„Einen solchen Spirit habe ich noch nie erlebt“
Karate-Weltmeisterin und World-Games-Siegerin - Johanna Kneer hat die beiden wichtigsten Titel der Saison gewonnen. Im DOSB-Interview blickt sie auf diese Erfolge zurück, ordnet sie ein und beantwortet, ob sie diese noch toppen kann.

09.12.2025

Sechs Jahre war Johanna Kneer alt, als sie im KJC Ravensburg ihr erstes Schnuppertraining im Karate absolvierte. Bis heute ist die 27 Jahre alte Sportsoldatin, die Medien- und Kommunikationsmanagement studiert hat und in Ravensburg lebt, von dem Mix aus Dynamik, Schnelligkeit und mentaler Stärke fasziniert, den der japanische Kampfsport bietet. „Sich keinen Fehler zu leisten und in jeder Sekunde die Spritzigkeit im Kopf zu bewahren, das ist die große Herausforderung“, sagt die Team-D-Athletin. Gemeistert hat die Schwergewichtlerin, die 2013 erstmals in der Jugendnationalmannschaft antrat und seit 2016 zum Auswahlkader zählt, diese Herausforderung im Jahr 2025 in herausragender Weise.
DOSB: Johanna, du schaust auf eine Saison zurück, die kaum besser hätte laufen können, bei der EM kam auch noch Gold mit dem Team dazu. Verrate uns doch bitte: Was hat dazu geführt, dass diese Erfolge möglich wurden?
Johanna Kneer: Komplett reflektiert habe ich es noch nicht, vor allem, weil ich das WM-Gold noch nicht wirklich realisiert habe. Wenn ich die Saison allerdings als Ganzes betrachte, glaube ich, dass der Start mit der gelungenen Qualifikation für World Games und WM sehr viel dazu beigetragen hat, dass ich das Gefühl entwickelt habe, einfach dran zu sein. Die Arbeit mit unserem Bundestrainer Noah Bitsch und meinem Heimtrainer Lazar Boskovic funktioniert sehr gut, die Vorbereitungen liefen optimal, der Körper hat mitgespielt. Was außerdem wichtig ist: Dass wir unserem Credo folgen und an alles mit Spaß herangehen. Ich versuche immer, jeden Wettkampf zu genießen und nicht zu sehr zu verkrampfen. Und das ist mir über weite Strecken echt gut gelungen.
Mit welchem Mindset bist du in die Saison gestartet, die mit den World Games und der WM sehr wichtige Wettkämpfe geboten hat? Hast du die beiden gleichrangig bewertet oder einen klaren Fokus auf einen davon gelegt?
Für mich waren es definitiv zwei gleichrangige Höhepunkte. Ich kann auch im Rückblick nicht sagen, welcher Titel hochwertiger für mich ist. Die World Games finden nur alle vier Jahre statt und haben deshalb natürlich eine besondere Bedeutung. Allerdings sind sie in der Außenwirkung nicht bei allzu vielen Menschen präsent. Mit einer WM, die bei uns im Karate alle zwei Jahre stattfindet, kann dagegen jeder etwas anfangen. Es war immer einer meiner sportlichen Träume, beide zu gewinnen. Das geschafft zu haben, macht mich sehr glücklich.
Für die World Games in Chengdu waren pro Gewichtsklasse nur die besten acht Kämpferinnen der Welt startberechtigt, bei der WM waren es 32. Macht das die Goldmedaille bei den World Games zu einem sportlich hochwertigeren Titel?
Nicht unbedingt. Es macht die Qualifikation schwieriger, und natürlich ist es etwas sehr Besonderes, sich unter den besten acht der Welt durchsetzen zu müssen, zumal der komplette Wettkampf an einem Tag durchgezogen wird. Aber sich bei einer WM zu behaupten, die über drei Tage mit zunächst drei Pool-Kämpfen und anschließender K.-o.-Runde ausgetragen wird, ist sportlich ebenfalls eine sehr hoch einzuschätzende Leistung. Ich würde deshalb beide Titel aus sportlicher Sicht auf einem Level einordnen.
Wie hast du die World Games in China erlebt? Es waren deine ersten, in einer Megacity mit mehr als 20 Millionen Einwohnern und einem kampfsportbegeisterten Land. Welche Eindrücke hast du dort für dein Leben mitgenommen?
Viele, die ewig bleiben werden. Ich hatte noch nie in einem solchen Athletendorf gewohnt, die Atmosphäre dort fand ich faszinierend. Die Eröffnungsfeier war gigantisch, auch so etwas hatte ich noch nie erlebt. Und die Chance gehabt zu haben, auch andere Sportarten zu sehen und mit dem Team D feiern zu können, war gigantisch! Von der Stadt selbst habe ich nicht so viel mitbekommen. Ich möchte aber auch den Teamgeist hervorheben, der in unserer kleinen Mannschaft herrschte. Es waren ja nur Mia Bitsch und ich am Start, nachdem Reem Khamis, die auch qualifiziert war, wegen ihres Kreuzbandrisses nicht antreten konnte. Aber wir hatten zwei Trainingspartnerinnen als Unterstützung dabei, und der gesamte Staff hat einen unfassbaren Job gemacht. Einen solchen Spirit habe ich noch nie erlebt!
Mia hat am Tag vor deinem Wettkampf Gold gewonnen. Hat dich das beflügelt oder unter zusätzlichen Druck gesetzt?
Mir hat das einen enormen Push gegeben. Ich habe mich riesig mit ihr gefreut und hatte danach große Lust, alles zu geben, damit wir mit einer 100-Prozent-Siegbilanz nach Hause fliegen konnten. Und ich bin sehr glücklich darüber, dass an meinem Wettkampftag bei mir einfach alles passte. Auch das gehört dazu, wenn man ganz oben stehen möchte.
Als World-Games-Siegerin zu einer WM zu fahren, sorgt automatisch dafür, dass man als Titelfavoritin antritt. Wie bist du mit diesem Anspruch umgegangen?
Ich habe versucht, ihn nicht an mich heran- und in mir selbst aufkommen zu lassen. Selbstverständlich habe ich gespürt, dass sich die Erwartungshaltung von außen aufgebaut hat. Aber ich habe versucht, bei mir zu bleiben und Schritt für Schritt meine Aufgaben abzuhaken. Die Sommerpause war sehr kurz, aber Anfang September, wenige Wochen nach den World Games, haben wir den Fokus komplett auf die WM gelegt.
Der neue WM-Modus mit drei garantierten Gruppenkämpfen und K.-o.-Modus vom Achtelfinale an ist herausfordernd, auch weil er sich über drei Tage zieht. Wie ist es dir gelungen, deinen Fokus zu halten?
Das war tatsächlich nicht ganz einfach, weil meine Kämpfe erst abends stattfanden und ich den ganzen Tag irgendwie rumbringen musste. Aber ich konnte ausschlafen und habe eine gute Routine gefunden, die ich durchgezogen habe.
Im Finale hast du die Weltranglistenzweite Sofia Berlutsewa aus Kasachstan vorgeführt, der Kampf endete 60 Sekunden vor Ablauf mit 8:0 für dich. War das der perfekte Kampf, von dem jede Athletin in einem Finale träumt?
Da hat wirklich alles gepasst. Ich habe mir vor dem Kampf eingebläut, das Ganze nicht zu groß werden zu lassen. Ich wusste, dass ich eine Medaille sicher hatte, aber natürlich will man in einem Finale dann auch Gold gewinnen. Und dann konnte ich mein Ding von vorn bis hinten durchziehen. Es war meine erste WM-Medaille im fünften Anlauf, das bedeutet mir wirklich unheimlich viel.
Hast du mit den beiden Goldmedaillen im Rücken eine Veränderung in deiner Einstellung ausgemacht? Welche Weiterentwicklung der vergangenen Monate schätzt du als die wichtigste ein?
Dass ich mich nicht mehr aus meinem Konzept bringen lasse, auch nicht von Rückständen. Ich ziehe meinen Stil bis zum Schluss durch, und das hilft mir, Kämpfe drehen zu können. Wenn man sich regelmäßig gegen die Topleute durchsetzt, gibt das Selbstvertrauen. Und ohne dieses Vertrauen wären die Erfolge dieser Saison nicht möglich gewesen.
Du trainierst regelmäßig mit Männern. Hat das deinen Kampfstil geprägt oder verändert? Und warum ist das Schwergewicht über 68 Kilo für dich das bessere Limit als die Klasse bis 68 Kilo, in der du auch schon angetreten bist?
Ich glaube, dass meine Athletik und Dynamik im Schwergewicht am besten zur Geltung kommen, deshalb wird das meine Gewichtsklasse bleiben. Das Training mit Männern hat definitiv dazu beigetragen, dass ich durchsetzungsstärker geworden bin. Ich habe das schon im Jugendalter gemacht, und ich finde es wichtig, dass bei uns im Team keine Unterschiede gemacht werden. Wir machen viele Einheiten zusammen, und ich für meinen Teil kann sagen, dass ich davon profitiere.
Nun bist du in der kommenden Saison definitiv die Gejagte. Fragst du dich schon, wie du das Jahr 2025 noch toppen kannst?
Klar, die Frage habe ich mir schon gestellt. Die Erwartungshaltung ist sicherlich hoch, aber wir müssen einfach weiter fleißig sein und das Beste geben. Den Status der Gejagten lasse ich nicht groß an mich herankommen, ich schenke dem, was von außen kommt, nicht viel Beachtung und versuche den Fokus bei mir zu behalten. 2026 haben wir als sportlichen Höhepunkt die Heim-EM in Frankfurt. Bei der EM in diesem Jahr in Armenien haben wir als Verband sehr gut abgeschnitten und unter anderem Team-Gold gewonnen. Der Blick geht schon etwas in Richtung Heim-EM, aber jetzt freue ich mich aber erst einmal auf etwas Pause und die Weihnachtszeit.
2029 finden die World Games in Karlsruhe statt. Planst du bis dahin, oder ist noch nicht klar, ob du noch vier Jahre weitermachst?
Keine Frage, World Games in Deutschland sind ein sehr reizvolles Ziel. Dank meines Platzes in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, den ich seit 2017 habe, kann ich mich komplett auf den Sport konzentrieren. Ohne diese Unterstützung wären die Erfolge nicht möglich gewesen. Das nächste Ziel ist aber erst einmal die Heim-EM 2026, danach schauen wir weiter.
Dann erst einmal gute Erholung, viel Erfolg für die kommende Saison und besten Dank für das Gespräch!

