Zum Inhalt springen

„Deutschland könnte es, sogar sehr gut, aber...“

Der langjährige dpa-Sportchef Günter Deister spricht anlässlich des 75. Jahrestags der Gründung des Deutschen Sportbundes (DSB) über die wichtigsten Ereignisse der deutschen Sportpolitik und seine Sicht auf die Olympiabewerbung.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

08.12.2025

Drei Menschen bei einer Ehrung
Im Jahr 2010 wurde Günter Deister von DOSB-Präsident Thomas Bach (l.) und Vizepräsidentin Gudrun Doll-Tepper die Ehrennadel verliehen.

Ende November erreichte eine E-Mail die Pressestelle des DOSB. Günter Deister, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 31 Jahre lang Leiter des Sportressorts der Deutschen Presse-Agentur, musste seine Zusage für ein persönliches Gespräch mit dem DOSB über seine Erlebnisse mit der deutschen Sportpolitik zurückziehen, weil eine spontane Operation ein Treffen unmöglich machte. Doch weil der Träger der DOSB-Ehrennadel auch im Alter von 85 Jahren nicht nur das Sportgeschehen weiter rege verfolgt, sondern auch an der für ihn typischen Disziplin und Arbeitseinstellung nichts eingebüßt hat, erklärte er sich nach Genesung bereit, einige Fragen schriftlich zu beantworten. Anlässlich des 75. Gründungstags des Deutschen Sportbundes (DSB), aus dessen Fusion mit dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) 2006 der DOSB hervorging und der an diesem Mittwoch in Hannover mit einem Festakt gewürdigt wird, sind Deisters Denkanstöße nun doch zugänglich – was für ein Glück!

DOSB: Herr Deister, Sie haben die deutsche Sportpolitik über viele Jahre journalistisch begleitet. Welche Phase haben Sie als die prägendste für die Entwicklung des Sports in Erinnerung?

Günter Deister: Natürlich die äußerst schwierige Vereinigung von DSB der Bundesrepublik und DTSB der DDR nach der Wende, die eigentlich keine Vereinigung zuzulassen schien: wegen Unvereinbarkeit. Einerseits der westliche Sportbund mit dem Bemühen, aus der Vielzahl seiner Verbände und Vereine ein breites Sportangebot zu schaffen. Spitzensport auch, aber vor allem Sport in der Breite. Auf der anderen Seite die staatliche Hochrüstung von Sporteliten mit allen Mitteln, um im Kampf der Systeme Überlegenheit darzustellen. 

Die Wiedervereinigung galt für den Sport in Deutschland als großer Gewinn. Was wurde dabei gut, was schlecht umgesetzt?

Den Gewinn spüre ich noch heute, wenn ich an den Einmarsch des vereinten Teams bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona denke: Gänsehaut und Freudentränen bei einem, der in der DDR geboren wurde, den die Eltern mit elf Jahren in die Bundesrepublik geschickt haben, in der Erwartung  eines besseren Lebens dort. Nach Barcelona begann die Mühsal der Vereinigung zweier extremer Sportsysteme. Gut war dabei die Abkehr des Siegenmüssens um jeden Preis als eine Art von Demokratisierung des Spitzensports. Verbunden allerdings mit dem Versäumnis, die Werte und Möglichkeiten, die ein erfolgreicher Spitzensport gesamtgesellschaftlich bewirken kann, nicht ausreichend genutzt zu haben.   

Die Fusion von NOK und DSB zum DOSB wird bis heute von manchen kritisch gesehen. Welche Meinung haben Sie dazu?

Die Fusion war der notwendige Versuch, aus den Erfahrungen und Bedingungen eine Lehre zu ziehen. In ihrer Endphase stellten sich DSB und NOK nicht als Partner dar, sondern als Konkurrenten, die um Zuständigkeiten, Vorrechte, Privilegien und Einkünfte kämpften. Thomas Bach gewann diese Auseinandersetzung gegen den damaligen NOK-Präsidenten Walther Tröger mit dem Argument, dass der olympische Sport nur durch das Bündnis aller sportlichen Organisationen Kraft genug finden könnte. Für Anerkennung und Behauptung und als die Stimme des Sports in einer Partnerschaft mit Politik und anderen gesellschaftlichen Organisationen. Übersetzt auf die Gegenwart: Nicht NOK oder DSB entscheiden über eine Olympiabewerbung, sondern der DOSB als vereinte Organisation des deutschen Sports. 

Das IOC hat insbesondere in Deutschland einen schweren Stand. Welche Kritik an ihm ist berechtigt, welche überzogen?

Eine schwierige Frage, weil sie hierzulande von einigen Medien immer in einen Zusammenhang mit Thomas Bach gebracht wurde, dem angeblichen Putin-Freund und Verkäufer olympischer Werte. Daran ist so viel richtig, dass der 2013 mit großer Mehrheit ins IOC-Präsidentenamt gewählte Bach ein Nothelfer für Putin war, um mit massiver Unterstützung westlicher Unternehmen die drohende olympische Katastrophe eines Ausfalls der Winterspiele 2014 in Sotschi zu verhindern. Dafür musste Putin seriös geschätzte 50 Milliarden Dollar aufbringen. Putins Ersuchen, die Spiele am Ende als die „bisher besten“ auszurufen, verweigerte Bach. Er bezeichnete sie in seiner Schlussrede lediglich als „außergewöhnlich“. Verständlich war die Kritik an Bach bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016. Dort hatte er den internationalen Verbänden das Sanktionsrecht für den aufgedeckten, beispiellosen systematischen russischen Dopingbetrug bei den Sotschi-Spielen weitgehend übertragen. Zum Gesamtbild zählen Bachs Abschiedsspiele in Paris als überaus gelungenes Finale und als Vermächtnis seiner Agenda: Spiele in einer großartigen Stadtkulisse, Spiele erstmals der Geschlechtergleichheit unter reduzierter Teilnehmerzahl und in Mixed-Wettbewerben. Und Spiele, die das IOC aus seinen eigenen Mitteln mit bis zu 1,8 Milliarden Dollar subventioniert hat. Auch diese Zahl ist ein Hinweis: Ideen und Ideale sind  das eine, doch es bedarf auch der ökonomischen Kraft, um sie durchzusetzen. 

Wie nehmen Sie heute aus der Perspektive eines Kenners der deutschen Sportpolitik den DOSB aus der Entfernung wahr?

Als einen Verband, der in schwierigen Zeiten gesellschaftlicher  Veränderungen national und international besonders herausgefordert ist und seinen Kurs neu justieren muss. Das erfordert Standfestigkeit und Entschlossenheit. Aber auch die Suche nach neuen Wegen. Dabei besitzt der DOSB mit der Breite und Spitze des deutschen Sports ein riesiges Kapital. Er müsste es nur noch besser einsetzen. Dazu gehört, eine Olympiabewerbung zu organisieren mit Überzeugungskraft, Geschick und Selbstvertrauen. Die Idee von Olympischen Spielen in Deutschland umzusetzen hat nur dann eine Chance, wenn ein geeinter, führungsstarker Sport die Kraft entwickeln könnte für eine Partnerschaft mit Politik und Gesellschaft. Umgekehrt gilt auch: Der politische Zustand lässt zweifeln, ob der Staat befähigt ist für eine verlässliche Partnerschaft. Und ob er auch bereit wäre, in schwierigen Zeiten einen beträchtlichen Anteil an olympischen Kosten zu übernehmen.

  • Günter Deister

    Thomas Bach könnte da die präziseste Wahrscheinlichkeitsrechnung aufmachen. Wahrscheinlich würde er sagen: Viele stehen an, es wird dauern, bis Europa wieder an der Reihe ist. Und Europa ist groß.

    Günter Deister
    Langjähriger dpa-Sportchef
    Träger der DOSB-Ehrennadel

    Wie nehmen Sie die aktuelle Lage zur Bewerbung für den Zeitraum 2036 bis 2044 wahr?

    Als ein Wettrennen mit vielen Bewerbern in unsicheren Zeiten, mit Europa als einen Kontinent im olympischen Warteraum. Asien wird auf jeden Fall dabei sein, aus heutiger Sicht mit Indien als einem Favoriten für die Spiele 2036. Die Emirate werden um die Spiele 2040 buhlen, und nicht auszuschließen ist eine Kandidatur aus Afrika, dies jedoch mit einem großen Fragezeichen. Europa und damit auch Deutschland stehen bei dieser spekulativen Vorausschau in einer Warteschlange, allerdings mit ganz oben wegen unbestreitbaren Potenzials. Thomas Bach könnte da die präziseste Wahrscheinlichkeitsrechnung aufmachen. Wahrscheinlich würde er sagen: Viele stehen an, es wird dauern, bis Europa wieder an der Reihe ist. Und Europa ist groß.

    Was ist aus Ihrer Sicht entscheidend, um die Menschen nachhaltig von der Wichtigkeit einer Olympiabewerbung zu überzeugen?

    Überzeugungskraft auf der Basis von Wollen und Können. Das Wollen ist dokumentiert durch die Wegbeschreibung, wie der DOSB seinen Kandidaten ermitteln will. Vier Kandidaten in einem Ausscheidungsrennen um Platz eins, da hat schon die erste Hürde des Wollens ihre Tücken. Beim Können hilft ein Rückblick auf die grandiosen Spiele in Paris. Sie haben ein Land zusammengeführt, auch im Stolz und unter enormer internationaler Anerkennung. Beim Können ist aber auch ein kritischer Blick notwendig auf den Zustand dieser deutschen Republik mit ihren Gefährdungen und Abgründen. Anders ausgedrückt: Deutschland könnte es, sogar sehr gut, aber...       

    Der Stellenwert des Sports in der Gesellschaft ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Wie nehmen Sie diesen aktuell wahr, und in welcher Phase Ihres beruflichen Wirkens war er am höchsten?

    Am höchsten war er bei meiner Olympia-Premiere als Journalist, den Olympischen Spielen in München 1972. Bis zu dem furchtbaren Attentat waren die Spiele eine Freude – Heiterkeit durch Gelingen, Können und Dulden. Und heute? Ein Mangel an Zuversicht, dafür ein Überangebot an Zweifel, Unentschlossenheit und Aggressivität. Duldung nur als Gefahr. Wie kann das eine Gesellschaft aushalten? 

    Was hat sich Ihrer Ansicht nach in der Rezeption von Leistungssport beim Publikum und in der Gesellschaft verändert?

    Der Leistungssport, besser gesagt Teile des Leistungssports, haben sich durch eine Kombination aus Übermaß und Maßlosigkeit selbst beschädigt. Dies in einem medialen Umfeld, das den Sieger verherrlicht und den Verlierer bestenfalls ignoriert. Mit dieser Erkrankung ist er Teil der Gesellschaft, in der die Ansage, Leistung müsse sich immer lohnen, weit verbreitet ist. Die äußerst schwierige Aufgabe einer Sportorganisation wäre es deshalb, Voraussetzungen für Elitesportler zu schaffen, die ihn fördern und formen, ohne ihn zu überdehnen und ihn zu überfordern.     

    Welche Rolle hat aus Ihrer Sicht das Internet für die Wahrnehmung des Sports gespielt?

    Eine gute und eine schlechte. Eine gute, weil der Sport in seiner Vielfalt und Attraktivität wahrgenommen werden kann. Eine schlechte deshalb, weil das Internet mit seinen vielfältigen Angeboten vom Sport ablenken und ihn ganz in den Hintergrund drängen kann.

    Mit welchen Führungspersonen im deutschen Sport hatten Sie das schönste Erlebnis und die schwierigste Beziehung?

    Eindeutig mit Thomas Bach bei einem Tennismatch in der Pause eines olympischen Kongresses. Auf der Gegenseite ein Fecht-Olympiasieger auf noch flotten Beinen, der ganze Salven raffinierter Linkshand-Bälle abschoss. Schwierigste Beziehung? Ganz sicher mit dem langjährigen Sportchef der DDR, Manfred Ewald, wenn man das überhaupt eine Beziehung nennen darf. Bei einem letzten Gespräch im Rahmen eines europäischen Sportkongresses: Klima eiskalt, Positionen unvereinbar. Händedruck unmöglich.

    Herr Deister, herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute!

    Title

    Title