„Hinfallen und wieder aufstehen, das gehört zum Leistungssport wie zum Leben“
Judo-Weltmeisterin Anna-Maria Wagner beendet am Sontag ihre Karriere. Im Abschiedsinterview spricht sie über ihr Vermächtnis für den Sport, die prägenden Momente ihrer Laufbahn und die Bedeutung von Olympischen Spielen in Deutschland.

20.10.2025

Wuppertal ist der Ort, dem die besondere Ehre zuteilwird, den letzten Kampf von Anna-Maria Wagner zu erleben. Mit der TSG Backnang tritt die 29-Jährige, die in der Gewichtsklasse bis 78 Kilogramm 2021 in Budapest und 2024 in Abu Dhabi Judo-Weltmeisterin war, am 26. Oktober in der Unihalle Wuppertal zum Final-Four-Turnier um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft an. „Im Idealfall sind es noch vier Kämpfe, die ich natürlich alle gewinnen möchte“, sagt die zweifache Bronzemedaillengewinnerin (Einzel und Mixed-Team) der Olympischen Spiele 2021 in Tokio. Im Halbfinale wartet TSV Hertha Walheim, das zweite Semifinale bestreiten JC 66 Bottrop und JSV Speyer. Das Finale findet am selben Tag statt. Wie sie sich auf ihren Abschied vorbereitet hat und wie sie die Höhen und Tiefen ihrer eindrucksvollen Karriere einordnet, darüber spricht die in Weingarten geborene Spitzenathletin im DOSB-Abschiedsinterview.
DOSB: Anna-Maria, du hast dein Karriereende bereits im Frühjahr bekannt gegeben. War das im Rückblick die richtige Entscheidung, weil du dich so besser vorbereiten konntest, oder hat es dich angestrengt, so viel über das Thema reden zu müssen?
Anna-Maria Wagner: Für mich kann ich als Fazit ziehen, dass es gut war, dass ich ausreichend Zeit hatte, mich zu verabschieden, und dass nicht alles auf einen Schlag geballt kommt. Es gab für mich allerdings auch keine Alternative zu der Entscheidung, denn ich kann solche persönlich sehr einschneidenden Dinge nicht für mich behalten. In dem Moment, in dem ich gespürt habe, dass das Thema Abschied immer größer für mich wurde, wollte ich mit offenen Karten spielen und es kommunizieren.
Wie hast du denn die vergangenen Monate erlebt? Verändert sich etwas am Mindset als Athletin, wenn man weiß, dass es die letzten Karrieremonate sind?
Spätestens seit der Militär-WM Ende Juni in Warendorf, wo ich in meinem letzten internationalen Wettkampf noch einmal Gold gewinnen konnte, genieße ich es sehr, dass es nun dem Ende zugeht. Ganz besonders spüre ich das im Training. Jahrelang hatte ich das Privileg, dass mir als Kaderathletin Trainingspartnerinnen zur Verfügung standen, um mich perfekt vorbereiten zu können. Jetzt hat es einen Rollentausch gegeben, ich übernehme immer häufiger die Rolle der Partnerin, und ich empfinde das als eine sehr gute Gelegenheit, schon jetzt ein wenig von dem zurückgeben zu können, was ich bekommen habe.
Noch ist es sportlich allerdings nicht ganz vorbei, du hast am kommenden Sonntag noch das DM-Finale mit deinem Verein vor dir. Hast du schon Bilder im Kopf, wie du dir diesen letzten Kampftag vorstellst?
Natürlich wünsche ich mir, dass ich all meine Kämpfe gewinne und maximal zum Teamerfolg beitragen kann. Ich hoffe aber vor allem, dass ich den letzten Kampftag genießen kann. Ich habe mich mit anderen Sportlerinnen und Sportlern ausgetauscht, die ihre Karrieren beendet haben, und die haben mir dazu geraten, das Ganze bestmöglich zu genießen. Deshalb versuche ich mit einer gewissen Lockerheit daranzugehen. Ansonsten habe ich aber nichts geplant. Ich gehe davon aus, dass ich vom Verband verabschiedet werde, und ich werde mich auch darauf vorbereiten, ein paar Worte zu sagen. Alles Weitere lasse ich auf mich zukommen.
Für viele Athlet*innen, die ihre Karriere beenden, ist die größte Hürde der Fakt, dass plötzlich der Lebensinhalt fehlt, über den man sich am stärksten definiert hat. Diesen Prozess hast du nach den Olympischen Spielen 2021, als du im Zuge deiner post-olympischen Depression viel über dieses Thema nachgedacht hast, schon einmal durchlaufen. Hast du dadurch jetzt weniger Sorge vor dem berüchtigten schwarzen Loch?
Tatsächlich habe ich davor gar keine Angst, und das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass ich diese Themen vor ein paar Jahren schon ausführlich in meinen Gedanken bewegt habe. Ich weiß, dass ich nicht nur die Anna-Maria bin, die eine gute Leistungssportlerin ist, sondern auch abseits der Matte ein wertvoller Mensch sein kann. Mein Karriereende wird kein extremer Cut sein, ich habe mich Stück für Stück daran gewöhnen können, dass sich das Kapitel Leistungssport dem Ende zuneigt. Das war eine gute Vorbereitung und hilft mir extrem, gut damit umzugehen.
Glaubst du, dass es im Kampfsport noch einmal schwieriger ist, den Sport aufzugeben, weil es kaum möglich ist, das Element des Kampfes Frau gegen Frau durch etwas anderes zu ersetzen? Wettkampf ist auch auf anderer Ebene möglich, aber ein Kampf im Wortsinn nicht.
Das stimmt, dennoch glaube ich nicht, dass ich das Kämpfen vermissen werde. Ich habe mein gesamtes Leben dem Judo gewidmet, ich habe es geliebt und würde es immer wieder so machen. Aber jetzt bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich merke, dass es reicht und andere Dinge für mich wichtiger werden. Die Wettkämpferin in mir werde ich allerdings nicht hinter mir lassen. Diesen Ehrgeiz, in allem, was ich tue, sehr gut und möglichst die Beste sein zu wollen, bekommt man nicht mehr aus mir heraus. Und ich glaube auch, dass es mir guttut, Ziele zu haben und dafür zu kämpfen. Ich schließe auch nicht aus, dass ich wieder in einen Verein gehe und vielleicht eine andere Sportart ausprobiere. Aber zunächst geht meine gesamte Energie künftig in mein Studium und den Sprung ins Berufsleben. Ich studiere BWL und Hotelmanagement und möchte in dieser Richtung auch künftig hauptberuflich tätig sein. Mein nächster Kampf ist also gewissermaßen ich gegen die Uni…
Woran hast du gemerkt, dass es Zeit ist, die Karriere zu beenden?
Daran, dass ich nicht mehr bereit bin, dauerhaft über die Komfortzone hinaus zu trainieren, jeden Tag 150 Prozent zu geben und alles auf diesen Sport zu setzen. Das Feuer brennt nicht mehr so. Außerdem ist es ein Privileg, komplett selbstbestimmt diese Entscheidung treffen zu können. Ich bekomme von mir selbst gespiegelt, dass es die richtige Entscheidung ist, denn es fühlt sich einfach gut an.
Bevor wir über deine sportlichen Erfolge sprechen, lass uns bitte auf das schauen, was dein Vermächtnis ist, das du dem Sport hinterlässt. Du wirst vielen vor allem dafür in Erinnerung bleiben, dass du nach Olympia 2021 sehr offen über deine mentale Gesundheit gesprochen hast und diesem Thema bis heute eine hohe Wichtigkeit einräumst. Was nimmst du aus dieser Erfahrung mit?
Zunächst möchte ich sagen, dass ich mich manchmal schwer damit tue, mich als einen Menschen zu sehen, der etwas hinterlässt. Im Großen und Ganzen freut es mich aber sehr, dass ich meine Vorbildfunktion anscheinend gut erfüllt habe. Wenn ich nur einem oder zwei Menschen mit meiner Offenheit habe helfen können, macht mich das sehr glücklich. Ich freue mich auch darüber, dass ich Werbung für Judo machen konnte. Ich habe immer versucht, meinen Sport bestmöglich zu repräsentieren, und mich haben sehr viele Nachrichten erreicht, die mir gezeigt haben, dass ich andere Menschen berühren oder motivieren konnte. Das freut mich riesig, es ist ein schönes Gefühl. Ich gebe sehr gern Training für Kinder oder auch für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, weil ich spüre: Das bin ich, dafür möchte ich stehen! Für mich persönlich habe ich aus der Phase nach Tokio gelernt, mehr auf mein Herz und mein Bauchgefühl zu achten. Ich bin achtsamer geworden, spüre deutlicher, was mir guttut und was nicht, und auf welche Signale, die der Körper sendet, ich hören sollte.
Hast du in Erwägung gezogen, hauptberuflich im Sport zu bleiben, als Trainerin oder in anderer Rolle?
Hauptberuflich möchte ich in Richtung Hotellerie gehen. Aber so lange ich gefragt werde, möchte ich auch weiterhin Training geben. Auch Vorträge darüber zu halten, wie wichtig die mentale Gesundheit für den Erfolg im Sport, aber auch im Leben generell ist, könnte ich mir vorstellen. Ich bleibe Botschafterin für Special Olympics in NRW, das ist mir eine Herzensangelegenheit. Ich werde dem Sport immer verbunden bleiben, aber ich möchte mir auch nicht zu viel aufladen.
2024 hast du bei den Olympischen Spielen in Paris gemeinsam mit Dennis Schröder das Team D als Fahnenträgerin bei der Eröffnungsfeier angeführt. Als du die Nachricht bekamst, bist du in Tränen ausgebrochen. Überstrahlt diese Auszeichnung sogar deine größten sportlichen Erfolge?
Es war jedenfalls emotional das größte Erlebnis. Es war ein extrem harter Weg gewesen, um es überhaupt nach Paris zu schaffen. Nach den Spielen von Tokio war ich einige Male kurz davor aufzugeben. Ich habe aber immer weitergemacht und mit dem WM-Gold nur acht Wochen vor den Spielen von Paris die Qualifikation gesichert. Für mich war es schon der Hammer, überhaupt als potenzielle Fahnenträgerin nominiert zu werden. Ich habe mich gefragt: Es gibt so viele tolle Sportlerinnen, wie hast du es bitte in diese Auswahl geschafft? Als dann der Anruf kam, dass ich tatsächlich gewählt worden bin, war das wie die Kirsche auf der Torte. Ich hatte diese ganze Reise vor Augen und war sprachlos, total überwältigt und musste vor Glück weinen. Es war komplett surreal für mich, aber etwas ganz, ganz Besonderes!
Wie erinnerst du den Abend der Eröffnungsfeier? Minutiös oder eher wie im Rausch?
Ich weiß noch, dass wir früh auf das Boot gegangen sind und ich mich dort mit sehr vielen Menschen unterhalten habe. Aber von dem Moment, als es losging, bis zur Rückkehr weiß ich nur noch, dass mich die Menschenmassen am Ufer der Seine beeindruckt haben, dass die Leute trotz des schlechten Wetters dort in großen Mengen standen. Ich konnte es zwar schon genießen, aber es ging wahnsinnig schnell vorbei.
Was bleibt, sind Medaillen als Ausdruck sportlicher Erfolge. Sind es im Rückblick diese Medaillen, die auch die wichtigsten Momente deiner Karriere markieren, oder gibt es da etwas anderes, das du als besonders prägend in Erinnerung behalten wirst?
Für mich sind schon die Medaillen die wichtigsten Momente, aber ich verbinde mit ihnen vor allem den Weg, den ich gehen musste, um sie zu gewinnen. Gerade der WM-Titel von 2024, der mir die Teilnahme an den Spielen in Paris ermöglicht hat, strahlt besonders. Der Titel war mir im ersten Moment egal, mein erster Gedanke war: Du hast es nach all den harten Phasen noch einmal zu den Olympischen Spielen geschafft! Ich betrachte Medaillen als Ergebnis eines langen Wegs, der nicht immer bergauf geht, sondern Höhen und Tiefen hat. Hinfallen und dann wieder aufstehen, das gehört zum Leistungssport wie zum Leben. Die Medaille ist dann das Zeichen dafür, dass man nie aufgegeben hat. Deshalb habe ich den Bildband, den ich nach den Spielen von Paris herausgegeben habe, auch „Am Ende zahlt sich alles aus“ genannt. Am Ende wird alles gut, und wenn nicht alles gut ist, ist es noch nicht das Ende.
Dann ziehe doch bitte zum Ende deiner Karriere ein Fazit: Warum lohnt sich der Weg durch den Leistungssport, und was nimmst du daraus für den neuen Lebensabschnitt mit?
Die wichtigsten Eigenschaften, die man im Sport lernt, sind allesamt für das Leben wichtig: Sich Ziele zu setzen, ohne die es keine Motivation dafür gäbe, jeden Tag aufzustehen. Die Disziplin, die es braucht, um diese Ziele jeden Tag zu verfolgen. Und das Durchhaltevermögen, dass es braucht, wenn es hart wird und man ein Zwischenziel auch mal nicht erreicht. All das werde ich mitnehmen. Was ich bedaure: Dass ich ein Stück weit verlernt habe, Erfolge zu genießen, weil es einfach immer weiter geht. Ich glaube, dass man erst mit etwas Abstand wirklich einordnen kann, was man erreicht hat. Ich weiß heute, dass man Erfolg ganz anders genießen kann, wenn man auch den Misserfolg gespürt hat. Wenn ich in ein paar Jahren alles Revue passieren lasse, kann ich viele Dinge bestimmt noch einmal ganz anders bewerten und einfach stolz sein.
Gibt es einen sportlichen Traum, der unerfüllt geblieben ist?
Olympisches Gold hätte ich schon noch gern gewonnen, weil ich weiß, dass ich sportlich dazu in der Lage gewesen wäre. Aber ich bin auch mit zwei Bronzemedaillen glücklich und habe wirklich sehr, sehr viel mitgenommen.
Olympische Spiele in Deutschland zu erleben, ist dir als Athletin nicht vergönnt gewesen. In welcher Form würdest du dich in die Bewerbung um die Ausrichtung der Spiele 2036, 2040 oder 2044 einbringen, und warum ist diese Bewerbung wichtig?
In Paris haben wir erlebt, wie nahbar die Olympischen Spiele sein können. Mit einer Ausrichtung in Deutschland könnten wir das ganze Land erreichen, es würde dem gesamten Land guttun. Sport verbindet und vereint und gibt der Gesellschaft eine Identität. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich das Team D auch künftig unterstützen könnte. In welcher Rolle, das lasse ich offen, ich bringe mich dort ein, wo man mich gebrauchen kann. Aber ich würde auch als klassische Zuschauerin kommen.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für den letzten Kampftag und die Zeit, die danach kommt!