Ein Gestalter mit viel Herz für den Sport
An diesem Montag übernimmt Otto Fricke den Vorstandsvorsitz im DOSB. Eine Annäherung an den 59-Jährigen, der bislang kein Amt im organisierten deutschen Sport hatte und künftig an dessen Spitze stehen wird.

01.09.2025

Vielleicht schließt sich dann doch ein Kreis an diesem Montag, den Otto Fricke 1994, als er sich öffnete, noch nicht vollumfänglich erfassen konnte. Als Rechtsreferendar im Landtag Nordrhein-Westfalens war er vor nunmehr 31 Jahren zu einem Untersuchungsausschuss zum Thema „Versagen im Zusammenhang mit dem Sportbodenhersteller Balsam AG“ geschickt worden. Er setzte sich neben seinen FDP-Kollegen, und neben ihm nahm ein Mann Platz, der für Bündnis 90 Die Grünen angereist war: Michael Vesper. „Seit diesem Tag stehen wir immer wieder miteinander in Kontakt, und am interessiertesten habe ich darauf geschaut, was er zwischen 2006 und 2017 hauptberuflich gemacht hat“, erinnert sich der Mann, der an diesem Montag die Nachnachnachfolge Vespers als Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbundes antritt.
Wobei der 1. September nur den offiziellen Arbeitsbeginn markiert. Tatsächlich ist Otto Fricke, seit er am 30. Juni als Nachfolger von Torsten Burmester vorgestellt wurde, mit Vollgas in die neue Aufgabe gestartet. Er hat sich in diversen Gesprächen innerhalb der verschiedenen DOSB-Gremien kundig gemacht, hat Akten gefressen, seine Social-Media-Kanäle gefüttert und viele Fragen gestellt. Wegbegleiter aus vorangegangenen Stationen wundert das wenig. Die Beschreibung „Workaholic“, die manche nutzen, die über ihn sprechen, weist er zumindest nicht kategorisch von sich. „Ich arbeite gern und empfinde meine berufliche Verantwortung nicht als belastend, sondern als befriedigend und ausfüllend, wenn ich darin gut sein darf“, sagt er.
Fricke sucht nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen für Probleme
Um jedoch bei all jenen, die auf die Einhaltung ihrer tariflich vorgeschriebenen Arbeitszeiten achten, jegliche Bedenken im Keim zu ersticken: Otto Fricke ist, so versichert er, ein Mensch, der sein eigenes Handeln nicht zum Maßstab macht, sondern die Grenzen anderer achtet. „Mein Verständnis von Führung ist, dass ich als Vorstandsvorsitzender nicht alles entscheide, weil ich ‚Chef‘ bin, sondern dass ich nur entscheide, wenn es notwendig ist, dann aber mit Überzeugung. Und ich suche nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen für Probleme. Fehler machen wir alle, es kommt nur auf den Umgang damit an und dass man sie nicht zu häufig wiederholt“, sagt er. Für ein gelungenes Berufsleben sei das Wichtigste ein gutes Team: „Dieses finde ich hier vor, das habe ich in den vergangenen Wochen bereits intensiv gespürt. Eines meiner Ziele ist es, dass hier viele Mitarbeitende an möglichst vielen Tagen gern an ihren Arbeitsplatz kommen.“
Um zu verstehen, was dafür notwendig ist, will Otto Fricke in seinen ersten 100 DOSB-Tagen zunächst viel zuhören. Die Bandbreite der Aufgaben zu durchschauen, für die der Dachverband des deutschen Sports mit seinen 102 Mitgliedsorganisationen zuständig ist, ringe ihm Respekt ab. „Ich will lernen, wie der DOSB tickt. Es ergibt für mich keinen Sinn, jetzt schon eine Prioritätenliste mit den obersten drei Zielen zu haben, die ich anpacken will, denn wer von Priorisierung redet, achtet oft nicht auf die Posteriorisierung“, sagt er. Es ist ein typischer Otto-Fricke-Satz, er streut gern Fremdworte ein, nutzt lateinische Sätze, für die er dann mit dem Hinweis auf seinen „Hang zur Klugscheißerei“ um Entschuldigung bittet.
Bundestagsabgeordneter zwischen 2002 und 2013 sowie 2017 und 2025
Augenzwinkernd natürlich, denn ein bisschen Koketterie gehört zu seinem Programm ebenso wie der Hang zum Wortwitz. Als ehemaliger Berufspolitiker, der er als Bundestagsabgeordneter für die FDP zwischen 2002 und 2013 und noch einmal von 2017 bis 2025 war, erfreut er sich naturgemäß an der ihm eigenen Redegewandtheit. Er spürt gern gelungenen Formulierungen nach und vergewissert sich der ungeteilten Aufmerksamkeit des Gegenübers. Aber ein Sprücheklopfer, das ist Otto Fricke nicht. Der rheinisch-joviale Einfluss, der sich bei dem gebürtigen Krefelder unter anderem darin Bahn bricht, dass er sofort beim „Du“ ist, ist unverkennbar. Er ist einer, der anpackt, der gestalten will, aber nicht um des Veränderns willen, sondern weil er darin schlicht eine Gelegenheit sieht, Dinge zu optimieren.
„Eins habe ich den ersten Wochen bereits verstanden“, sagt er, „dass der DOSB viel jünger und sportnaher ist als sein Image. Und das müssen wir mehr nach außen tragen.“ Die Antwort auf die Frage, warum er sich für den Wechsel an die Spitze des organisierten deutschen Sports entschieden hat, obwohl er - wie während seiner Bundestags-Abstinenz zwischen 2013 und 2017 als Partner einer internationalen Unternehmensberatung - in der Wirtschaft oder auch seinem erlernten Beruf als Rechtsanwalt mehr Geld verdienen könnte, fällt ihm leicht: „Ich war schon immer vielseitig sportbegeistert. Die Chance, die mir hier gegeben wird, empfinde ich als Geschenk. Sport ist einer der letzten Bereiche, vielleicht sogar die letzte Bastion unserer Gesellschaft, in der wir über alle trennenden Faktoren hinweg Gemeinschaft erleben können. Dieses ein Stück weit mitprägen zu dürfen, ist eine große Aufgabe.“
Als Rechtsanwalt viel mit dem Thema Sport befasst
Denen, die nach der Bekanntgabe der Personalie unkten, der Fricke habe ja noch nie im Sport gearbeitet, begegnet er in erster Linie mit Verständnis. „Die Aussage ist ja nicht falsch. Aber richtig ist auch: Ich habe schon viel mit dem Sport gearbeitet. Als Rechtsanwalt habe ich manche Satzung bearbeitet, etliche Hauptversammlungen als neutrale Person geleitet. Und ich habe mich in unzähligen Haushaltsverhandlungen mit dem Sport befasst. Zudem werde ich mich intensiv in alle Themen einarbeiten, die für den DOSB wichtig sind.“ Zu wissen, dass er nicht alles wisse, aber zumindest immer, wen es zu fragen gilt, sei eine Lehre aus seinem bisherigen beruflichen Wirken, auf die er stets vertraue.
Zumindest der erste Schritt auf seinem Berufsweg war vorgezeichnet. Beide Eltern waren Rechtsanwälte, der vor zehn Jahren verstorbene Vater habe ihn geprägt, mit seiner 88 Jahre alten Mutter, die noch immer aus Leidenschaft arbeitet, führt er in Krefeld-Uerdingen eine Kanzlei. „Eine Feld-, Wald- und Wiesenkanzlei“, wie er sagt, „das ist mir wichtig, denn dadurch habe ich mich mit sehr vielen unterschiedlichen Facetten der Rechtswissenschaften auseinandersetzen dürfen.“ Jura sei nicht die Krone der Schöpfung, aber ein fantastisches Handwerksmittel, um Probleme im Alltag zu lösen. Das öffentliche Bild, dass, wer fünf Juristen frage, zehn verschiedene Meinungen erhalte, ist ihm natürlich geläufig. „Man sollte Juristen niemals nach ihrer Sichtweise fragen, wenn man Klarheit möchte, sondern nach ihrem Urteil“, sagt er.
Die lebensprägende Weggabelung war für Otto Fricke das Jahr 1989. Nach seiner Bundeswehrzeit und während des Studiums in Freiburg, von dem ihm nicht nur das erste Staatsexamen geblieben ist, sondern auch die Vorliebe für den damaligen Zweit- und heute etablierten Fußball-Bundesligisten SC Freiburg, führte er im Kreise seiner Kommilitonen lebhafte Diskussionen über Politik. „Meist mit dem Tenor, wie doof die Politiker alle seien. Irgendwann dachte ich mir: Du kannst nicht immer nur meckern, sondern musst auch mal selbst gestalten.“ Also entschied er sich, nachdem er CDU, SPD, Grüne und die FDP auf seine Ansichten hin einem Realitätscheck unterzogen hatte, für die Freiheitlichen. „Das Prinzip der Freiheit zur Verantwortung hat mich am stärksten überzeugt“, sagt er.
Kurz bevor die Mauer fiel, trat er in die FDP ein, „vollkommen ohne den Hintergedanken, irgendwann für ein wichtiges Amt zu kandidieren.“ 1996 kam ein Anruf aus Bonn, ob er sich vorstellen könne, neben der Anwaltstätigkeit als Referent der Bundestagsfraktion zu arbeiten. Konnte er. Sechs Jahre später kam die Anfrage, ob er nicht für den Bundestag kandidieren wolle. Wollte er. „Die Chance, Abgeordneter im Bundestag zu werden, wollte ich mir nicht entgehen lassen, denn ich habe nur ein Leben und möchte versuchen, daraus das Beste zu machen“, sagt er. Dies sei seine Bestimmung - der „Purpose in meinem Leben, wie meine drei Kinder gern sagen.“ Und weil er schon immer ein Faible für Zahlen hatte und in der Familienkanzlei die Buchführung verantwortete, lag es nahe, die Haushaltspolitik zu seinem Fachgebiet zu machen.
Alle Argumente ernst nehmen, immer auch die andere Seite hören
Zwei Lehren will Otto Fricke aus seiner politischen Karriere - die nicht beendet ist, als ehrenamtlicher Beisitzer des Bundesvorstands bleibt er der FDP bis auf Weiteres erhalten - in den DOSB überführen. „Erstens, wie wichtig Vernetzung ist. Trotz KI ist es wichtig zu wissen, mit wem man reden muss, um schnell die notwendigen Informationen zu erhalten.“ Und zweitens den Satz „Die anderen sind auch nicht dumm“, eine positive Deutung der Tatsache, dass es überall Idioten gibt. „Alle Argumente ernst zu nehmen, das ist ein wichtiger Teil meines Handelns. Audiatur et altera pars, man möge auch die andere Seite hören!“ Wie der Lateiner eben so sagt. Augenzwinkern.
Einen Hang zur Extravaganz kann man Otto Fricke, der für seine vielschichtigen ehrenamtlichen Engagements 2020 das Bundesverdienstkreuz erhielt, durchaus attestieren. Das unterstreicht nicht zuletzt die Wahl seines Lieblingssports. 1992 war er für zwei Monate alleine in die USA gereist, um das Land, das so viele zugleich fasziniert und verstört, verstehen zu lernen. „Wir haben Familienmitglieder in Iowa, die mir schon in den 70er-Jahren Baseball und Football näher gebracht haben. Wer Amerika verstehen will, muss Baseball verstehen, und das habe ich 1992 sehr ausführlich getan“, sagt er. Anfangs waren die Toronto Blue Jays sein Lieblingsteam, schnell aber entschied er sich für die Chicago Cubs, denen er bis heute die Treue hält. Selbst gespielt hat er nur für ein Jahr. „Ich hatte Spaß, aber habe gemerkt, dass ich zu spät angefangen habe.“
Mitglied in drei Sportvereinen und Inhaber einer Gleitschirmlizenz
Ausprobiert hat er viel, er war Schwimmer, Volleyballer, Basketballer, hat Badminton gespielt, hat eine Gleitschirmlizenz und fährt mit großer Begeisterung Ski. Er ist Mitglied beim Crefelder Hockey- und Tennisclub, im SSF Aegir Uerdingen und - als passionierter Wintersportler - beim Skiclub Uerdingen. „Für den Leistungssport hatte ich nicht die notwendige Geduld, ich konnte nie extrem viel Zeit ins Training investieren. Aber ich habe Hochachtung vor allen, die das tun und schaffen“, sagt er. Ohne Leistungsanspruch geht es für Otto Fricke aber auch im Sport nicht. Bevor er am 21. November 60 Jahre alt wird, will er noch das Sportabzeichen ablegen, vielleicht sogar, wenn es klappt, ohne von milderen Vorgaben zu profitieren. „Ich peile Bronze in der Klasse 55 bis 59 an“, sagt er. Augenzwinkern.
Sein Hang zum Außergewöhnlichen zeigt sich auch in seinem Kleidungsstil. Anzüge, gerne auch in modischen Farben, prägen seinen Stil, ebenso wie farblich abgestimmte Krawatte und Kniestrümpfe. „Ich komme aus der Samt- und Seidenstadt Krefeld, da gehört sich das so“, sagt er. Kleidung sei Teil der Kultur, „das, was ich anziehe, ist ein Teil der Professionalität, ich zeige damit, dass ich mir Gedanken gemacht habe“, sagt er. Bei seiner Vorstellung vor den DOSB-Mitarbeitenden am 16. Juli trug er Manschettenknöpfe in Form eines Baseballs. Detailverliebtheit eben, die für einen Menschen, der Wert auf Stil und Kultur legt, Normalität ist. Da passt es ins Bild, dass er seit seiner Jugend fließend Niederländisch spricht, oder dass seine Lieblingsnascherei Lakritze sind. Zu Hause gibt es mehr als drei Schubladen voll Auswahl, wahrscheinlich bald auch im Frankfurter Büro.
Entspannung findet er beim Baseballschauen oder mit einem guten Buch
Auf die Frage, ob es etwas gebe, was er nicht könne, muss Otto Fricke, der sich als überzeugten Christen bezeichnet, der mit seiner evangelischen Kirche aber bisweilen hadere, ein wenig länger überlegen. Er spiele leider kein Musikinstrument, obwohl er so gern Saxofon oder Banjo lernen würde. Auch Tangotanzen habe er nicht drauf. „Außerdem kann ich nicht nicht neugierig sein, und ich kann nicht faul am Strand liegen.“ Work-Life-Balance schließt für ihn ein, die Arbeit als Teil des Lebens zu definieren. Dass dieser Teil in der Vergangenheit nicht immer ausbalanciert war, räumt Fricke, der nach der Trennung von der Mutter seiner Kinder mit neuer Partnerin zusammenlebt, allerdings ein. „Mein Privatleben hat unter meiner Arbeitsfreude bisweilen gelitten, zum Nachteil meiner Familie und Freunde“, sagt er.
Lerneffekt daraus? „Heute entspanne ich am besten bei einem intensiven Gespräch mit meiner Partnerin über Pläne und Träume.“ Oder beim Baseballschauen, einem guten Buch - manchmal auch mit einem Whisky seiner Lieblingsmarke Toki aus Japan. Letzteres aber erst nach 22 Uhr und nur in Gemeinschaft, „denn alleine trinken macht dumm!“ Wer also spätabends Lust auf ein paar knackige Sinnsprüche, Baseball und Hochprozentiges hat: Otto Fricke ist bereit, und das gilt für jede Herausforderung, vor die ihn der organisierte Sport in seiner zunächst auf drei Jahre angelegten Amtszeit stellen wird.