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„Es darf keinen Mut mehr erfordern, über mentale Krankheiten zu sprechen“

Die Fechterin Léa Krüger (29) und der Ruderer Lars Wichert (38) haben Projekte zur Förderung der mentalen Gesundheit gegründet und sprechen über die Probleme im Umgang mit Betroffenen und Lösungsansätze für eine bessere Betreuung.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

24.11.2025

Smileys auf farbigen Zetteln
Stimmungsschwankungen - hier mit unterschiedlichen Smileys dargestellt - sind bei depressiven Erkrankungen ein häufiges Symptom.

DOSB: Was war für euch die Initialzündung dafür, euch im Bereich Mentale Gesundheit zu engagieren?

Lars Wichert: Nach dem tragischen Tod meines ehemaligen Zweierpartners Yannic Corinth, der sich 2016 unter dem Eindruck einer schweren Depression das Leben genommen hat, hatten wir alle das Gefühl, dass wir unbedingt etwas tun müssten. Wir wollten mit „Wir für Yannic“ etwas schaffen, das einerseits an ihn erinnert und andererseits hilft, mit der Krankheit Depression besser umzugehen. Als der Verein 2017 eingetragen wurde, war das Thema Mentale Gesundheit bei Weitem nicht so populär wie heute. Unser Ansatz war deshalb, mitzuhelfen, es zu enttabuisieren. Anfangs haben wir auf Breitensportveranstaltungen Aufmerksamkeit dafür geschaffen. Heute haben wir das dritte Symposium hinter uns und können sagen, dass wir eine gute Informationsbasis für alle Menschen geschaffen haben, die zu diesem Themenkomplex Wissensbedarf haben.

Léa Krüger: Lars hat mit seinem Verein den Weg dahin geebnet, dass sich Sportlerinnen und Sportler heute mehr trauen, über mentale Probleme zu sprechen. Es ist kein absolutes Tabu mehr. Aber die Strukturen im Leistungssport sind weiterhin nicht so, dass man komplett offen darüber sprechen könnte. Bei mir war es damals ähnlich. Ich habe während des Leistungssports eine Essstörung entwickelt und hatte Angst davor, mich meinem Umfeld anzuvertrauen, weil ich befürchtete, dadurch Nachteile zu bekommen. Diese Angst hat sich leider bestätigt, weil die Trainer häufig selbst überfordert sind mit dieser Thematik und unter dem Druck stehen, Leistung produzieren zu müssen. Mit der Zeit habe ich immer mehr Athletinnen und Athleten kennengelernt, die sich nicht trauten, ihre Probleme offen anzusprechen. Viele dachten, dass sie mit ihren Themen allein dastünden. Das war für mich im vergangenen Jahr der Startpunkt dafür, mit dem Rugby-Nationalspieler Ben Ellermann „Mehr als Muskeln“ zu gründen, um Abhilfe zu schaffen – zunächst, indem wir über Zoom Calls einen sicheren Raum bieten, in dem sich Betroffene und Interessierte austauschen können. Darüber sind sehr intensive Gespräche zustande gekommen, die uns gezeigt haben, wie groß dieses Thema wirklich ist.

Lars, du bist seit 2017 engagiert. Was hat sich in den vergangenen acht Jahren bewegt, wie weit seid ihr auf dem Weg der Enttabuisierung gekommen?

Lars: Was uns in die Karten gespielt hat, waren Äußerungen von sehr bekannten Sportpersönlichkeiten wie Simone Biles oder Rafael Nadal. Viele Menschen denken ja, dass berühmte und erfolgreiche Athleten keine Probleme haben könnten, weil sie doch gewinnen. Wenn dann solche Vorbilder offen über mentale Gesundheit sprechen, hat das eine Strahlkraft, die Grenzen überschreiten kann. Weiterhin gilt: Jeder Mensch muss abwägen, wie weit er sich öffnen möchte, aber niemand sollte sich dafür rechtfertigen müssen, wenn er sich Hilfe holt. Die Gesamtdynamik dieses Themas ist seit 2017 schon deutlich gewachsen, die Gespräche sind offener geworden und wir können die Hilfsangebote besser veranschaulichen und viel Gutes mit auf den Weg geben. Der größte Vorteil ist, dass Trainerinnen und Trainer bei uns Fortbildungspunkte bekommen können. Dadurch erreichen wir eine deutlich größere Bandbreite an Rückmeldungen.

Gesprächsangebote sind sicherlich eine gute Unterstützung, aber ernsthafte mentale Erkrankungen müssen von Fachkräften behandelt werden. Wie bindet ihr diese ein?

Léa: Bei uns war vom ersten Call an ein psychotherapeutischer Experte dabei, damit dort alles in einem gesunden und geschützten Rahmen abläuft. Der Schritt, Expertinnen und Experten einzubinden, ist absolut notwendig. Es geht dabei nicht darum, dass sich Betroffene unmittelbar öffnen müssen, aber es braucht ein Umfeld, das ihnen die Hilfe zur Seite stellt, die sie brauchen und dann auch bekommen. Einen Menschen beispielsweise aus einer Depression herauszuholen, das kann nicht Aufgabe von Teamkolleginnen oder Trainern sein, dafür braucht es Fachleute.

Lars: Wir hatten diesen Ansatz auch von Beginn an und können mittlerweile auf ein Netzwerk aus sehr erfahrenen und renommierten Therapeutinnen und Therapeuten setzen. Wenn Hilfe benötigt wird, können wir diese vermitteln.

  • Lars Wichert

    Wenn jemand erkältet ist, reiche ich ihm ein Taschentuch. Aber was tue ich, wenn ein depressiver Mensch Hilfe benötigt? Da herrscht noch viel Unsicherheit. 

    Lars Wichert
    Ehemaliger Leistungsruderer und -triathlet
    Mitgründer von "Wir für Yannic"

    Bisweilen hat man den Eindruck, dass Erkrankungen wie Burn-out fast schon eine Modeerscheinung sind und inflationär verwendet werden, um auch normale Schwächephasen zu erklären. Besteht die Gefahr, dass dadurch Menschen, die wirklich erkrankt sind, weniger ernst genommen werden?

    Lars: Wir müssen tatsächlich darauf achten, dass manche Begriffe nicht dadurch verflachen, dass sie inflationär verwendet werden. Nur weil ich mal ein paar Tage keine Lust aufs Training habe, heißt das nicht, dass ich mental erkrankt bin. Dafür braucht es eine Sensibilisierung und eine Trennschärfe. Diese versuchen wir herauszuarbeiten.

    Léa: Absolute Zustimmung. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht überall eine mentale Krankheit sehen, wenn es sich eigentlich um eine intensive, herausfordernde, stressige Phase handelt, die gerade im Leistungssport normal sind und auch sein müssen, um voranzukommen. Es ist nicht alles direkt ein Burn-out. Wir wollen dabei helfen, dass Athletinnen und Athleten ihren Zustand besser einordnen können und spüren, wenn etwas ins Kippen gerät. In unserem nächsten Call am 11. Dezember geht es um genau diese Abgrenzung.

    Bitte skizziert doch einmal, was euren Erfahrungen nach die größten Probleme sind, die Athletinnen und Athleten im Bereich der mentalen Gesundheit aktuell haben.

    Lars: Aus meiner Sicht ist es der Punkt, dass es zwar viele Angebote im Bereich Sportpsychologie gibt, aber nicht ausreichend gewährleistet ist, dass alle Betroffenen davon wissen und das Gefühl haben, dass ihnen die Türen offen stehen. Sollte es an Geld fehlen, empfehle ich dringend, dass zum Beispiel die Olympiastützpunkte als die Orte im Leistungssport, die psychologische Betreuung anbieten, auf Vereine wie unseren zugehen, um Kooperationen zu schaffen.

    Léa: Ich sehe drei Punkte als zentral an. Erstens: Lars und ich haben das Glück gehabt, dass wir in unserer Region ein Netzwerk aufbauen konnten. Insbesondere die Netzwerke „Mental gestärkt“ und „Athletes in Mind“, mit denen wir auch zusammenarbeiten, versuchen flächendeckend in Deutschland präsent zu sein, jedoch ist dies noch nicht gewährleistet. Das bedeutet, dass es immer noch zu wenige Hilfsangebote gibt. Zweitens: Die Hemmschwelle, sich zu öffnen, ist noch immer zu hoch, weil die Angst vor persönlichen Konsequenzen zu groß ist. Wer sich wegen einer mentalen Erkrankung abmeldet und eine Pause benötigt, kann nicht sagen, wie lange es dauern wird. Wer aber seine Leistung nicht bringen kann, fliegt aus der Förderung und steht schnell vor dem Problem, sein Leben nicht mehr finanzieren zu können. Deshalb schweigen weiterhin viele lieber. Der dritte Punkt ist das Umfeld. Es gibt zwar immer mehr Angebote, aber der Umgang mit mental erkrankten Menschen ist oft weiterhin von Unkenntnis geprägt. Das führt dazu, dass Betroffene durch Worte oder Verhaltensweisen anderer verletzt werden, natürlich meist ohne dass das beabsichtigt wäre. Das trägt nicht dazu bei, sich bedenkenlos öffnen zu können. Ich will eins klarstellen: Wir sind im Leistungssport, da ist es normal, dass Leistung gefordert wird. Wir sind es gewohnt, dass es auch mal härtere Sprüche gibt. Aber wir sollten lernen zu verstehen, dass das für „normale“ Menschen eben nicht normal ist.

    Wie wäre es denn möglich, die Wahrnehmung von mentalen Erkrankungen und den Umgang damit bei Menschen im Umfeld von Betroffenen zu verändern?

    Léa: Es geht nicht darum, einen Leitfaden für den Umgang mit anderen zu entwickeln, sondern Unterstützung dabei zu bieten, wie man selbst mit diesem Thema umgeht. Dieser Bereich wird künftig noch deutlich wichtiger werden.

    Lars: Das Problem an einer mentalen Erkrankung ist ja, dass ich als Außenstehender nicht weiß, was ich tun kann, um der betroffenen Person zu helfen. Wenn jemand erkältet ist, reiche ich ihm ein Taschentuch. Aber was tue ich, wenn ein depressiver Mensch Hilfe benötigt? Da herrscht noch viel Unsicherheit. Diese Themen behandeln wir auf unseren Symposien, damit das Umfeld von Betroffenen lernt, frühzeitig zu erkennen, wenn sich Depressionen ankündigen, und der Umgang mit Vorstufen der Erkrankung ernster genommen wird. Im Sport ist das sogar einfacher als in anderen Teilen der Gesellschaft, weil der Kontakt mit Trainern oder Teamkollegen intensiver ist. Wir wollen Menschen, die Betroffenen helfen möchten, dazu befähigen, dies leichter anzusprechen, ohne Sorge haben zu müssen, etwas falsch zu machen. Worte können wie eine warme Umarmung wirken, die zeigt: Wir sind für dich da.

    Léa: Und so etwas wirkt nach! Um genau diese Offenheit geht es, damit wir als Leistungssportlerinnen und Leistungssportler uns hinstellen und offen darüber sprechen können, dass wir auch nur Menschen sind und nicht Maschinen, die immer leistungsfähig sind, so wie das noch immer viele wahrnehmen.

    Wie kann es gelingen, dem Thema Mentale Gesundheit wirklich den Stellenwert zu geben, den es verdient?

    Léa: Man könnte es sich einfach machen und sagen: Indem mehr Geld ins System gegeben wird. Aber ich bin nicht sicher, ob dieses Geld in unserem System auch dort ankommen würde, wo es gebraucht wird. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass es mehr Initiativen wie unsere braucht, die privatwirtschaftlich gefördert werden, um die Sichtbarkeit und Relevanz zu erzeugen, die das Thema benötigt.

    Lars: Es würde auch helfen, wenn sich noch mehr prominente Athletinnen und Athleten öffnen würden, die noch aktiv sind. Viele trauen sich erst nach ihrer Karriere. Aber es muss den Menschen klar werden, dass Hochleistungssport auch mit einer mentalen Erkrankung möglich ist. Wer seine Angststörung medikamentös im Griff hat, kann sehr wohl in einem olympischen Finale um Gold kämpfen.

    • Léa Krüger

      Mein Wunsch für die Betroffenen wäre, dass es eine Art Krankengeld für Athletinnen und Athleten gibt, die krankheitsbedingt ausfallen, und eine unkomplizierte und schnelle Finanzierung für Therapie oder Klinikaufenthalte, damit sie sich komplett und ohne finanzielle Ängste auf das Gesundwerden konzentrieren können.

      Léa Krüger
      Ehemalige Spitzenfechterin, Gründerin von "Mehr als Muskeln"
      Mitglied der DOSB-Athlet*innenkommission

      Dass in den Medien und der Öffentlichkeit in sportlichen Krisen noch immer oft der Satz zu hören ist, dass „nun der Trainer als Psychologe gefordert ist“, ist auch nicht hilfreich, oder? Es sagt doch auch bei einem Beinbruch niemand, dass der Trainer nun als Chirurg gefordert ist.

      Lars: Sensibilität in der Wortwahl ist tatsächlich ein wichtiges Thema. Auch darauf versuchen wir hinzuwirken, dass den Menschen bewusst ist, welche Kraft Worte haben und wie wichtig es ist, sensibel zu sein.

      Mit der Bitte um ehrliche Kritik: Was kann der DOSB besser machen, damit unsere vielfältigen Angebote auf dem Gebiet der mentalen Gesundheit noch mehr wahrgenommen werden?

      Léa: Das Problem ist, dass viele Angebote des DOSB auf die Olympischen Spiele und andere Großereignisse wie die World Games zugeschnitten sind, aber in den langen Phasen dazwischen zu wenig passiert. Darum wäre mein dringender Appell, die Angebote im Rahmen der Möglichkeiten so auszubauen, dass sie deutlich sichtbarer und dauerhaft verfügbar sind. Außerdem sollte der DOSB auf seine Mitgliedsorganisationen einwirken, damit es Normalität wird, dass jeder Verband seinen Athletinnen und Athleten psychologische Unterstützung anbietet. Und in der Trainerausbildung sollte das Thema Mentale Gesundheit noch deutlich tiefer verankert werden.

      Lars: Ich sehe das größte Problem darin, dass Hilfsangebote nur den Kaderathleten zur Verfügung stehen, man damit aber nur einen Teil der Athletinnen und Athleten erreicht. Eine Kommunikation darüber hinaus, die alle Betroffenen im Leistungssport einschließt, wäre ein wichtiger Schritt.

      Dann spielen wir zum Abschluss „Wünsch dir was“. Welche Themen möchtet ihr in den kommenden Monaten in eurer Arbeit verbessern und was braucht ihr dafür?

      Lars: Mir würde es schon reichen, wenn die Angebote, die wir mit unserem Verein machen, auf ein größeres Interesse stoßen würden. Es sind kostenlose Angebote mit einem hohen Grad an Expertise, aber damit sich der Aufwand lohnt, würden wir gern deutlich mehr Menschen erreichen. Dafür braucht es mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit, wir müssen unsere Angebote stärker vernetzen und gemeinsam weiter an Verbesserungen arbeiten.

      Léa: Mein Wunsch für die Weiterentwicklung von „Mehr als Muskeln“ ist, dass wir den digitalen Austausch ins reale Leben überführen und Präsenztreffen anbieten. Wir wollen erreichen, dass es schnelle, unbürokratische und finanzierte Hilfe für alle gibt, die sie benötigen. Mein Wunsch für die Betroffenen wäre, dass es eine Art Krankengeld für Athletinnen und Athleten gibt, die krankheitsbedingt ausfallen, und eine unkomplizierte und schnelle Finanzierung für Therapie oder Klinikaufenthalte, damit sie sich komplett und ohne finanzielle Ängste auf das Gesundwerden konzentrieren können. Mein Wunsch an die Politik ist, dass sie diese finanzielle Absicherung und den Einsatz für die mentale Gesundheit in das geplante Sportfördergesetz aufnimmt. Und mein Wunsch an die Gesellschaft ist, dass Athletinnen und Athleten als Menschen gesehen werden und nicht als Maschinen, die funktionieren müssen. Es darf keinen Mut mehr erfordern, über mentale Erkrankungen zu sprechen, sondern es muss normal sein. Noch ist es das nicht, und deshalb haben wir noch viel zu tun. Aber wir sind auf einem guten Weg.

      Dabei weiterhin viel Kraft und Erfolg, und vielen Dank für euer Engagement und das Gespräch!

      Die Projekte der Interviewpartner

      „Mehr als Muskeln" ist eine von Léa Krüger und Rugby-Nationalspieler Ben Ellermann gegründete Initiative, die sich dafür einsetzt, mentale Gesundheit im Leistungssport sichtbar zu machen und das Tabu rund um psychische Herausforderungen zu brechen. Ein zentraler Bestandteil der Arbeit sind regelmäßig stattfindende, geschützte Zoom-Calls für Bundeskader-Athlet*innen. Dort können sich Sportler*innen offen über mentale Belastungen austauschen. Bislang haben bereits mehr als 100 Athlet*innen daran teilgenommen. Die Formate werden mehrmals im Jahr gemeinsam mit Athleten Deutschland durchgeführt. Über ihre Plattform wollen Léa und Ben Athlet*innen stärken, den Dialog über mentale Gesundheit normalisieren und Strukturen schaffen, in denen mentale Stärke genauso selbstverständlich ist wie körperliche. Website: mehralsmuskeln.com. Instagram: @mehralsmuskeln.

      „Wir für Yannic" wurde 2017 als gemeinnütziger Verein eingetragen, Lars Wichert ist einer der Mitgründer. Das Projekt fördert Aufklärung, Prävention und Hilfe rund um die Volkskrankheit Depression. Der Verein unterstützt Sportteams und deren Gemeinschaft, die mit ihren sportlichen Aktivitäten auf psychische Erkrankungen aufmerksam machen und damit einen Beitrag zur Enttabuisierung von Depression leisten. Er bewegt sich für physische und psychische Gesundheit
      und fördert ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit psychischen Erkrankungen. Über Symposien werden konkrete Hilfsangebote geschaffen. Website: wirfueryannic.de.

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