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„Ich bin ein gutes Herdentier, das auch gern mal folgt“

Timo Boll hat das internationale Tischtennis geprägt wie kein deutscher Spieler vor ihm. Nun hat er seine Karriere beendet und spricht im Abschiedsinterview mit dem DOSB über das, was bleibt, und das, was nun kommt.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

20.06.2025

Ein Tischtennisspieler klatscht in die Hände
Am vergangenen Sonntag verabschiedete sich Timo Boll ein letztes Mal von seinen Fans. Mit Borussia Düsseldorf verlor er das DM-Finale in Frankfurt mit 2:3 gegen Ochsenhausen.

Der letzte mögliche Titel blieb Timo Boll verwehrt. Zwei leidenschaftliche Kämpfe – im Einzel gegen Hugo Calderano, im Doppel an der Seite von Anton Källberg gegen Shunsuke Togami und Simon Gauzy – lieferte der 44-Jährige noch einmal ab, Punkte allerdings konnte er seinem Verein Borussia Düsseldorf zum Abschied nicht mehr schenken. Das Finale um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft ging am vergangenen Sonntag in der Frankfurter Süwag Energie Arena mit 2:3 gegen die TTF Liebherr Ochsenhausen verloren. So richtig störte das allerdings niemanden. Ein letztes Mal wurde der Rekordeuropameister und mehrfache Weltranglistenerste, der an sieben Olympischen Spielen teilgenommen hat, von seinen Fans frenetisch gefeiert. Wenige Tage nach dem letzten Match seiner Karriere nahm sich Timo Boll Zeit für ein Abschiedsgespräch mit dem DOSB.

DOSB: Timo, du hast eine lange Abschiedstour mit vielen emotionalen Erlebnissen hinter dir. Wie ist nun, wenige Tage nach dem letzten Aufschlag, deine Gefühlslage?

Timo Boll: Ich bin immer noch total geflasht von den Erlebnissen am Sonntag. Emotional war das ein kolossaler Abschluss, da haben sich Wahnsinnsszenen abgespielt, deren Bilder ich noch lange im Kopf behalten werde. Für jemanden, der trotz aller Erfahrung nicht so gern im Mittelpunkt steht, war das in der Form schon heftig. Am Montag war ich komplett out of order, aber nicht vom Spielen, sondern weil die mentale Verarbeitung Zeit benötigte. Ich glaube, das war das Maximum, das möglich war. Dass das Spiel letztlich verloren ging, war schon kurz danach fast vergessen.

Gab es in den vergangenen Monaten einen Moment, der dich emotional über die Grenze des Verkraftbaren gebracht hat?

Verkraftet habe ich das alles schon, verarbeitet aber sicher noch nicht. Es begann eigentlich bereits im April vergangenen Jahres, als ich mein letztes Turnier in China spielte. Da habe ich die erste geballte Ladung an Zuneigung bekommen. 12.000 Zuschauer in der Halle haben meinen Namen gerufen. Ich hatte schon erwartet, dass ich dort überschwänglich verabschiedet werden würde, aber dass es so geballt kommt, war unerwartet. Noch krasser hat es mich bei den Olympischen Spielen in Paris überrascht. Dort saß ja kein Fachpublikum in der Halle, sondern ein gemischtes, mit Sportfans, die sich nicht alle im Tischtennis auskennen. Und dann steht da trotzdem die ganze Halle und feiert mich! Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Dass es bei meinem letzten Spiel so abgehen würde, war mir schon eher klar, deshalb hatte ich auch einen ziemlichen Bammel vor dem Tag. Ich wusste einfach nicht, wie ich reagieren würde, denn beim letzten Spiel der Karriere in der Heimat multipliziert sich die Gefühlslage. Da kann es einen schnell zerreißen.

Du bist oft gefragt worden, ob du dich vor dem berüchtigten tiefen Loch fürchtest, in das besonders erfolgreiche Sportler*innen nach dem Karriereende zu fallen drohen. Was macht es mit dir zu wissen, dass du im Leben höchstwahrscheinlich nichts mehr so gut können wirst wie Tischtennisspielen?

Niemand kann wissen, wie es mir damit in ein paar Monaten gehen wird. Aber ich bin überzeugt davon, dass ich darauf vorbereitet bin. Mir ist schon klar, dass es nie wieder so kribbeln wird wie im Sport. Aber ich versuche, dankbar zu sein für alles, was ich erleben durfte. Mir ist am vergangenen Sonntag wieder einmal klar geworden, was für ein Glück ich hatte, dass ich über eine so lange Zeitspanne mein Hobby zum Beruf machen durfte und damit nicht nur unglaublich tolle Erfolge feiern und interessante Menschen kennenlernen konnte, sondern auch anständig verdient habe. Ich weiß das sehr zu schätzen! Gleichzeitig ertappe ich mich dabei, dass ich einige Routinen verinnerlicht habe, die ich nach und nach abbauen sollte. Zum Beispiel habe ich am Montag nach dem Einkaufen den Kofferraum ausgeräumt und dabei wie gewohnt besonders auf meine linke Hand aufgepasst. Bis ich merkte: Wenn du dir jetzt einen Finger quetschst, ist das nicht mehr so schlimm. Oder beim Tennis mit meiner Frau, da habe ich die tiefen Wege vermieden, um mich nicht unnötig zu belasten. Erst danach wurde mir klar: Das ist jetzt kein kleines Hobby mehr, sondern eine deiner Hauptbeschäftigungen! Du kannst ruhig voll reingehen! Das muss ich noch verinnerlichen.

Sprechen wir über eine Eigenschaft, die dich besonders ausgezeichnet hat. Wir haben noch keinen Menschen getroffen, der sagt: Den Boll, den finde ich richtig scheiße! Viele erklären sich deine Rolle als Publikumsliebling mit deinem Hang zum Fairplay. Womit erklärst du sie dir?

Erst einmal freue ich mich sehr darüber, dass ich anscheinend als fairer Sportsmann wahrgenommen wurde, denn das war mir immer ein wichtiges Anliegen. Ich glaube, die Menschen schätzen es, wenn man im Erfolg respektvoll und bodenständig bleibt und keine großen Skandale produziert. An mir kann man sich schwer reiben, aber vielleicht habe ich einigen Sportfans ein paar schöne Stunden bereiten können. Respekt und Fairplay waren mir tatsächlich immer am wichtigsten. Dadurch habe ich vielleicht den einen oder anderen Titel nicht mitgenommen, dafür aber Freundschaften fürs Leben aufgebaut. Das zählt viel mehr.

Von den Freundschaften, die du ansprichst, ist sicherlich die mit Dirk Nowitzki diejenige, die den Sportfans am ehesten bekannt ist. Gibt es darüber hinaus eine, die du auf keinen Fall missen möchtest?

Eine? Da gibt es so viele! Meinen Trauzeugen zum Beispiel habe ich in der Jugend im Kadertraining kennen gelernt. Daraus ist eine Freundschaft fürs Leben entstanden. Ich durfte aber auch aus anderen Sportarten viele tolle Menschen erleben, die mich mit ihrer Hingabe und ihrer Leistungsbereitschaft geprägt haben. Sport ist einfach das beste Umfeld, auch um sich selbst kennenzulernen und zu wachsen. Ich bin sehr froh, dass ich im Sport gelandet bin und nicht in der Bank. Der internationale Tischtennismarkt hat mir ein unbeschwertes Leben ermöglicht, und ich habe stets versucht, viel zu geben. Ich denke, wir haben gemeinsam ein paar ordentliche Schritte gemacht, und ich bin dankbar dafür, dass mich auf diesem Weg so viele unterschiedliche Menschen begleitet haben.

Ließe sich unter all den wunderbaren Momenten, die du im Sport erlebt hast, einer herausheben, der dich ganz besonders geprägt hat?

Das wäre vermessen, dazu waren es zu viele. Ich kann aber sagen, dass es für mich etwas sehr Besonderes war, gegen meine Idole zu spielen und diese sogar im ersten Duell zu schlagen, wie zum Beispiel Jan-Ove Waldner. Das hat mir innerlich enormes Selbstbewusstsein und den Glauben daran gegeben, dass ich etwas erreichen konnte im Tischtennis. Wichtig war mir aber auch damals, nicht rumzurennen und zu glauben, dass ich nun der Größte sei. Als der Beste habe ich mich selbst als Weltranglistenerster nie gefühlt, ich habe mir immer Understatement bewahrt. Ich denke, das hat mir gut getan und mich scharf gehalten für alle Herausforderungen, die kamen.

  • Timo Boll lächelt

    Das deutsche Team bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio als Fahnenträger anzuführen, das war ohne Frage einer der schönsten Momente meiner Karriere. Der Einmarsch ins Stadion war ein Gänsehaut-Erlebnis, das wie in Zeitlupe ablief. Für mich war das eine riesige Ehre.

    Timo Boll
    Tischtennis-Legende
    Siebenfacher Olympia-Teilnehmer

    Deine Olympiageschichte ist sehr beeindruckend, du warst siebenmal dabei, hast mit dem Team zweimal Silber und zweimal Bronze gewonnen, aber eine Einzelmedaille ist dir verwehrt geblieben. Wann warst du gefühlt am nächsten dran?

    2004 in Athen. In der Phase habe ich die Chinesen regelmäßig geschlagen, war im Jahr davor erstmals Weltranglistenerster und hatte auch eine gute Auslosung. Allerdings war ich im Viertelfinale gegen Waldner zu verkrampft, und er hatte einen Sahnetag erwischt. So ist das eben im Sport. Aber die schönsten Momente habe ich mit dem Team erlebt, deshalb sind meine olympischen Erinnerungen deutlich mehr positiv als negativ.

    Du warst immer ein Teamplayer, obwohl Tischtennis ein Individualsport ist. Was hat es dir bedeutet, 2016 die deutsche Mannschaft als Fahnenträger ins Maracana-Stadion von Rio de Janeiro zu führen?

    Das war ohne Frage einer der schönsten Momente meiner Karriere. Der Einmarsch ins Stadion war ein Gänsehaut-Erlebnis, das wie in Zeitlupe ablief. Für mich war das eine riesige Ehre, weil die Entscheidung nicht im Hinterzimmer getroffen worden war, sondern ich jeweils hälftig von den Fans und den Athleten gewählt wurde. Es war ein Traum, der da in Erfüllung ging.

    Die sportlichen Höhepunkte bekommt man als Fan meist zu sehen. Aber gibt es abseits des Sportlichen ein olympisches Erlebnis, das du hervorheben würdest?

    Die Vorbereitung auf Olympia beginnt ja Jahre vorher. Als absoluter Perfektionist habe ich zwei Jahre vor den Spielen penibel auf meine Ernährung geachtet, habe zum Beispiel keine Süßigkeiten mehr gegessen. 2008 in Peking saß ich in der Mensa, auf einmal kommt Usain Bolt rein. Es war der Finaltag des 100-Meter-Rennens, das Finale sollte in wenigen Stunden beginnen. Und was macht Bolt? Haut sich bei McDonald’s erst mal einen Big Mac rein. Und dann gewinnt er wenige Stunden später in Weltrekordzeit. Das war der Moment, in dem ich mir dachte: Was zum Teufel machst du hier eigentlich mit deinem Ernährungswahn? Andere Athleten zu beobachten, das war für mich bei Olympia immer das Spannendste. Wie sie mit Druck umgehen, wie angespannt einige waren und wie locker andere – davon habe ich viel mitgenommen.

    Nun hast du angekündigt, mehr Zeit mit deiner Frau und deiner Tochter verbringen zu wollen. Wie stellst du dich auf deine neue Rolle ein, in der du nicht mehr im Mittelpunkt stehst und Applaus für gute Aktionen bekommst?

    Das einzig Traurige an meiner Karriere war, dass die Familie viel zu kurz gekommen ist und nach meiner Pfeife tanzen musste. Ich mochte es nicht, dass es immer nach mir ging, habe mich im Team gern auch anderen Routinen untergeordnet. Und so wird es jetzt auch im Familienleben sein. Ich bin ein gutes Herdentier, das auch gern mal folgt. Darauf freue ich mich schon!

    Langeweile fürchtest du nicht, du engagierst dich für soziale Zwecke wie zum Beispiel in der „Kinderhilfe Organtransplantation“, du wirst Botschafter für das deutsche Tischtennis, dein Rat dürfte oft gefragt sein. Hast du möglicherweise auch schon eine Idee für eine eigene Stiftung oder ein anderes Projekt?

    Nein, es gibt so viele tolle Stiftungen, da braucht es nicht auch noch meine eigene. Ich unterstütze gern das, was gut funktioniert und wo nachweislich gute Arbeit geleistet wird. Das, was ich bisher getan habe, wird weitergehen.

    DOSB-Präsident Thomas Weikert kommt aus dem Tischtennis, euer Sport scheint eine gute Grundlage zu liefern, um auch als Funktionär erfolgreich zu sein. Wäre eine solche Karriere nach der Karriere eine Option für dich?

    Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen. In der Sportpolitik wird viel gerangelt, und ich bin ein Mensch, der nicht gern aneckt, der Harmonie sehr mag. Deshalb wage ich zu bezweifeln, dass das funktionieren würde. Ich bin ein guter Berater und gebe gern meinen Rat, wenn er gefragt ist. Aber ein Prellbock will ich nicht sein.

    Der DOSB wagt eine erneute Bewerbung um die Ausrichtung Olympischer und Paralympischer Spiele. Warum ist das eine gute Idee, und wärst du bereit, die Bewerbung als Botschafter zu unterstützen? Immerhin bist du als Hesse keiner der vier Bewerberregionen zugehörig und wärst entsprechend neutral…

    Als Botschafter zu helfen, Olympische und Paralympische Spiele nach Deutschland zu holen, dazu wäre ich sicherlich bereit. Ich bin riesiger Sportfan und würde mich sehr freuen, wenn es gelänge, die Spiele endlich wieder in unserem Land auszurichten. Sport tut einer Gesellschaft gut. Deutschland ist eine Sportnation, wir können anständig organisieren, deshalb bin ich überzeugt davon, dass die Bewerbung eine gute Idee ist. Aber jetzt freue ich mich erst einmal darauf, in den Sommerferien mit meiner Familie im Wohnmobil auf Tour zu gehen. Ein paar Wochen abschalten und verarbeiten, was ich erlebt habe, wird mir guttun. Und dann kann ich mit frischem Kopf die nächsten Aufgaben angehen.

    Dafür wünschen wir dir alles Gute! Vielen Dank für das Gespräch, vor allem aber für deine großartige Karriere und deinen Einsatz für den deutschen Sport!

    Bildergalerie

    • Ein Sportler führt eine Mannschaft an und trägt dabei die deutsche Fahne.
      Ein großer Moment: Timo Boll führt das Team Deutschland bei den Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro als Fahnenträger an. Foto: Picture Alliance
    • Vier Tischtennisspieler spielen an einer Platte. Ein Spieler schlägt gerade den Ball auf.
      Ein letztes Mal auf olympischer Bühne: Timo Boll (1.v.r.) im Sommer 2024 in Paris in Aktion. Foto: Picture Alliance
    • Große Emotionen: Timo Boll (rechts) mit dem langjährigen Tischtennis-Bundestrainer Jörg Roßkopf nach seinem letzten Spiel auf olympischer Bühne. Foto: Picture Alliance
    • menschen jubeln mit Fahnen und stehen um einen Sportler im Team Deutschland Outfit.
      Timo Boll lässt sich von seinen Fans im deutschen Haus feiern. Foto: Team Deutschland

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