„Der Sport hat mir Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gegeben“
Im Rahmen des Diversity-Monats sprechen wir mit Testimonials aus dem Leistungssport zu den Vielfaltsdimensionen des DOSB. Zum Auftakt spricht Johanna Recktenwald (23), Weltmeisterin im Para-Biathlon, über die Entwicklung der Inklusion in Sport und Gesellschaft und erklärt, welche Vorurteile sie nerven und wie man diese abbauen könnte.

06.05.2025

DOSB: Der Diversity-Monat komprimiert viele Aktionstage zum Thema Diversity, die im Mai stattfinden. Welche Themen kommen dir als erstes in den Kopf, wenn du das Schlagwort Diversity hörst, was verbindest du damit?
Johanna Recktenwald: Für mich ist Diversity ein Themenmix, der mehrere Bereiche abdeckt. Ich denke dabei in erster Linie an Dinge wie Migration und Integration, Geschlechtergerechtigkeit, aber natürlich auch an Inklusion.
Über das Thema Inklusion möchten wir mit dir als herausragender Parasportlerin sprechen. Du bist durch die Zapfen-Stäbchen-Distrophie sehbeeinträchtigt. Welche persönlichen Herausforderungen hat das Sporttreiben an dich gestellt?
Die Sehbehinderung hat sich bei mir über die Zeit entwickelt, deshalb haben sich die Herausforderungen im Lauf der Jahre verändert. Als Kind habe ich Handball gespielt, aber in der dritten Klasse wurden die Beeinträchtigungen zu stark, um weiter Ballsport ausüben zu können. Ich habe dann ein paar Jahre nach dem richtigen Sport für mich gesucht. Ich habe getanzt, bin geritten, aber hatte ehrlich gesagt nicht so richtig einen Plan, was ich wirklich wollte. Dann bin ich über ein inklusives Langlaufprojekt, das im Saarland, wo ich aufgewachsen bin, von einer Blindenschule als AG organisiert wurde, in Kontakt zum Parasport gekommen.
Was hat das für dich verändert?
Meine gesamte Perspektive! Ich hatte bis dahin keine Berührungspunkte zum Parasport, ich wusste überhaupt nicht, welche Möglichkeiten er bietet. Ich war in der AG die Einzige, die gern mit dem Langlauf weitermachen wollte, dafür musste ich allerdings einen Verein finden. So bin ich in Kontakt mit dem Biathlon-Team Saarland gekommen. Es war für alle dort eine große Herausforderung, mich in den Betrieb zu integrieren, denn außer mir gab es dort niemanden mit einer Sehbehinderung. Das war für den Verein nicht einfach. Aber ich bin im Training mit der Gruppe mitgelaufen, und es hat sich immer jemand gefunden, der mich begleitet und unterstützt hat. Es war ein Musterbeispiel für Inklusion, wie man sie sich wünscht.
Wie hat dir das Sporttreiben für dein Leben und deinen Alltag genutzt?
In erster Linie hat mir der Sport Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gegeben. Seitdem ich in der Langlauf-AG gespürt habe, was ich trotz meiner Beeinträchtigung alles erreichen kann, empfinde ich diese nicht mehr als negativ, sondern als Chance. Auf einmal hatte ich Ziele, die ich verfolgen konnte, außerdem konnte ich meine Berührungsängste mit dem Thema Behinderung abbauen. Ich habe mir damals genau die Fragen gestellt, die sich viele Menschen ohne Beeinträchtigungen auch stellen. Aber zu sehen, wie positiv andere mit ihrer Behinderung umgehen, hat mich gelehrt, ebenso zu denken. Bevor ich im Parasport angekommen bin, wollte ich unbedingt vermeiden, dass andere merken, dass ich schlecht sehen kann. Im Sport habe ich gelernt, dazu zu stehen und offen damit umzugehen, und das war wie eine Erleichterung. Nun hoffe ich, dass auch ich anderen Menschen mit Behinderung Mut machen und als Beispiel dienen kann, was alles möglich ist.
Wie hat sich aus deiner persönlichen Sicht das Thema Inklusion im und durch Sport in den vergangenen Jahren entwickelt?
Durchaus positiv. Parasport bekommt immer mehr Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein dafür, dass man auch mit Behinderung sportlich aktiv sein und sogar auf höchstem Niveau Leistungssport betreiben kann, wächst kontinuierlich. Aus meinem direkten Umfeld am Olympiastützpunkt in Freiburg kann ich berichten, dass Parasport einen sehr hohen Stellenwert hat. Unser Team wird genauso als Leistungssporteinheit wahrgenommen wie das Olympiateam. Insgesamt ist mein Eindruck, dass das Thema Inklusion nicht nur im Sport, sondern auch in der gesamten Gesellschaft deutlich vorangekommen ist.
Dennoch gibt es sicherlich weiterhin auch viele Vorurteile, die Menschen gegenüber dem Parasport haben. Welche konnten abgebaut werden, welche bestehen weiter oder sind sogar schlimmer geworden?
Tatsächlich habe ich mich manches Mal darüber geärgert, dass Berichte über Parasport oft auf die Mitleidsschiene gezogen wurden. Zum Beispiel wurde, je mehr Aufmerksamkeit das Thema bekommen hat, auch immer öfter die Formulierung benutzt, dass wir Athletinnen und Athleten unter einer Behinderung leiden würden. Dem ist aber oft gar nicht so, wir leiden nicht darunter, sondern nehmen es als unsere Situation an, die uns anspornt und inspiriert. Wir möchten als normale Sportlerinnen und Sportler angesehen werden, die mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen gelernt haben.
Ist es für dich ermüdend und manches Mal auch störend, dass in Berichten über Parasportler*innen stets die Behinderung thematisiert wird?
Es kommt darauf an, wie der Kontext ist. Ich finde es durchaus inspirierend zu erfahren, welche Geschichten andere Athletinnen und Athleten mitbringen, und dazu gehört es auch, über deren Beeinträchtigungen zu erfahren. Ich kann auch verstehen, dass Menschen ohne Behinderung daran sehr interessiert sind. Wenn wir allerdings nur auf die Behinderung reduziert werden, ist es mir zu eindimensional. Und ich werbe auch um Verständnis für diejenigen, die nicht über ihre Behinderung oder die Umstände, die dazu geführt haben, sprechen möchten.
Ein weiteres Vorurteil über Parasport, mit dem eure Leistungen gern relativiert werden, ist die fehlende Breite, die es einfacher mache, Medaillen zu gewinnen. Was antwortest du darauf?
Das mit der Breite ist teilweise nicht zu leugnen, was aber auch daran liegt, dass die Gruppen derjenigen, die für bestimmte Wettkampfklassen infrage kommen, deutlich kleiner sind als im olympischen Sport. Und die Spitze hat auch im Parasport ein enorm hohes Niveau, das zu erreichen allein schon eine großartige Leistung ist. Deshalb sollte kein Medaillengewinn geringgeschätzt werden. Ein anderes Argument gegen dieses Vorurteil ist zudem, dass der Weg in die Weltklasse mit deutlich höheren Hürden gepflastert ist. Viele Menschen unterschätzen, wie viel Energie wir im Parasport aufwenden müssen, um überhaupt die Rahmenbedingungen für leistungssportgerechtes Training zu schaffen. Wir sind immer auf Hilfe angewiesen, die organisiert werden muss.
Welche dieser Hürden müssten besonders dringend abgebaut werden?
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn alle Sportstätten barrierefrei zugänglich wären. Bei Neubauten oder umfassenden Sanierungen wird das Thema Barrierefreiheit zum Glück mittlerweile flächendeckend mitgedacht. Sehr wichtig wäre auch, beim Thema Erreichbarkeit der Sportstätten weiterzukommen, das ist für viele Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen weiterhin ein echtes Problem. Am wichtigsten aber bleibt, weiterhin die Barrieren in den Köpfen abzubauen. Dafür wünsche ich mir viel häufiger gemischte Gremien, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen mitsprechen können, damit alles mitgedacht wird, was uns betrifft und das Leben schwer macht.
Welche Maßnahmen hältst du für geeignet, um diese Barrieren abzubauen und das Verständnis füreinander weiter zu erhöhen?
Das wichtigste Element dafür ist Sichtbarkeit. Damit meine ich nicht nur die regelmäßige Übertragung von Parasport-Wettbewerben im Fernsehen oder Livestream, sondern auch gemeinsame Wettkämpfe, wie es sie in einigen Sportarten ja bereits gibt. Bei uns in Freiburg treffen wir regelmäßig im Training mit dem Olympiateam zusammen, da gibt es viele Berührungspunkte, die beide Seiten bereichern. Aber viele olympische Athletinnen und Athleten sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie zum Beispiel sehr gut als Guide im Parasport geeignet wären und dort auch händeringend gesucht werden. Das würde sich deutlich verbessern, wenn wir mehr gemischte Wettkämpfe hätten.
Welche Grenzen sollte sich die Inklusion im Sport weiterhin bewahren? Hältst du beispielsweise eine Zusammenlegung von Olympischen und Paralympischen Spielen für sinnvoll oder kontraproduktiv?
Dabei kommt es sehr darauf an, wie die Wettkämpfe organisiert sind. Wenn Parasport nur als Rahmenprogramm eingebaut ist, wenn wir also nur geduldet werden und alles getan wird, damit der Zeitplan für die olympischen Wettbewerbe passt, hilft das niemandem weiter. Die Paralympischen Spiele sind für uns bislang extrem wichtig, weil dort die Aufmerksamkeit immens ist und wir allein im Mittelpunkt stehen. Deshalb hielte ich eine Zusammenlegung mit den Olympischen Spielen aktuell für wenig sinnvoll. Ich habe aber in diesem Winter bei den World University Games in Italien die Erfahrung gemacht, wie bereichernd es sein kann, in gemeinsamen Wettkämpfen anzutreten, bei denen natürlich alle getrennt gewertet werden, aber gemeinsam auf der Strecke unterwegs sind. Wenn sich die Dinge in diese Richtung entwickeln, wäre das ein sehr guter und wichtiger Schritt.
Das Teamwork im Parasport ist sehr beeindruckend. Wie schwierig ist es, einen Guide zu finden, der nicht nur sportlich in der Lage ist, dein Level mitzugehen, sondern dem oder der du auch persönlich vollkommen vertrauen kannst?
Das ist eine große Herausforderung, die mich immer wieder an Grenzen geführt hat. Ich habe die gesamte Bandbreite an Erfahrungen gemacht und manchmal sehr lange gesucht, bis ich jemanden gefunden habe, bei dem alles passt. Man darf ja nicht vergessen, dass ich eigentlich Einzelsport betreibe, der aber durch meine Hilfsbedürftigkeit zum Teamsport wird. Es war anfangs wirklich nicht leicht, Hilfe überhaupt anzunehmen. Zu wissen, dass man immer auf jemand anderen angewiesen ist, um das Bestmögliche zu erreichen, legt einen intensiven Fokus auf die Auswahl dieser Person, mit der man im Winter mehrere Monate unterwegs ist und sich manchmal sogar das Zimmer teilt. Aber wenn es gelingt, die verschiedenen Ebenen zusammenzuführen und damit erfolgreich zu sein, ist das eine sehr wichtige Komponente und ein wirklich schönes Gemeinschaftsgefühl.
Du startest seit 2023 neben dem Wintersport auch noch im Radsport. Warum hast du dich dafür entschieden, und wie gelingt es dir, beides auf Spitzenniveau zu betreiben?
Der Deutsche Behindertensport-Verband hat ein Exzellenz-Cluster für Athletinnen und Athleten gegründet, die in einem Sport zur Weltklasse zählen und noch etwas anderes ausprobieren wollen. Da ich für meinen Hauptsport im Ausdauertraining sowieso viel auf dem Rad sitze, lag es für mich nahe, es mal im Radsport zu versuchen. So durfte ich vor zwei Jahren zum ersten Mal mit der Nationalmannschaft trainieren und bin mittlerweile auch im Weltcup aktiv. Das ist ein sehr guter Ausgleich. Natürlich ist das zeitintensiv, weil mir Urlaub und Erholungsphasen fehlen, die andere Athletinnen und Athleten, die sich auf Wintersport konzentrieren, haben. Aber mit der richtigen Steuerung ist das kein Problem, sondern hilft mir sogar, um für die Wintersaison in Topform zu kommen. Ich schätze zudem sehr die neue Erfahrung, dass mein Guide mit mir gemeinsam auf dem Fahrrad sitzt und seine Körperkraft einbringt. Beim Biathlon oder Langlauf läuft mein Guide ja vor mir her und sagt die Strecke an, aber die Athletik und Ausdauer bringe ich allein ein. Auf dem Rad treten wir gemeinsam.
Gibt es ein sportliches Ziel, das du erreicht hast, obwohl dein Umfeld oder du selbst es für unerreichbar gehalten hast? Und hast du noch ein Ziel, das du unbedingt erreichen möchtest?
Hätte ich etwas für unerreichbar gehalten, hätte ich es mir nicht als Ziel gesetzt. Aber dass ich schon in diesem Jahr Weltmeisterin im Biathlon geworden bin, hat mich schon überrascht, damit hätte ich so schnell nicht gerechnet. Was ich unbedingt noch erreichen möchte, ist selbstverständlich eine paralympische Medaille. Dieses Ziel haben alle, die im Parasport aktiv sind, und ich möchte es gern im kommenden Jahr in Italien verwirklichen.
Mit deinen Erfahrungen und deinem Engagement wärst du prädestiniert, um nach der aktiven Karriere das Thema Inklusion weiter voranzutreiben. Kannst du dir vorstellen, dich nach deinem Studium der Gesundheitspädagogik beruflich entsprechend einzubringen?
Auf jeden Fall! Mit meinem Studium habe ich mehrere Möglichkeiten, am liebsten möchte ich in Richtung Gesundheitsberatung gehen. Aber ich muss nicht bis nach der aktiven Karriere warten, um mich in dem Bereich zu engagieren. Ich bin im Juniorteam der DBS-Jugend, in dem wir die Partizipation junger Menschen an ehrenamtlicher Arbeit in den Vordergrund stellen. An meiner Uni haben wir ein Inklusionsreferat für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, dort versuche ich mich ebenfalls einzubringen. Ich halte zudem Vorträge und leite Workshops. Das ist mir ein wichtiges Anliegen, und ich freue mich darauf, dort in Zukunft noch viel mehr machen zu können, damit wir das Thema Inklusion immer breiter in die Gesellschaft tragen und irgendwann alle Hürden beseitigen können.
Zur Person:
Johanna Recktenwald, geboren am 11. Juni 2001 in St. Wendel, gehört zu den besten deutschen Para-Wintersportlerinnen. Die Athletin vom Biathlon-Team Saarland, die mittlerweile am Olympiastützpunkt Freiburg trainiert, gewann bei den Nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Pokljuka (Slowenien) Anfang des Jahres Gold im Biathlon über 12,5 Kilometer sowie zweimal Silber über 7,5 Kilometer und in der Verfolgung.
Bei den diesjährigen World University Winter Games in Turin (Italien) kamen Silbermedaillen im Langlaufsprint und über die 10 Kilometer Freistil dazu. Recktenwald, die an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Gesundheitspädagogik studiert, ist durch eine fortschreitende Zapfen-Stäbchen-Distrophie sehbeeinträchtigt und tritt bei Para-Wettbewerben in der Startklasse B2 an. Als Ausgleichssport im Sommer ist sie seit 2023 auch im Radsport-Weltcup aktiv.