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„Erinnern Sie sich noch an Headis?“

Jürgen Mittag (55), Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung und Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, spricht über die Entstehung von Trends, deren Bedeutung für den Sport, seine Sympathie für Plogging - und verrät, welcher deutschen Erfindung er den Weg zum Massenphänomen zutraut.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

09.06.2025

Weihnachtsmänner beim Stand-up-Paddling
Selbst im Winter ist Stand-up-Paddling beliebt, in Berlin betreiben es sogar die Weihnachtsmänner.

DOSB: Herr Professor Mittag, zum Einstieg sollten wir einmal die Grundlagen klären: Wie lautet die genaue Definition von Trendsport?

Jürgen Mittag: Das ist weder ganz einfach noch eindeutig, da es eine allgemeingültige und trennscharfe Trendsportdefinition bis heute nicht gibt. Trendsport ist ein Kompositum aus unterschiedlichen Bereichen, die bisweilen nach neu entwickelten Sportgeräten wie Padel-Tennis oder Spikeball), nach naturräumlichen Begebenheiten wie Snowboardfahren oder Windsurfen und bisweilen auch nach Motiven wie etwa Funsport, Extremsport, Abenteuersport) differenziert werden. In einem grundsätzlichen Verständnis kann man Trendsportarten als neue sportliche Bewegungsformen definieren, die primär von jungen Menschen in informellen, unreglementierten Kontexten praktiziert und erlebnisorientiert ausgeübt werden. Trendsportarten erfreuen sich dabei über einen längeren Zeitraum hinweg zunehmender Beliebtheit und werden von den Aktiven oftmals in ihren Lebensstil eingebunden und betont inszeniert. Definitorische Grenzen verschwimmen aber, da nicht jeder Extremsport im Trend liegt, wenn man beispielsweise an Höhlentauchen oder Eisklettern denkt.

Dann vielleicht so gefragt: Wann wird aus einer Trendsportart ein etablierter Sport?

Seitens der wissenschaftlichen Forschung sind übergeordnete Phasen identifiziert worden, die Trendsportarten gemein haben. Die erste Phase ist die Einführung einer Sportart von Pionieren, die diese entdeckt oder erfunden haben. Im zweiten Schritt gelingt die Verbreitung in einem engeren sozialen Milieu, aus dem heraus in Phase drei die Erweiterung in ein breiteres, etabliertes Milieu folgt. Die vierte Phase ist die der Reife, die von einem verstärkten Medieninteresse und der Austragung von regelmäßigen Wettbewerben geprägt wird. In Phase fünf sehen wir die Etablierung als anerkannte gesellschaftliche Praxis inklusive Marktsättigung. Und der Peak wäre als letzte Phase die Aufnahme in den olympischen Kosmos, wobei damit auch die World Games als Weltspiele der nicht-olympischen Sportarten gemeint sein können.

Wie viele Trendsportarten gibt es aktuell, wie viele kommen Jahr für Jahr dazu und verschwinden auch wieder?

Das lässt sich nicht präzise beziffern, da sich Trendsportarten fortlaufend verändern – neue Sportarten entstehen, andere verlieren an Popularität oder etablieren sich dauerhaft. Schätzungen gehen von mehreren Dutzend bis über 100 verschiedenen Trendsportarten aus, je nach Definition und Betrachtungszeitraum. Eine Systematik von Sportarten ist aber auch grundsätzliche eine Herausforderung: In den 70er-Jahren ging man noch von 40 bis 50 Kernsportarten aus. Heute haben wir eine deutliche stärkere Ausdifferenzierung, im Wikipedia-Artikel zu Sportarten finden sich allein rund 500 Sportarten, von einigen wird man dabei noch nie gehört haben. Die Frage hierbei ist: Wo zieht man die Grenze zwischen einer Hauptsportart und ihren Varianten oder Subformen? Ist Padel etwa ein eigener Sport oder eine Unterform von Tennis oder Squash? Diese Diskussionen werden regelmäßig geführt und machen eine exakte Quantifizierung der Trendsportarten unmöglich.

Wer entscheidet eigentlich, ob ein Sport als Trendsport gilt? Gibt es dafür bestimmte Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen?

Nein, eine offizielle Anerkennung als Trendsport gibt es nicht, man kann aber die Triebkräfte  zur Verbreitung und Etablierung näher beleuchten. Wenn man das Phasenmodell zugrunde legt, ist für die Trendsportaktivität der Schritt von Phase drei zu vier entscheidend, also ob es zu einem verstärkten Medieninteresse und regelmäßigen Wettkämpfen kommt. Man kann aber nicht für alle Fälle generalisieren, welche Mechanismen wirksam werden müssen, damit sich eine Trendsportart behauptet. Zentral ist eine jugendkulturelle Szene, die dazu beiträgt, einen lebensstilerzeugenden Trend zu popularisieren, der dann eine breitere Gesellschaftsschicht durchdringt.

Das bedeutet, dass Trends primär von der jungen Generation gesetzt werden?

Das kann man so sagen. In der Altersstufe 16 bis 25 ist die größte Bereitschaft vorhanden, sich zu erproben, abzugrenzen und ein gewisses Risiko einzugehen. Diese Dinge begünstigen das Entstehen von Trends. Aber Trendsport ist nicht ausschließlich der Jugend vorbehalten. Wenn wir auf Yoga schauen – ein Sport, der jahrhundertealte Wurzeln besitzt, dessen moderne Formen wie Power Yoga, Aerial Yoga oder Hot Yoga aber durchaus trendsportähnliche Züge aufweisen, dann sehen wir eine Verbreitung auch in älteren Generationen.

Sind die sozialen Medien ein wichtiger Treiber von Trendsportarten, oder spricht das Beispiel Aerobic, das in den 80er-Jahren weltweit populär war, gegen diese These?

Beides ist richtig. Social Media hat ohne Zweifel eine hohe Bedeutung, weil darüber Trends viel schneller und mittlerweile auch über Ländergrenzen und sprachliche Kommunikationsräume hinweg breiter vermittelt werden können. Aber Aerobic ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass Trends sich auch schon vor dem Zeitalter des Internets weltweit verbreiten konnten, wenn die Medienpräsenz hoch genug war. Die Schallplatten und Videos, auf denen Jane Fonda in den USA und in Deutschland vor allem Sydne Rome ihre Fitnessübungen vortanzten und erklärten, stürmten seinerzeit die Charts. Ich will aber auch auf eine jüngere Entwicklung hinweisen, der Trends heute ausgesetzt sind. Durch die anhaltende Individualisierung der Gesellschaft und die kommunikative Fragmentierung kann es – trotz der Reichweite der sozialen Medien –  auch schwieriger werden, einen Massentrend zu erzeugen. Dennoch ist unstrittig, dass ihre Bedeutung für den Trendsport beträchtlich ist.

Woher kommen denn die meisten Trendsportarten?

Rückblickend sind die USA dank ihrer Verbindung zwischen Subkulturen, Lebensstil, einem vor allem für Outdoorsportarten sehr förderlichen Klima und der beträchtlichen Unterstützung der Sportindustrie der größte Trendsetter mit den günstigsten Rahmenbedingungen für Neuentwicklungen. Aber ihre ausschließliche Dominanz ist ins Hintertreffen geraten. Dies auch, weil mit Red Bull ein in Europa ansässiger Konzern den Trendsport als Marketingtool entdeckt hat. Vom Downhill Mountainbiking bis hin zum Cliff Diving werden eine Fülle von Aktivitäten und Events gefördert, die nicht zuletzt im Extrem-und Actionsport verankert sind.  Angesichts der digitalen technischen Entwicklung wird auch Fernost zu einem immer wichtigeren Player im Trendsport, namentlich im E-Sport. Die Verbreitung ist auf jeden Fall differenzierter und vielschichtiger geworden. Festzuhalten ist aber auch, dass das Feld Trendsport in der Wissenschaft nicht mehr die Aufmerksamkeit erhält, die es Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre hatte. Da wurde der Erfolg zum Malus, durch die Ausdifferenzierung und Individualisierung ist es immer schwieriger geworden, Trends wissenschaftlich greifbar zu machen.

  • Ein Mann mit Mikrofon vorm Mund

    Auf jeden Fall erleben wir, wie der technische Fortschritt das Zusammenleben verändert, da ist der Sport ein Spiegel der Gesellschaft. Wir sehen eine klare Tendenz zur Flexibilisierung und Individualisierung, in der der klassische Vereinssport weniger Relevanz erfährt.

    Jürgen Mittag
    Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung
    Deutsche Sporthochschule Köln

    Wo reiht sich Deutschland in puncto Trendsportentwicklung ein?

    Im guten Mittelfeld, würde ich sagen. Von Fußball-Golf bis hin zu Crossboccia sind aus Deutschland immer wieder wichtige Impulse gekommen. Manche kennen vielleicht auch Headis. Hier wird der Fußball mit dem Kopf über eine Tischtennisplatte gespielt, eine Funsportart erfunden in der Region um Kaiserslautern. Diese Trendsportart ist zum Ende der 2000er-Jahre von Deutschland aus nach Österreich, Schweiz, Frankreich, Japan und in die USA  übergeschwappt, hat sich aber letztlich bislang nicht global durchgesetzt. Ein aktuelles Beispiel ist der Fitnesswettkampf Hyrox, erfunden 2017 in Hamburg von Hockey-Olympiasieger Moritz Fürste und vom Fitnessexperten Christian Toetzke. Ein Sport mit dem Potenzial für eine Massenbewegung, dem ich zutraue, sich zum etablierten Sport zu entwickeln. 

    Welche Trendsportarten haben in den vergangenen zehn, 20 Jahren den Sprung zum etablierten Sport überhaupt geschafft?

    Exemplarisch sind hier in erster Linie Beachvolleyball und Snowboard zu nennen, die es aus der Nische ins olympische Programm geschafft haben. Gleiches gilt für das Windsurfen, das in seinen neuen Varianten Kite und Foil zudem immer breitere Zielgruppen erschließt.

    Wie beurteilen Sie denn grundsätzlich die Aufnahme von Trendsportarten ins olympische Programm, wie zum Beispiel Breaking jüngst in Paris? Für wen bringt das den meisten Nutzen?

    Tatsächlich verliert Trendsport durch die Aufnahme ins olympische Programm wichtige Alleinstellungsmerkmale, deshalb wird das von vielen Anhängern der Sportarten ja auch kritisch gesehen. Das Internationale Olympische Komitee weiß aber, dass es von Veränderung lebt und sich an die Trends der Gesellschaft ein Stück weit anpassen muss, ohne das Olympiaprogramm unbegrenzt erweitern zu können. Für beide Seiten stecken selbstverständlich auch mediale und kommerzielle Interessen hinter der Aufnahme. Ich sehe das Ganze deshalb ganz pragmatisch. Persönlich bin ich ein Freund davon, dass die Ausrichterstädte eigene Sportarten einbringen können, die regionale Trends aufnehmen, so wie 2021 in Tokio Karate oder 2028 in Los Angeles Flag Football oder Lacrosse.

    Welche war die am meisten gehypte Trendsportart der vergangenen zehn Jahre? Und gibt es eine, die trotz großer Erwartungen wieder verschwunden ist?

    Neben Paddle und Pickleball ist Stand-up-Paddling sicherlich eine Sportart, um die es einen großen Hype gibt. Wenn Discounter entsprechende Sportgeräte anbieten, ist das ein guter Indikator dafür, dass ein Sport den Geschmack der Masse trifft. Zur zweiten Frage kann ich einige anführen, die zwar nicht verschwunden sind, aber doch an Beliebtheit eingebüßt haben. Das gilt zum Beispiel für Nordic Walking, Ende der 90er-Jahre ein absoluter Hit und heute eher selten zu beobachten. Ebenso Inline-Skating oder einige Kampfsportarten wie Karate, das in den 1970er-Jahren mit den Bruce-Lee-Filmen durchgestartet ist, aber als etablierte Kampfkunst mit langer Tradition keine klassische Trendsportart ist. Ein weiteres Beispiel ist Aquafitness, das galt in den 90er-Jahren ebenfalls als kommende Massenbewegung und wird heute vorrangig noch im Rehasport betrieben.

    Welcher aktuellen Trendsportart trauen Sie zu, ein Dauerbrenner zu werden?

    Ich glaube, dass Parcours und Slackline dank ihrer stark informellen Ausrichtung im Breitensport ihren Weg in Richtung etablierter Sport beibehalten werden. Das Gleiche gilt für Indoor-Cycling, eine Sportart, die im Zuge der Individualisierung auch durch die Pandemie deutlich an Beliebtheit gewonnen hat.

    Welche Rolle spielt dahingehend überhaupt die Digitalisierung? Der Trend, dass Menschen zu Hause vorm Bildschirm Sport treiben, hat sich auch nach der Pandemie behaupten können, oder?

    Auf jeden Fall erleben wir, wie der technische Fortschritt das Zusammenleben verändert, da ist der Sport ein Spiegel der Gesellschaft. Wir sehen eine klare Tendenz zur Flexibilisierung und Individualisierung, in der der klassische Vereinssport weniger Relevanz erfährt. Heimfitness hat eine deutlich gesteigerte Bedeutung. Und da bringt die technische Entwicklung eine zweite Dimension ein. Virtuelle Welten auch für das Erleben von Sport zu schaffen ist längst normal geworden, da müssen wir nicht mehr von einem Trend sprechen. Was virtuelle Welt und künstliche Intelligenz betrifft, ist noch längst kein Ende abzusehen.

    Auf welchen Gebieten sind Trends noch so wichtig wie im Sport?

    In der Mode sind sie noch wichtiger, da erleben wir eine Dynamisierung, die an Rasanz kaum zu überbieten ist. Hier wird mittlerweile in einem Rhythmus von zwei bis drei Monaten gedacht und Mode gewechselt. Auch in der Technik sind Trends enorm verbreitet, denken Sie nur daran, wie rasant sich Apps entwickeln und wie schnell die Handy-Modelle wechseln. Mit Abstrichen würde ich auch die Musik nennen. Aber dass der Sport ein so wichtiges Feld für Trends ist, unterstreicht die Bedeutung, die er mittlerweile für die Gesellschaft hat.

    Welcher Trendsport hat Sie denn so richtig abgeholt?

    Ich bin tatsächlich sehr begeistert von Stand-up-Paddling, weil ich Wassersport liebe und mich darüber freue, dass hier – vor allem mit aufblasbaren SUP-Boards mit verhältnismäßig überschaubarem Gewicht – eine Kombination von körperlichem Training und Naturerlebnis in unterschiedlichen Räumen praktiziert werden kann, die mit Ruderbooten oder Kajaks nicht möglich ist.

    Dann bitten wir zum Abschluss noch um einen Geheimtipp. Welcher Sport, den noch kaum jemand kennt, wird in den kommenden Jahren zum absoluten Trend?

    Da muss ich wohl leider enttäuschen – berechtigte Anwärter wie Gravel-Biking oder Callistenics sind ja bereits recht bekannt. Wenn ich aber eine etwas weniger realistische Option anführen kann, wäre dies Plogging. Dies ist eine Mischform aus Joggen und Müllsammeln – in der schwedischen Sprache bedeutet „plocka“ aufheben –, bei der die Läuferinnen und Läufer regelmäßig ihre Runden unterbrechen, um am Wegesrand Unrat zu sammeln. Das ist ein wunderbares Beispiel für eine aus Schweden kommende, zugegeben etwas stärker ideologisch dominierte Form des Trendsports, der ich aus Gründen der Wirkung für die Allgemeinheit ein möglichst großes Wachstum wünsche.

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