„Ein freier Tag ist wirklich nichts Schlimmes“
Emma Malewski (20), Kunstturn-Europameisterin am Schwebebalken von 2022, spricht über ihre lange Leidenszeit, die Rückkehr in den Wettkampfbetrieb bei den World University Games im Juli und ihre Lehren aus den Verletzungen der vergangenen Jahre.

19.05.2025

Gelöst wirkt Emma Malewski, als wir sie im Auto auf dem Weg von Chemnitz, wo sie lebt und trainiert, nach Hamburg, wo sie herkommt und ihre Familie hat, auf dem Mobiltelefon erreichen. Und das hat einen einleuchtenden Grund: Am vergangenen Freitag hat die 20-Jährige, die sich bei den European Championships 2022 in München mit ihrer Goldmedaille am Schwebebalken in die Herzen der Fans turnte, am Sportgymnasium in Chemnitz ihre letzte mündliche Abiturprüfung absolviert. „Ist nicht so gut gelaufen wie erhofft, aber ich bin froh, dass die Anspannung jetzt erst einmal abfällt und ich ein paar Tage bei meiner Familie entspannen kann“, sagt sie. Von Mittwoch an geht es dann in die intensive Vorbereitungsphase für die Saisonhöhepunkte.
DOSB: Emma, Ende des Monats steht in Leipzig die Heim-EM auf dem Programm. Warum war es für dich keine Option, dort an den Start zu gehen?
Emma Malewski: Ich hatte mir im Mai 2024 die Schulter ausgekugelt und musste im Juli wegen eines Knorpelschadens in der Schulter operiert werden. Sechs Wochen war ich in der Schiene und komplett bewegungsunfähig. Der Arzt meinte, es würde rund ein Jahr dauern, bis ich im Turnen wieder alles machen könnte, damit war das Thema EM beendet. Als nach meinen Wiedereinstieg ins Training alles gut lief, habe ich zwar doch nochmal kurz damit geliebäugelt, in Leipzig zu starten, aber durch den Abistress war ich mental ziemlich angespannt und konnte nicht so viel trainieren, wie nötig gewesen wäre, um auf das Niveau zu kommen, das man für eine EM braucht. Ich habe mir gesagt: Emma, Abi ist nur einmal im Leben! Also lag darauf der Fokus, denn eine gute Ausbildung ist für das Leben unverzichtbar. Außerdem habe ich auch gelernt, dass der Körper und die Gesundheit vorgehen sollten.
Die Schulterverletzung war ja nicht deine erste Zwangspause. 2023 hast du dir einen Tag vor der Abreise zur WM das Syndesmoseband im linken Sprunggelenk gerissen. Dein sportlicher Eintrag bei Wikipedia endet 2022. Was hast du aus dieser langen Leidenszeit mitnehmen können?
Vor allem, dass ich viel mehr bin als mein Sport. Ich war immer Emma, die Turnerin, ich dachte selbst, ich kann nur das und bin ohne meinen Sport gar nichts. Das habe ich hinter mir gelassen, ich definiere mich nicht mehr nur übers Turnen. Ich habe aber auch gelernt, wie wichtig mir mein Sport immer noch ist. Ich bin mit viel mehr Freude ins Training gegangen und habe mir neue Ziele gesteckt. Nach der Schulterverletzung hatte ich ans Aufhören gedacht, weil ich wirklich unsicher war, ob das noch einmal was werden könnte. Aber dann hat mich der Ehrgeiz gepackt, ich wollte unbedingt zurück in die Halle und wieder turnen. Ich habe gemerkt, dass ich noch nicht fertig bin. Ich weiß, dass ich dafür sehr hart arbeiten muss, denn ich habe wichtige Monate meiner Karriere verloren. Um im Sport ganz oben mitzuspielen, muss man alles danach ausrichten: Ernährung, Schlaf, Freizeit. In der Zeit, in der ich verletzt war, habe ich aber gespürt, dass ich das möchte, dass ich bereit dazu bin.
Wenn du dich nicht mehr nur über den Sport definierst: Was sind denn die Dinge, die du über dich gelernt hast, die den Menschen Emma Malewski auszeichnen und komplett machen?
Vor allem meine offene Art zu zeigen, dass ich ein ganz normales Mädchen bin, das Spaß am Leben haben möchte. Ein Mensch, der sich mit Freunden trifft, der auch mal feiern geht und Blödsinn im Kopf hat. Der nicht immer nur streng sich selbst gegenüber ist, denn dieses verkrampfte Fokussieren nur auf Leistung macht einen irgendwann kaputt. Ich kannte früher meine Grenzen nicht ausreichend, habe immer geglaubt, mehr und immer noch mehr machen zu müssen. Ich habe 13, 14 Einheiten in meine Woche gestopft, obwohl zehn die Regel sind, und mich dann gewundert, dass ich das Wichtigste manchmal nicht abrufen konnte, weil ich zu fertig war. Die erzwungene Auszeit hat mich endlich gelehrt, dass Regeneration eins der wichtigsten Elemente im Leistungssport ist. Ein freier Tag ist wirklich nichts Schlimmes, er ist sogar sehr wichtig. Das weiß ich jetzt. Ich bin ja auch älter geworden.
Das hört sich aus dem Mund einer 20-Jährigen kurios an.
Es stimmt aber, wenn man Turn-Maßstäbe anlegt. In München war ich 2022 die Jüngste im Team, ein Jahr später bei der WM wäre ich schon die Drittälteste gewesen. Und würde ich in Leipzig starten, wäre ich die Älteste. Aber vielleicht ist es passender, wenn ich sage, dass ich erfahrener geworden bin.
Die EM in München war dein Durchbruch, dennoch hat sie dich, wie du danach erzählt hast, auch überfordert. Wie schaust du heute, knapp drei Jahre danach, darauf zurück?
München war ja erst meine zweite EM im Erwachsenenbereich, die davor war gar nicht gut gelaufen. Ich war gerade erst 18 geworden, für mich war es ein Traum, dass ich neben dem Olympiateam stehen und sogar mit ihnen turnen durfte. Auf einmal gewannen wir Bronze im Team, die erste EM-Medaille für ein deutsches Frauenteam überhaupt. Schon das war für mich surreal. Als dann noch Gold am Schwebebalken dazu kam, wusste ich einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte. Um ehrlich zu sein, habe ich es in dem Moment gar nicht verstanden. Ich habe auch nichts gefühlt, es war einfach nur überwältigend. Erst eine Woche später, im Urlaub, habe ich realisiert, dass ich Europameisterin bin. Heute bin ich extrem dankbar für diese Erfahrung. Ich habe mir damals eingeredet, dass ich die Medaille nur durch Glück gewonnen habe, dass ich gar nicht so gut bin. Aber das stimmt nicht. Sie war der Lohn für jahrelange, harte Arbeit, ich war an dem Tag auf den Punkt da, habe keine Fehler gemacht. Ich habe dieses Gold verdient. Ich konnte mir damit einen Traum erfüllen. Wie viele versuchen es, Europameisterin zu werden, und schaffen es nie? Da verbietet es sich, darüber zu klagen, dass es vielleicht etwas zu früh kam.
Du hast nach dem EM-Gold in München 2022 viel Kritik dafür einstecken müssen, dass du so viel auf Social Media unterwegs warst. Du hast das aber beibehalten und auch während der Verletzungszeit vieles aus deinem Leben preisgegeben. Warum ist dir das wichtig?
Ich habe damals viele Artikel darüber gelesen und war anfangs doch sehr getroffen, weil ich die Kritik nicht nachvollziehen konnte. Mittlerweile ist es mir längst egal. Ich bin auf Social Media so aktiv, weil ich der jungen Generation zeigen will, dass ich ein anderes Leben habe als die meisten Teenager, und dass Leistungssport auch viel mit Verzicht und Disziplin zu tun hat. Dass auch Dinge wie die Angst vorm Verlieren dazugehören, oder eben Phasen wie die der Verletzungen, in denen die Motivation im Keller ist. Mein Antrieb ist, den Jüngeren Mut zu geben, dass es wichtig ist, seine Ziele zu verfolgen. Ich bekomme dafür auch so viel Zuspruch, dass ich überzeugt davon bin, dass es keine Zeitverschwendung ist, sondern ein wichtiges Element, um andere für den Leistungssport zu begeistern und auch, um ein vollständiges Bild von sich zu zeigen.
Musst du dafür auch manchmal eine Rolle spielen, und fällt dir das leichter oder schwerer als im Wettkampf?
Tatsächlich bin ich ein Mensch, der gern locker ist, viel redet und sich gern öffentlich zeigt. Mir ist auf Social Media aber wichtig, eben keine Rolle zu spielen, sondern mich so authentisch wie möglich zu zeigen. Ich rede da gern einfach drauf los und erzähle von meinem Tag, auch wenn er beschissen war. Im Turnen war das zu Beginn meiner Karriere ganz anders, da wollte ich am liebsten nur trainieren, hatte vor Wettkämpfen manchmal richtig Schiss. Erst nach Corona habe ich gelernt, richtig aus mir herauszukommen. Mittlerweile liebe ich es, mich durch das Turnen auszudrücken, zu zeigen, was und wie ich fühle. Da spiele ich auch mal mit anderen Rollen. Grundsätzlich mag ich es aber, ich selbst zu sein in meinen Übungen, ich zeige gern, was mir Spaß macht. Wenn etwas nicht funktioniert, muss man zwar versuchen, es zu kaschieren. Aber wenn ich dann vom Gerät abgehe, sieht man es mir schon an. Da muss ich noch an meiner Selbstbeherrschung arbeiten.
Wie trainierst du das? Hast du in den vergangenen Monaten, auch während der Verletzungspause, viel im mentalen Bereich gearbeitet?
Auf jeden Fall, denn die Psyche ist der Schlüssel zu allem. Ich war früher ein Mensch, der vieles mit sich selbst ausgemacht hat, ich mochte mir nur ungern helfen lassen. Während meiner Ausfallzeit habe ich verstanden, dass es eine Stärke ist, sich Hilfe zu suchen. Ich bin mit einer Sportpsychologin in Kontakt gekommen, mit der ich nun schon gut ein Jahr regelmäßig arbeite. Mit ihr kann ich über alle Probleme sprechen, aber auch einfach nur so quatschen. Das hilft mir sehr. Ich hatte zum Beispiel zum Wiedereinstieg ins Training eine Art Rückwärtsblockade, habe mich nicht getraut, alle Elemente zu springen. Das habe ich auch mit ihrer Hilfe überwunden, mittlerweile geht wieder alles.
Wie würdest du denn deinen aktuellen Fitnesszustand beschreiben?
Ich habe wegen der Verletzungen an Fuß und Schulter ein Jahr lang nicht am Boden turnen können. Das merkt man natürlich. Ich habe viel daran gearbeitet, alle Elemente schon wieder geturnt, aber Boden ist das Element, das mir am schwersten fällt. Am Balken und am Barren sieht es schon gut aus, Sprung wird auch immer besser. Jetzt brauche ich in erster Linie Kraft- und Konditionstraining, um in Wettkampfform zu kommen. Das Ziel ist aber, dass ich bei den World University Games einen Vierkampf turnen kann.
Wie kommt es, dass du bei den World University Games, die vom 16. bis 27. Juli in Nordrhein-Westfalen und Berlin stattfinden, überhaupt teilnehmen darfst? Du bist doch noch keine Studentin…
Da ich mein Abitur gemacht habe und mich zum nächstmöglichen Zeitpunkt für ein Studium einschreiben werde, bin ich startberechtigt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich starten darf, denn meine Trainerin hat mir davon vorgeschwärmt, was für ein tolles Event die Universiade ist. Es ist ein Großereignis im eigenen Land, ich bin sehr gespannt darauf und denke, dass es eine tolle Alternative für die Heim-EM ist, die ich verpassen muss. Und sie passt auch perfekt in meinen Wettkampfplan.
Du hast ja nun leider Übung darin, bei Großereignissen zuzuschauen. Fällt es dir in Leipzig vielleicht leichter mit der Erfahrung von verpasster WM und Olympischen Spielen?
Nein, so etwas tut immer sehr weh. Ich glaube, das kann man auch mit Erfahrung nicht abstellen. Ich freue mich aber umso mehr für meine Chemnitzer Trainingspartnerinnen Lea Quaas und Karina Schönmaier, die den Sprung ins Team geschafft haben. Ich werde in Leipzig dabei sein und mir einige Wettkämpfe anschauen. Natürlich mit einem weinenden, aber auch einem lachenden Auge, denn ich fühle mich weiterhin als Teil des Teams. Ich bin mit mir im Reinen, habe alles gegeben, und es wird auch für mich weitere EM-Chancen geben.
In deine Ausfallzeit fielen auch der Missbrauchsskandal am Stuttgarter Stützpunkt und die anschließenden Diskussionen über den generellen Zustand im deutschen Turnen. Wie hast du das Ganze aus der Ferne erlebt?
Das Meiste habe ich über Social Media mitbekommen. Einige der Betroffenen kenne ich ja seit vielen Jahren, und dann zu erfahren, wie schlimm es ihnen ergangen ist, war sehr hart, aber natürlich vor allem für die, die darunter leiden mussten. Es ist sehr traurig, dass das Turnen auf diese Art so lange in den Schlagzeilen war und in ein schlechtes Licht gerückt wurde, denn eigentlich ist es eine ganz tolle Sportart, wenn man Trainerinnen und Trainer hat, die sich um ihre Athletinnen kümmern. In Chemnitz ist das zum Glück der Fall, wir werden hier als Menschen gesehen und nicht nur als Sportlerinnen, wir machen viel Teambuilding und auch mentale Arbeit. Ich wünsche mir sehr, dass sich auch in Stuttgart alles zum Guten wendet und das deutsche Turnen aus dieser Krise gefestigt und mit neuer Einstellung hervorgeht.
Du hast gesagt, dass du gespürt hast, dass du noch nicht fertig bist, dass noch einige Ziele auf dich warten. Welche sind das?
Erst einmal möchte ich bei den World University Games eine erfolgreiche Rückkehr in den Wettkampfbetrieb schaffen und dort möglichst gut abschneiden. Dann kommen Anfang August die Deutschen Meisterschaften im Rahmen der Finals in Dresden, auf die ich mich sehr freue. Und wenn alles gut läuft, dann schaffe ich hoffentlich auch die Qualifikation für die WM, die im Oktober in Indonesien stattfindet. Ganz oben steht aber, dass ich verletzungsfrei bleibe. 2025 ist ein Aufbaujahr, ich habe vieles aufzuholen und bin sehr froh, dass ich mich nun zum ersten Mal in meinem Leben nur auf den Sport konzentrieren kann.
Sind die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles schon im Hinterkopf? Turnen ist in den USA schließlich eine der Hauptsportarten.
Ja, das wäre natürlich ein Traum. Turnen ist dort mega-beliebt, es wäre etwas ganz Besonderes, dort dabei zu sein. Aber ich habe gelernt, dass es keinen Sinn ergibt, zu weit in die Zukunft zu planen. Schon als Kind war Olympia immer mein großes Ziel, als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mir ausgerechnet, dass 2024 mein Olympiajahr werden würde. Und dann war ich verletzt. Deshalb sage ich mir heute, dass Olympia nicht alles ist und die Zufriedenheit mit meinem Leben nicht davon abhängt, ob ich es schaffe, dort teilzunehmen. 2028 ist auch noch so lange hin. Aber schön wäre es natürlich schon.