Interview mit Biathlon-Olympiasiegerin Antje Harvey

Im Interview mit der Sporthilfe blickt Antje Harvey, geb. Misersky, unter anderem auf ihren Biathlon-WM-Staffelsieg vor zwanzig Jahren am 19. Februar 1995 zurück. Es war der erste eines deutschen Frauenteams überhaupt.

Antje Misersky (Harvey) legt an zum Schießen bei der WM 1995 in Antholz. Foto: picture-alliance
Antje Misersky (Harvey) legt an zum Schießen bei der WM 1995 in Antholz. Foto: picture-alliance

Frage: Vor 20 Jahren gewannen Sie in Antholz zusammen mit Uschi Disl, Simone Greiner-Petter-Memm und Petra Behle als erste deutsche Frauenstaffel WM-Gold. Wie sind Ihre Erinnerungen daran?

Harvey: Gering, und die Frage nach dieser WM überrascht mich. Hier in den USA werde ich nur auf die Olympischen Spiele angesprochen. Ich habe also fast vergessen, dass ich auch Weltmeisterin geworden bin. Aber ich weiß noch, dass ich sehr aufgeregt war. In der Staffel ist die Verantwortung größer, man läuft nicht für sich alleine.

Zehn Jahre zuvor waren Sie aufgrund Ihrer Weigerung, Dopingmittel einzunehmen, aus dem DDR-Leistungssport geworfen worden, obwohl sie mit 17 Jahren und WM-Bronze ein vielversprechendes Langlauf-Talent waren. Damals eine schwere Entscheidung für Sie?

Das war für eine 17-Jährige natürlich eine schwere, aber zugleich auch einfache Entscheidung: Ich wollte mit mir selber leben können, wollte das Zeug nicht nehmen und meine Gesundheit in Gefahr bringen. Und ich wollte nicht schummeln. Es war, wie wir hier sagen, ein „no-brainer“, eine Entscheidung, über die man nicht lange nachdenken muss. Ich habe mit ihr sehr gut leben können, zumal ich jeden Tag dankbar bin, gesunde Kinder zu haben.

Können Sie nach 30 Jahren vergessen und vergeben?

Ich bin heute an dem Punkt, wo ich den dafür Verantwortlichen vergeben habe, aber vergessen kann ich nicht. Man vergisst keinen Teil seines Lebens. Ich bin 2002 Christin geworden, da gehört das Vergeben mit dazu. Ich hoffe, dass die Leute, die einem übel mitgespielt haben, die in der Mühle drin waren, inzwischen genug Zeit hatten, über ihre Aktionen nachzudenken. Dass sie das Beste aus ihrem Leben machen, hoffentlich eine bessere Einstellung gefunden haben und keine Möglichkeit bekommen, den Sport weiter zu verseuchen. In der DDR wurden leider sehr viel Sportler ohne Wissen gedopt und haben schwere gesundheitliche Konsequenzen zu tragen.

Das Thema Doping ist weiter aktuell und Biathlon immer wieder betroffen. Verfolgen Sie solche Nachrichten mit besonderem Interesse, wie denken Sie darüber?

Es ist traurig, dass die Dopingfahnder immer einen Schritt hinterher sein werden. Ich finde es gut, dass Proben eingefroren werden und Sportler im Nachhinein gefasst werden können. Leider kommt der ehrliche Gewinner so um den Siegesmoment. Man kann nur hoffen, dass bei den Menschen irgendwann die Moral siegen wird.

Sie leben heute in den USA, Ihr Mann ist ein früherer US-Biathlet. Fühlen Sie sich dem Biathlonsport weiter verbunden, und was trauen Sie den deutschen Frauen bei der anstehenden WM zu?

Mein Mann und ich sind richtige Fans und schauen im Internet die Liveaufnahmen der Weltcup-Events an, zwar ohne Kommentar, aber immerhin. Vorher tippen wir die Reihenfolge vom ersten bis zum sechsten Platz. Oft haben wir die sechs gleichen Namen, halt in einer etwas anderen Reihenfolge. Leider kriegen wir im US-Fernsehen gar keine Infos, aber wir besorgen uns alles online. Die Deutschen haben bei den Weltcups in dieser Saison bereits starke Mannschaftsleistungen gezeigt. Bei den Männern wie den Frauen sehe ich die Staffeln deshalb schon in einer Favoritenstellung. Die anderen Nationen haben bei den Frauen meist nicht vier gleich starke Biathletinnen. Ich denke, dass die deutschen Frauen in der Staffel Gold holen. In den Einzelwettbewerben ist halt immer viel von der Tagesform abhängig. Einen Überflieger wie Magdalena Neuner haben wir zurzeit nicht, aber wir können ein Wörtchen mitreden, das glaube ich schon.

In diesem Jahr feiern wir 25 Jahre Deutsche Einheit. Wie haben Sie die Maueröffnung und die spätere Wiedervereinigung erlebt?

Ich habe unheimliches Glück, zur Generation zu gehören, die nicht länger hinter der Mauer leben muss und heute Freiheit erleben darf. Wäre die Mauer nicht gefallen, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Dann hätte ich meinen Mann nie kennengelernt, oder besser, ich hätte ihn vielleicht kennengelernt, aber ich hätte nicht mit ihm kommunizieren dürfen. Der Mauerfall ist einer der wichtigsten Momente in meinem Leben gewesen. Ich war damals als neue DDR-Biathletin auf der Halbinsel Kola in Russland im Trainingslager. Als wir erfuhren, dass die Mauer gefallen ist, das war unfassbar. Selbst angesichts der ganzen Demonstrationen vorher, wo auch ich ein Teil davon war. Es war unfassbar, gerade auch die Art, wie die Mauer fiel, in einem friedlichen Prozess. Das hätte ich nie zu träumen gewagt.

1985 vom Spitzensport zwangsausgeschlossen, 2012 in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen. Wie fühlt es an, Sportgeschichte geschrieben zu haben?

In die Hall of Fame aufgenommen worden zu sein, war eine extreme Ehre für mich und meine Familie, mein Vater ist ja gleichzeitig in die Hall of Fame aufgenommen worden. Es war eine große Überraschung. Und meine Kinder konnten bei der Aufnahmezeremonie in Berlin sehen, dass ich in Deutschland eine bekannte Sportpersönlichkeit war.

Zur Person: Antje Harvey, geb. Misersky (*10. Mai 1967 in Magdeburg)

Die Skilangläuferin und Biathletin Antje Harvey wurde 2012 als Beispiel für ihre besondere Biografie im Kampf gegen Doping zusammen mit ihrem Vater Henrich Misersky in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen. Ihren größten Erfolg errang sie 1992 bei den Olympischen Spielen in Albertville mit Gold im Einzel über 15 Kilometer. Zudem holte sie drei olympische Silbermedaillen. Antje Harvey zeigte unter ihrem Mädchennamen Misersky, wie man Weltspitze wird und Doping widersteht: Wie ihr Vater und Trainer verweigerte sie sich den Dopingplänen des DDR-Skilanglaufs, scheute die Konfrontation nicht und war so als WM-Dritte mit der Staffel 1985 gezwungen, ihre noch junge Karriere zu beenden. Erst 1989 setzte sie ihr Training unter veränderten politischen Vorzeichen fort und konzentrierte sich auf den für Frauen gerade olympisch gewordenen Biathlonsport. Ihre Doping-Verweigerung und das von Olympia-Gold gekrönte Comeback sind heute Sportgeschichte. Von der Deutschen Sporthilfe wurde sie unmittelbar nach der Wiedervereinigung in die Förderung aufgenommen und bis zu ihrem schwangerschaftsbedingten Karriereende im Jahr 1995 unterstützt. Heute lebt Antje Harvey mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Utah/USA.

Die Fragen stellte Oliver Kauer-Berk.

(Quelle: Deutsche Sporthilfe)


  • Antje Misersky (Harvey) legt an zum Schießen bei der WM 1995 in Antholz. Foto: picture-alliance
    Antje Misersky (Harvey) legt an zum Schießen bei der WM 1995 in Antholz. Foto: picture-alliance