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„Mein Job ist es, anderen Menschen das Feld zu bereiten“

André Henning, Bundestrainer der Hockeyherren, spricht zum Global Coaches Day über die Herausforderungen des deutschen Leistungssportsystems, die Olympiabewerbung und darüber, was der schönste Dank ist, den er bekommen kann.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

22.09.2025

Ein Trainer gibt Anweisungen
André Henning führte die deutschen Hockeyherren im August in Mönchengladbach zum EM-Titel.

Im Dezember 2021 wurde André Henning als Bundestrainer der deutschen Hockeyherren vorgestellt. 37 Jahre war er damals erst alt, hatte aber schon 14 Jahre Erfahrung als Chefcoach gesammelt. Innerhalb von vier Jahren holte der gebürtige Velberter mit seinem Team EM- und WM-Gold sowie die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Anlässlich des Global Coaches Day an diesem Mittwoch (25. September) spricht der studierte Jurist über die Herausforderungen, denen sich Trainer*innen im deutschen Leistungssportsystem stellen müssen - und darüber, warum er trotzdem seinen Traumjob gefunden hat.

DOSB: André, unter dem Hashtag #thankscoach können am Global Coaches Day Danksagungen an Trainer*innen versendet werden. Was ist der schönste Dank, den du bekommen kannst?

André Henning: Solche Tage sind für mich eher Show, für ehrliche Wertschätzung braucht es sicherlich mehr als Hashtags. Den schönsten Dank erhalte ich in internen Feedbackrunden. Zuletzt hat dort ein langgedienter Nationalspieler gesagt, er sei sehr glücklich, dass er noch ein paar Jahre bei uns weitergemacht hat. Gar nicht wegen der Erfolge, sondern weil er sich in unserem Kreis so wohl, wertgeschätzt und sicher fühlt. Genau das ist die Atmosphäre, die mein Staff und ich schaffen wollen, damit die Spieler so leistungsorientiert wie möglich arbeiten können und dabei mental und physisch gesund bleiben. So ein Lob bedeutet mir sehr viel.

Du hast deine eigene, durchaus vielversprechende Spielerkarriere früh wegen eines Kreuzbandrisses beenden müssen. Was hat damals den Ausschlag dafür gegeben, dass du als 23-Jähriger das Amt des Cheftrainers beim Bundesligisten Uhlenhorst Mülheim übernommen hast?

Die Menschen im Verein, die mich gebeten und letztlich überredet haben, in einer Notsituation zu helfen. Ich wollte eigentlich Jurist werden, Cheftrainer im Leistungssport kam in meiner Lebensplanung nicht vor. Aber ich wollte die Jungs nicht hängen lassen, und so habe ich damals den Sprung auf die Bundesliga-Trainerbank gewagt.

Eine Entscheidung, die mit Blick auf deinen Erfolgsweg nicht die schlechteste war. Dass du Bundestrainer werden würdest, haben viele schon früh geahnt. Wann hattest du erstmals das Gefühl, dass dieser Schritt kommen würde?

Ich bin grundsätzlich kein Mensch, der zu weit in die Zukunft plant. Bevor ich die Nachfolge von Kais al Saadi übernahm, hatte es schon mehrfach die Gelegenheit gegeben. Aber erst damals spürte ich, dass die Zeit dafür reif war. Ich kannte viele der Spieler aus meinen Stationen in der Bundesliga oder von den U-Nationalteams und wusste, dass mit dem Team etwas gehen kann und dass diese Spieler es verdienen würden, dass ich mich voll für sie reinhänge. Ich bin sehr froh und dankbar, dass mir der Deutsche Hockey-Bund diese Chance gegeben hat.

Die erfolgsverwöhnten deutschen Herren hatten seit 2013 keinen Titel gewonnen. Seit du da bist, sind sie Welt- und Europameister geworden und haben Olympiasilber geholt. Was bedeutet dir das?

Auch wenn es ein wenig pathetisch klingen mag: Persönlich bedeuten mir die Erfolge fast gar nichts, ich mache mir wenig aus Titeln, kann mit dem Begriff Weltmeistertrainer nichts anfangen. Aber wenn ich sehe, was es den Jungs bedeutet, diese Titel zu gewinnen, und auch dem Verband und unserem Umfeld, dann macht es mich glücklich und treibt mich an, weiterhin erfolgreich zu sein. Diese positiven Emotionen haben natürlich auch mich tief berührt.

Worin, wenn nicht in Titeln, misst du denn deinen persönlichen Erfolg?

Mir ist schon bewusst, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben und dass die Leistung eines Trainers auch in Titeln gemessen wird. Aber mir kommt der Faktor, dass Menschen ihr Glück finden in dem, was sie tun, oft zu kurz. Für mich steht also im Vordergrund, dass sich die Menschen, die ich führen darf, wohlfühlen und ich dabei mithelfen kann, ihnen ein Umfeld zu schaffen, in dem sie ihre Leistung optimal abrufen können, denn nur dann ist maximaler Erfolg möglich. Die Titel, die wir mit dem Herren-Nationalteam gewonnen haben, sind das Ergebnis des Teamgeists und der Art des Miteinanders, das wir pflegen. Deshalb messe ich meinen Erfolg an erster Stelle daran, ob es uns gelingt, dieses Umfeld zu schaffen.

  • André Henning

    Wenn wir schon den Basisfaktor Vergütung nicht verbessern wollen, wird die Frustration immer groß sein. Man könnte denken, das betrifft nur den Leistungssport, aber das wird uns als Gesellschaft wahnsinnig viel kosten.

    André Henning
    Bundestrainer Herren
    Deutscher Hockey-Bund

    Worin siehst du die wichtigste Aufgabe, die du als Bundestrainer erfüllen möchtest?

    Das große Ganze im Blick zu behalten und die Prozesse zu begleiten, die notwendig sind, um als Einheit zu wachsen und zu performen. Dafür muss ich die notwendigen Plattformen bilden und den Expertinnen und Experten in meinem Trainerteam auf ihren Fachgebieten freie Hand lassen. Wir machen das in unserem Team sehr extrem, dass wir auf die Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder vertrauen. Deshalb hat die Mannschaft bei allem, was das Geschehen auf dem Platz betrifft, auch ein so weitgehendes Mitspracherecht. Ich hake immer wieder nach, ob sich alle wohl und gesehen fühlen. Aber ich habe mich von einem klassischen Top-Down-Coach, der alles kontrollieren und bestimmen wollte, hin zu einer Führungskraft entwickelt, die eine komplette Aufgabenteilung bevorzugt. Mein Job ist es, anderen Menschen das Feld zu bereiten. Diese Prozesse machen mir am meisten Spaß, darin gehe ich komplett auf.

    Du hast das als Entwicklungsprozess beschrieben. Warst du als Bundesligatrainer also ein anderer Typ Coach, und was hat sich dadurch für dich besonders verändert?

    Meine Herangehensweise hat sich extrem verändert. Als Bundesligatrainer hast du vielleicht vier, fünf Leute im Staff, bei der Nationalmannschaft locker das Doppelte. Das bedeutet, dass du Prozesse ganz anders steuern und begleiten kannst. Ich habe dadurch eine neue Sicht auf meinen Staff und das Team bekommen. Außerdem ist die Arbeitsweise eine andere. Als Bundesligatrainer hast du fast jeden Tag Training und jedes Wochenende Spiele. Jetzt reise ich mehr, im Jahr kommen da schon 100 bis 120 Tage zusammen, habe aber regelmäßig freie Abende und freie Wochenenden. Nach 14 Jahren Bundesliga war es sehr interessant, die neuen Abläufe zu entdecken. Das genieße ich bis heute.

    Welche Vorstellung hattest du vom Amt des Bundestrainers, bevor du es angetreten hast, und wie haben sich diese Vorstellungen mit der Realität vertragen?

    Ich bin ja ein Kind des Systems, habe selbst in den U-Nationalteams gespielt, diese später trainiert, war Co-Trainer der deutschen Damen. Insofern wusste ich ungefähr, was mich erwarten und was von mir erwartet würde. Das war gut, denn die ganzen Herausforderungen und Abläufe hätten durchaus das Potenzial für eine Überforderung gehabt. Ich möchte aber auch betonen, dass der DHB und insbesondere die Sportdirektoren, mit denen ich zusammengearbeitet habe und noch zusammenarbeite, unheimlich viel dafür tun, Dinge möglich zu machen. Zudem hat Kais eine sehr gute Übergabe gemacht und mir das Team auf einem sehr hohen Niveau übergeben.

    Gleichwohl muss man festhalten, dass in vielen anderen Nationen aus der Hockey-Weltspitze bessere Bedingungen für die Nationaltrainer herrschen. Wie sehr macht dir das zu schaffen?

    Ich wusste von Beginn an, was bei uns geht und was nicht. Obwohl wir so erfolgreich sind, müssen wir weiterhin auf jeden Euro gucken. Dadurch lassen wir sicherlich unfassbar viel Potenzial liegen. Aber ich trage das mit. Wir machen aus dem System das Beste, was wir können. Wir sind die einzige große Hockeynation, in der nicht zentralisiert trainiert wird. Überall anders sind die Auswahlteams jede Woche von Montag bis Mittwoch beisammen und trainieren gemeinsam. Das ist in Deutschland wegen der Größe des Landes, aber vor allem auch wegen der Bedürfnisse der Vereine nicht möglich und nicht gewollt. Dadurch haben wir riesige Wettbewerbsnachteile, die wir anderweitig wettmachen müssen, indem wir einen deutschen Weg finden. Das gehört auch zu meinen Aufgaben. Ständiges Jammern über Missstände hilft ja nichts, wir müssen Lösungen finden.

    Über die Missstände zu sprechen ist dennoch angebracht. Beginnen wir beim Thema Geld. Im Ausland können Trainer*innen deutlich mehr verdienen als in Deutschland, wo nicht nur die Gehälter, sondern auch die Arbeitsbedingungen – viele Stunden abends oder an Wochenenden, dazu oft nur befristete Verträge – immer wieder Kritik hervorrufen. Was wäre zu tun, um Abhilfe zu schaffen?

    Die Gehälter und die dafür gebotenen Arbeitsbedingungen sind absolut mangelhaft, da müssen wir nicht drumherum reden. Deshalb wandern auch viele Spitzenleute ins Ausland ab. Selbst wenn Deutschland irgendwann nichts mehr exportiert: Trainer werden Exportschlager bleiben, wenn sich nichts ändert. Dass Verträge meist nur für einen Olympiazyklus gelten und es viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die Ende Oktober noch nicht wissen, ob sie im Folgejahr noch unter Vertrag stehen, ist ein Unding. Dass viele sich diesem Risiko nicht aussetzen wollen, verstehe ich. Die Politik könnte es ändern, wenn sie wollte. Sie will es aber nicht. Sicherheit ist ein entscheidender Faktor. Aber wenn wir schon den Basisfaktor Vergütung nicht verbessern wollen, wird die Frustration immer groß sein. Man könnte denken, das betrifft nur den Leistungssport, aber das wird uns als Gesellschaft wahnsinnig viel kosten.

    • André Henning

      Deutschland ist kein Sportland! Und das finde ich wahnsinnig schade, denn Sport hat für die Gesellschaft eine enorm wichtige Funktion und ein unglaubliches Potenzial mit einem hohen Kosten-Nutzen-Faktor.

      André Henning
      Bundestrainer Herren
      Deutscher Hockey-Bund

      Es gibt einige, die sagen, es sei nicht zu wenig Geld im Sportsystem, es werde nur falsch verteilt. Was ist da dran? Bist du ein Anhänger der These, dass wir gezielter die Besten fördern müssten?

      Wir brauchen natürliches beides. Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Ja, fördert die Besten besser, denn der DHB ist ein erfolgreicher Verband, der davon profitieren würde. Wir brauchen auch dringend mehr Unterstützung, denn die Konkurrenz hat bessere Bedingungen und läuft uns davon. Gleichzeitig bin ich kein Freund davon, andere Sportarten ausbluten zu lassen und - so wie es viele andere Nationen tun – die Starken auf Kosten der weniger erfolgreichen oder abseitigen Sportarten zu stärken. Das fände ich verheerend, ich bin ein Freund der Vielfalt. Die Fragen, die wir uns viel deutlicher stellen müssen, sind: Wollen wir Leistungssport auf absolutem Toplevel überhaupt? Wollen wir wirklich ein Sportland sein? Deutschland ist kein Sportland! Und das finde ich wahnsinnig schade, denn Sport hat für die Gesellschaft eine enorm wichtige Funktion und ein unglaubliches Potenzial mit einem hohen Kosten-Nutzen-Faktor.

      Wertschätzung bemisst sich nicht nur an Gehalt oder Vertragsinhalten. Wo könnte man den Hebel noch ansetzen?

      Gegenfrage: Wo gibt es überhaupt öffentliche Wertschätzung für Trainer? Es gibt den Trainer des Jahres, da darf ein Coach, der schon Gold gewonnen hat für zwei Minuten auf die Bühne. Aber sonst? Ich gebe ein Beispiel: Wir haben es hinbekommen, dass unsere Mannschaft für den WM-Titel 2023 nun fast drei Jahre später das Silberne Lorbeerblatt als Auszeichnung erhält. Aber aus dem Staff darf niemand mitkommen. Ich persönlich brauche für mich solche Events wirklich nicht. Aber das steht doch symbolisch dafür, welchen Platz der Trainerberuf in der Gesellschaft hat.

      Du warst bei den Olympischen Spielen 2021 im Trainerstab der kanadischen Nationalmannschaft. Was hast du dort erlebt?

      Das komplette Gegenteil. Trainer sind in Nordamerika ganz anders angesehen. Wenn du erzählst, dass du Trainer bist, spürst du eine ehrlich gemeinte Ehrfurcht. Und wenn du dann sagst, dass du als Coach zu den Olympischen Spielen reist, bist du der Allergrößte. Das geht selbstverständlich einher mit einem deutlich höheren Gehalt.

      Bleibt die Frage: Warum bist du noch immer Bundestrainer in Deutschland?

      Weil es mein Traumjob ist! Mich treibt an, dass ich das Gefühl habe, dass es zwischen mir, dem Staff und dem Team aktuell wunderbar passt. Die Menschen, mit denen ich arbeite, sind der Hauptgrund dafür, dass ich den Job mache. Wäre er ein Bürojob, würde ich mich jeden Montag freuen, dass das Wochenende endlich vorbei ist. Der Trainerjob macht manchmal einsam. Viele wünschen sich, mehr Verbindungen zu haben, sichtbarer zu sein und sich mehr entwickeln zu können. Auch dafür müsste es deutlich mehr Angebote geben. Aber ich habe die Möglichkeit, in meinem Beruf die Entwicklung von Menschen und ihre Persönlichkeit zu fördern. Das ist ein großer Gewinn.

      Dein Vertrag läuft bis nach den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles. Wenn man verhältnismäßig jung schon Bundestrainer ist, fragt man sich da manchmal, was danach noch kommen soll? Könntest du dir vorstellen, in den Nachwuchs zurückzukehren? Oder vielleicht in eine andere Sportart zu wechseln?

      Die Gedanken daran schiebe ich aktuell noch von mir. Ich bin total auf das fokussiert, was ich mit dem Team erreichen möchte. Ich habe große Lust auf olympisches Gold. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, wieder im Nachwuchs zu arbeiten, denn die Entwicklung junger Menschen ist unheimlich faszinierend. Auch der Blick in andere Sportarten wäre sicherlich sehr interessant. Ich kann mir aber auch vorstellen, über 2028 hinaus Bundestrainer der Hockeyherren zu bleiben. Schauen wir, was kommt.

      Wären Olympische Spiele im eigenen Land ein Grund, Bundestrainer zu bleiben?

      Das zu erleben, wäre der absolute Wahnsinn. Die Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele unterstütze ich deshalb voll und ganz. Es wäre eine unglaubliche Chance für unsere Gesellschaft, weil wir die Rolle des Sports für die Gesellschaft dadurch neu definieren und stärken könnten. Es gibt nichts, was Menschen stärker emotionalisieren kann als Sport. Wir haben das in Paris erlebt. Als die Eröffnungsfeier lief, habe ich gespürt, was das mit der Stadt macht. So eine Begeisterung wirkt weit über den Moment hinaus. Deshalb glaube ich, dass Olympische Spiele in Deutschland genau das sind, was unser Land braucht, um den Stellenwert des Sports zu begreifen.

      Herzlichen Dank für das Gespräch, André, und alles Gute für die anstehenden Aufgaben mit deinem Team!

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