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„Integriert euch, benehmt euch, lernt die Sprache, aber vergesst eure Wurzeln nicht“

Im Rahmen des Diversity-Monats sprechen wir mit Testimonials aus dem Leistungssport zu den Vielfaltsdimensionen des DOSB. Die deutschen Box-Brüder Robert und Artem Harutyunyan blicken auf ihren Weg zurück und erklären, warum sie ihre armenischen Wurzeln niemals verleugnen werden.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

19.05.2025

Zwei Männer strecken ihre Fäuste in Richtung Kamera und lächeln
Die Brüder Robert (l.) und Artem Harutyunyan leben seit 1991 in Hamburg und boxten beide für die deutsche Nationalmannschaft und als Profis.

Nach Worten ringen müssen sie selten. Auch wenn es Robert und Artem Harutyunyan stets wichtiger war und ist, Leistung für sich sprechen zu lassen, halten sie Sprache für den Schlüssel zu vielem und sind um passende Antworten grundsätzlich nie verlegen. Aber auf die Frage, was an ihnen typisch armenisch sei, müssen die Brüder doch lange überlegen. Schließlich einigen sie sich auf die Herzlichkeit beim Empfang von Gästen. „In Armenien gilt noch der Grundsatz ‚meins ist deins‘. Die Schere zwischen Arm und Reich ist dort deutlich größer, aber selbst die Ärmsten teilen mit ihrem Besuch, was sie haben. Daran versuchen wir uns ein Beispiel zu nehmen“, sagt Robert, und Artem nickt zustimmend. 

Die Frage nach dem, was sie mit ihrem Geburtsland verbindet, ist deshalb so interessant, weil sich ohne Überlegen einige Eigenschaften aufzählen lassen, die sie stereotypisch zu Deutschen machen. Sie sind Disziplinfanatiker, vertrauen auf Recht und Ordnung, und wer sich um 11.00 Uhr mit ihnen in einem Café verabredet, kann davon ausgehen, fünf Minuten vor der Zeit eine Nachricht mit dem Hinweis zu erhalten, dass sie bereits in der Lokalität Platz genommen haben. Robert und Artem Harutyunan, das kann man ohne Pathos oder Übertreibung sagen, sind Musterbeispiele für eine gelungene Integration. Und weil sie den allerwichtigsten Teil davon im Boxen geschafft haben, sind die Hamburger Jungs die bestmöglichen Gesprächspartner, um im Rahmen des Diversity-Monats über das Thema Integration durch Sport zu reden.

1991 kamen die Brüder aus Armenien nach Deutschland

Robert (35) und sein ein Jahr jüngerer Bruder waren Kleinkinder, als sie 1991 mit ihren Eltern aus den armenischen Kriegswirren nach Deutschland kamen. In ein fremdes Land mit einer fremden Kultur, dessen Sprache sie nicht beherrschten. „Aber unsere Eltern hatten eine klare Vision. Sie wollten sich in diesem Land integrieren und ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Mein Vater hat sich geweigert, Geld vom deutschen Staat anzunehmen. Er wollte auf eigenen Beinen stehen und hat uns das ebenfalls gelehrt“, sagt Artem. Dazu gehörte, dass die Eltern die beiden Söhne anwiesen, überall Deutsch zu sprechen. „Sprache ist der Schlüssel zu allem, das sagen wir auch allen Menschen, die in diesen Zeiten als Geflüchtete nach Deutschland kommen“, sagt Robert. 

Für die Brüder wurde der TH Eilbeck, in dem sie ihre ersten Erfahrungen im Boxen machten, zu einer zweiten Familie. „Im Sport haben wir die Werte gelernt, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind“, sagt Artem, der 2016 in Rio de Janeiro die olympische Bronzemedaille im Halbweltergewicht gewinnen konnte, danach ins Profilager wechselte und nach der Trennung von seinem Hamburger Promoter Universum nun in Eigenregie versucht, eine weitere WM-Chance zu erkämpfen. Robert, der seine aktive Karriere vor fünf Jahren beendete, unterstützt seinen Bruder als Manager, arbeitet zudem als selbstständiger Trainer. Auch wenn sie mittlerweile beide verheiratet sind und Nachwuchs haben, gibt es die Harutyunyans geschäftlich weiterhin nur im Doppelpack. Gemeinsam waren sie immer schon stärker, und diese Kraft war notwendig, um auch die Täler zu durchschreiten, die das Thema Integration mit sich bringt.

  • Artem Harutyunyan lächelt

    Ich war vier Jahre bei der Bundeswehr, habe zehn Jahre in der deutschen Nationalmannschaft geboxt, und dann soll ich plötzlich meinen Namen ändern, weil ich sonst nicht als Deutscher wahrgenommen würde? Die Forderung hat mich emotional sehr getroffen und verletzt.

    Artem Harutyunyan
    Profiboxer
    Olympia-Bronzegewinner von Rio 2016

    Besonders tief waren diese vor einigen Jahren, als 2019 im Zuge einer Liveübertragung eines Kampfes von Artem im ZDF eine Diskussion darüber entbrannte, ob er im Sinne einer besseren Vermarktbarkeit nicht seinen Namen ändern müsse. Im deutschen Profiboxen ist das durchaus üblich, der mehrfache Weltmeister Felix Sturm kam als Adnan Catic in Bosnien zur Welt, der Serbe Muamer Hukic machte als Marco Huck Karriere, und Arthur Abraham, selbst Armenier wie die Harutyunyans, hieß ursprünglich Avetik Abrahamyan. Für Artem allerdings war das absolut indiskutabel. „Die Forderung hat mich emotional sehr getroffen und verletzt“, erinnert er sich. „Ich war vier Jahre bei der Bundeswehr, habe zehn Jahre in der deutschen Nationalmannschaft geboxt, und dann soll ich plötzlich meinen Namen ändern, weil ich sonst nicht als Deutscher wahrgenommen würde?“ 

    Ihre armenischen Wurzeln zu verleugnen, wäre den Brüdern wie Verrat vorgekommen. „Jeder muss das selbst entscheiden, aber für Robert und mich kam eine Namensänderung nie infrage. Zum einen, weil wir mit unseren Namen im Amateurboxen so bekannt geworden sind, dass wir gemerkt haben, dass unser Name kein Problem darstellt. Zum anderen gebieten es die Liebe und der Respekt unseren Eltern gegenüber, die uns diesen Namen gaben, ihn nicht zu ändern“, sagt Artem, und sein Bruder ergänzt: „Deutschland ist doch in den vergangenen Jahren so international geworden, dass niemand so engstirnig sein sollte, wegen eines Namens die Integrationsfähigkeit oder Vermarktbarkeit anzuzweifeln.“

    Das Interesse aus der Politik an ihnen war bislang überschaubar

    Die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre blenden die Harutyunyans dabei keineswegs aus, auch wenn Artem, der keinen Fernseher hat und auch auf sozialen Medien kaum aktiv ist, vieles nur von seinem Bruder erfährt. Sie versuchen allerdings, sich über das Erstarken der AfD nicht allzu viele Sorgen zu machen. Vielmehr werben sie dafür, im Kampf gegen die Ursachen für den Rechtsruck Menschen wie sie viel häufiger auf politischer Ebene einzubinden. „Viele Menschen haben Angst vor allem, was fremd ist. Wenn wir ihnen zeigen, was aus Geflüchteten wie uns werden kann, können wir solche Ängste mindern und gleichzeitig auch für die vielen Ausländer in Deutschland ein Vorbild sein“, glaubt Artem. Dass das Interesse aus der Politik an ihnen sowohl in Hamburg als auch bundesweit bislang überschaubar war, verstehen beide nicht. „Wir würden uns sehr gern mehr einbringen und bieten unsere Hilfe an, wo immer sie benötigt wird. Aber man muss auch auf uns zugehen“, sagen sie.

    In einer internationalen, weltoffenen Stadt wie Hamburg mögen sich solche Sätze leichter sagen als auf dem ostdeutschen Land oder in westdeutschen Problembezirken wie Gelsenkirchen, wo fast ein Viertel der Bevölkerung bei der Bundestagswahl Ende Februar die AfD zur stärksten Partei machte. Aber Robert und Artem haben aus ihrer Zeit am Olympiastützpunkt in Schwerin durchaus eigene Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit gemacht. „Wenn wir da mit unseren Trainingsanzügen der deutschen Nationalmannschaft durch die Stadt gingen, kamen immer wieder mal Sprüche wie: ‚Ihr Schwarzköpfe, nehmt mal den Adler runter.‘“ Gelöst hätten sie diese Situationen - nein, nicht mit Fäusten, sondern mit Worten. „Wenn wir erzählt haben, woher wir kommen und was wir geschafft haben, war alles gut“, erinnert sich Robert.

    Ihre Kinder erziehen sie bewusst mehrsprachig

    Umso wichtiger ist ihnen, auch den eigenen Kindern die Bedeutung des Sprachelernens nahezubringen. Artems Tochter Amalia (3) spricht mit dem Papa Armenisch, mit der Mama Russisch, aber im Kindergarten und im Alltag nur Deutsch. Mit der kleinen Stella (zehn Monate) wird es ähnlich laufen. Roberts Sohn Edmund (2) wächst zweisprachig auf, die Eltern sprechen zu Hause Armenisch, im Alltag zählt nur Deutsch. „Wir raten allen, die uns fragen: Lernt die Sprache, integriert euch in eurer neuen Heimat, indem ihr fleißig seid und die Gesetze achtet, aber vergesst auch eure Wurzeln nicht, denn sie gehören zu euch“, sagen sie. 

    Wenig überraschend ist deshalb, dass beide regelmäßig nach Armenien reisen, seit ihnen bei Einreise nicht mehr der Einzug in die Armee droht. In ihrem Heimatdorf, rund 25 Kilometer von der Hauptstadt Jerewan entfernt, besitzen sie ein Haus. An der kritischen Lage der Bevölkerung, die sich im immer wieder aufflammenden Konflikt mit Aserbaidschan in ständiger Kriegsangst befindet, nehmen sie viel Anteil. „Die Menschen haben viel Angst, trotzdem ist Armenien ein Land im Aufbruch, das sich touristisch sehr gut entwickelt“, sagt Robert, der sich mehrmals im Jahr in Jerewan aufhält. 

    Dass sie im Falle einer drohenden Ausweitung des Russland-Konflikts als ehemalige Angehörige der Bundeswehr in einen Krieg mit der langjährigen Schutzmacht Armeniens hineingezogen werden könnten, verdrängen die Harutyunyans. Die von Verteidigungsminister Boris Pistorius ausgerufene Kriegstüchtigkeit findet in ihrem Gedankenkosmos noch keinen Platz. „Wir wollen uns darüber keine Gedanken machen. Ich bin der festen Überzeugung, dass kein Mensch in den Krieg gezwungen werden darf. Was ich täte, wenn es so weit käme, weiß ich nicht“, sagt Artem. Ihm und seinem Bruder gehe es da wie den allermeisten Menschen auf dieser Welt. „Wir wollen einfach in Frieden leben und sind sehr dankbar dafür, dass wir es können.“ Und das, dank der Erfahrungen aus dem Boxsport, im Einklang mit ihren armenischen Wurzeln als Staatsbürger in ihrer Heimat Deutschland.

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