). Ihre weitere Wettkampfplanung ist noch nicht final abgestimmt, das Fernziel allerdings steht: die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles. In den USA um eine Olympiamedaille zu kämpfen, das wäre ein wunderbares Highlight und vielleicht sogar der passende Schlussakkord für ihre Leistungssportkarriere.
Um diesen mit maximalem Erfolg zu krönen, würde sie sich gern noch mehr auf den Sport fokussieren können. Die wichtigste Veränderung, die der WM-Titel mit sich gebracht hat, war der Abschluss eines Managementvertrags mit der Athleten- und Sportmarketingagentur Five Aside, die auch Stars wie Mats Hummels, Christoph Kramer, Gina Lückenkemper, Robin Gosens und Leo Neugebauer betreut. Davon erhofft sich Anna für die Zukunft den einen oder anderen Sponsoringdeal, um nicht mehr auf ihren Teilzeitjob angewiesen zu sein, der aktuell ihre Lebenshaltungskosten finanziert. Da es ihr bisher wegen komplizierter Richtlinien als College-Athletin nicht gestattet war, Brand- und Sponsorendeals abzuschließen, ist Anna erst seit dem Sommer offiziell für Sponsoren verfügbar, bietet daher aber eine völlig neue und spannende Story.
Montags, mittwochs und freitags nicht schon von 6 bis 7.30 Uhr trainieren zu müssen, um neben der Arbeit das nötige Pensum zu schaffen – das könnte auf dem Weg zu neuen Sensationen ein Gamechanger sein. Zukunftsmusik ist das allerdings. Den nächsten Ton will sie am Wochenende in Carmel setzen. Ob es ein Hit wird, bleibt abzuwarten. Aber Anna Elendt scheint die richtigen Instrumente gefunden zu haben, um nachhaltig erfolgreich zu sein.