Selbstwert ist mehr als Gold, Silber, Bronze
Tabea Schendekehl kehrt nach Olympiabronze mit dem Doppelvierer bei der Ruder-WM in Shanghai im Achter auf die internationale Bühne zurück. Die 26-Jährige hat auf die harte Tour gelernt, Belastung zu steuern und offen über Bedürfnisse zu sprechen.

15.09.2025

Wäre alles so gekommen, wie sie es zu Jahresbeginn geplant hatte, dann würde Tabea Schendekehl dieser Tage wahrscheinlich entspannt auf das neue Semester warten. Sport und Englisch auf Lehramt studiert die 26-Jährige in Berlin, was sich fast zwangsläufig ergibt, wenn man weiß, dass sie seit dem zwölften Lebensjahr Rudern als Leistungssport betreibt und in Seattle (USA) einen Bachelor in Kunst abgeschlossen hat. Aber Tabea Schendekehl weiß besser als viele andere Athlet*innen, dass im Leben oftmals vieles anders kommt, als man denkt und plant. Und deshalb ist sie vollkommen fein damit, seit Montagmorgen in Shanghai mit dem Team des Deutschen Ruder-Verbands (DRV) die letzten Vorbereitungen auf die WM zu treffen, die an diesem Sonntag beginnt und bis zum 28. September dauert. „Ich freue mich sehr darüber, wieder Teil der Mannschaft sein zu können“, sagt sie, „und ich fühle mich absolut bereit für den Saisonhöhepunkt!“
Dass sie diese Sätze sagen würde, schien im Herbst des vergangenen Jahres kaum denkbar. Bei den Olympischen Spielen in Paris hatte die Athletin vom RC Hansa aus Dortmund mit Pia Greiten (28/Osnabrücker RV), Leonie Menzel (26/RC Germania Düsseldorf) und Maren Völz (25/RC Potsdam) Bronze im Doppelvierer gewonnen und damit für einen der wenigen Lichtblicke aus Sicht des in den vergangenen Jahren krisengeplagten DRV gesorgt. „Das war ein herausragendes Erlebnis. Danach habe ich aber gespürt, wie hart der Weg bis Paris gewesen ist, und wusste, dass ich dringend eine Pause brauche, um mich physisch und mental zu erholen, wenn ich mein Ziel, 2028 in Los Angeles noch einmal um Olympiamedaillen zu kämpfen, erreichen möchte“, sagt sie.
2021 erhielt sie die Diagnose Angststörung und Depression
Das Bewusstsein dafür, was Kopf und Körper gut tut, rührt aus einem Erlebnis vor vier Jahren her, das Tabea Schendekehl als „Wendepunkt“ beschreibt. Im Frühjahr 2021 hatte sie mit dem deutschen Achter die Nachqualifikation für die wegen Corona um ein Jahr verschobenen Olympischen Spiele in Tokio verpasst – eine schwere Enttäuschung nach vielen Monaten harter Trainingsarbeit. Dazu hatte sie mit ihrem Team von der University of Washington die gesamte Saison durchgezogen. „Ich habe mich da regelrecht durchgeschleppt“, sagt sie rückblickend. Die Folge: Die Freude am Rudern ging verloren, die gebürtige Lünerin rutschte in ein Burn-out, aus dem sich Panikattacken entwickelten, gepaart mit Antriebs- und Freudlosigkeit. „Beim obligatorischen Gesundheitstest, den man in den USA am College absolvieren muss, fing ich auf die Frage, wie es mir geht, zu weinen an. Da hat mich der Arzt gefragt, ob ich bereit wäre, mich in psychologische Behandlung zu begeben.“
Die psychologische Diagnose – generalisierte Angststörung und leichte Depression – erschien ihr wie eine Befreiung. Eine Gesprächstherapie, kombiniert mit der Einnahme eines Antidepressivums, das den Haushalt des Neurotransmitters Serotonin steuert, half ihr durch die dunkle Phase. „Ich habe über mehrere Monate Pause vom Rudern gemacht, bin viel gewandert und Rad gefahren, was dem Körper guttat. Meine wichtigste Erkenntnis aber war, dass ich mir diese Pausen gönnen darf. Ich dachte früher, dass ich kein vollwertiger Mensch wäre, wenn ich zwei Tage nicht trainiere. Ich habe in jedem Training Bestleistung von mir erwartet und konnte mich dann nicht einmal darüber freuen, wenn sie mir gelungen war“, sagt sie. Nun habe sie verstanden, dass ihr Leben mehr ist als der Leistungssport, über den sie sich lange definiert hat, und wie wichtig es ist, Körper und Kopf Pausen zu gönnen.
2020 gewann sie als Schlagfrau mit dem Achter EM-Silber
Es war dieses Gefühl, das sie nach Paris dazu bewegte, in der nacholympischen Saison kürzer zu treten. „Das habe ich auch durchgezogen, ich habe weniger trainiert und nur punktuell Wettkämpfe bestritten“, sagt sie. Dann kam im April die Anfrage der neuen sportlichen Leitung des DRV, bestehend aus Chefbundestrainer Marcus Schwarzrock und Robert Sens als Vorstand Leistungssport, ob sie sich vorstellen könne, den neuformierten Achter zu unterstützen. Und das konnte sie. Bei der EM 2020 in Polen war Tabea Schlagfrau des Achters, der die Silbermedaille holte, und deshalb mit dem Riemenrudern vertraut. Und weil aus der Bronze-Besatzung des Doppelvierers lediglich Pia Greiten übrig geblieben ist, fiel ihr auch der Wechsel des Umfelds leichter. „Ich hatte mich ja bewusst für eine Pause entschieden, deswegen war der Teamwechsel kein großes Problem, obwohl bei so etwas immer ein lachendes und ein weinendes Auge im Spiel sind“, sagt sie.
Der erneute Wechsel vom Skullen, bei dem die Athlet*innen zwei Ruder führen, zum Riemen, wo ein Ruder mit beiden Händen bewegt wird, brachte keine Probleme. Geholfen habe ihr vor allem, im neuen Team mit offenen Armen empfangen worden zu sein, „obwohl ich erst so spät dazugestoßen bin und einer anderen Athletin den Platz weggenommen habe. Aber ich spüre, dass hier alle ein gemeinsames Ziel verfolgen und als Team zusammenhalten, und das tut sehr gut“, sagt sie. Zudem habe ihr Alexander Schmidt, Chefcoach für den Frauen-Riemenbereich am Berliner Bundesstützpunkt, das Gefühl gegeben, auf sie zu bauen.
Also hat sich Tabea Schendekehl in die Aufgabe gestürzt, die eine knifflige wird. In den vergangenen Jahren war der Bereich Frauen-Riemen das Sorgenkind innerhalb des an Sorgen reichen DRV, was sich in sportlich schwachen bis desaströsen Resultaten auf internationalen Großevents niederschlug, die von Verantwortlichen in entsprechend drastischen Worten kommentiert wurden. „Manche Äußerungen waren grenzwertig und auch nicht akzeptabel. Wenn Sportlerinnen, die ihr Bestes versuchen, derart niedergemacht werden, ist es nicht verwunderlich, dass Wertschätzung vermisst wird“, sagt Tabea Schendekehl. Grundsätzlich fehle in Deutschland Wertschätzung für den Leistungssport, die in den USA überall spürbar sei. „Nach der Bronzemedaille gab es kurz mediale Aufmerksamkeit, die jetzt aber wieder quasi non-existent ist. Das Verständnis dafür, was im Leistungssport geleistet wird, ist in Deutschland weiterhin nicht da, und das ist sehr schade“, sagt sie. Olympische Spiele im eigenen Land könnten möglicherweise für den dringend benötigten Umschwung und eine Neuausrichtung der Sportförderung in Deutschland sorgen.
Die Neuausrichtung der sportlichen Führung im DRV habe immerhin dazu geführt, dass ein neuer Geist Einzug gehalten hat. „Marcus und Robert haben frischen Wind und eine positive Grundstimmung erzeugt. Wir haben jetzt wieder das Gefühl, dass der Verband hinter all seinen Athletinnen und Athleten steht“, sagt sie. Dass man dennoch keine Wunderdinge erwarten kann für diese Welttitelkämpfe, ist klar. „Die Weltspitze ist uns doch einige Längen voraus. Aber wir haben uns das Erreichen des A-Finales zum Ziel gesetzt und können das auch schaffen, wenn wir umsetzen, was wir uns im Training erarbeitet haben“, sagt sie. Dafür müssen im Vorlauf am 25. September (4.05 Uhr, alle Zeiten MEZ) zwei der vier gegnerischen Crews bezwungen werden. Nach einer Regeländerung gibt es keine Hoffnungsläufe mehr, die besten drei Teams der beiden Fünferfelder erreichen das Medaillenrennen am 27. September (9.05 Uhr). „Wir müssen also schon den Vorlauf wie ein Finale sehen und alles reinlegen.“ Bei den schwierigen klimatischen Bedingungen, auf die sich das Team mittels Ergometertraining in beheizten und befeuchteten Zelten vorbereitet hat, ist das ein kraftraubendes Unterfangen.
Am WM-Abschlusstag startet sie bei der Premiere im Mixed-Achter
Etwas Kraft muss sich Tabea Schendekehl allerdings für den Abschlusstag der WM aufsparen. Am 28. September steht das WM-Debüt des Mixed-Achters auf dem Terminplan, für den sie nominiert ist. Vorlauf (4.19 Uhr) und Finale (8.57 Uhr) finden an einem Tag statt. „Doppelstarts sind in Deutschland, anders als in anderen Nationen, nicht die Regel, deshalb bin ich sehr gespannt darauf, wie wir damit umgehen. Aber es ist eine tolle Chance und eine spannende Erfahrung“, sagt sie. In den WM-Vorbereitungscamps in Ratzeburg hatte die Mixed-Crew Gelegenheit, mehrmals gemeinsam zu trainieren. „Aus meiner Sicht hat es überraschend gut funktioniert. Ich finde es sehr interessant, wie es gelingt, die unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen so zusammenzufügen, dass es harmoniert.“ Zehn Mixed-Teams wollen in China an den Start gehen, „und weil wir noch keinen Leistungsvergleich haben, sind die Medaillenchancen schwer einzuschätzen. Es ist aber ein ernstzunehmendes Rennen, auf das wir alle Lust haben“, sagt sie.
Um sich selbst nicht zu überfordern, hat sich Tabea Schendekehl Inseln der Entspannung geschaffen, auf die sie sich zurückziehen kann. „Wenn meine Me-Time zu kurz kommt, nehme ich mir Zeit, um meine Balance zu finden. Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, mich an erste Stelle setzen zu dürfen, und ich finde es wichtig, darüber zu reden, was ich jahrelang nicht konnte, um anderen zu zeigen, dass es nicht normal ist, sich ständig selbst unter Druck zu setzen, ohne Freude zu empfinden“, sagt sie. Eine wichtige Funktion hat dabei die Kunst, „weil sie so viele verschiedene Arten bietet, sich auszudrücken, und keine Limits setzt. Ich finde in der Kunstwelt viele Gleichgesinnte und schätze sie als wichtigen Gegenpol zum Rudern“, sagt sie. Kunst, die auf den ersten Blick nicht eingängig ist, findet sie besonders interessant, „aber auch die Beschäftigung mit Fotografie, Lyrik oder dem Kuratieren von Kunst, die alle Teil des Studiums in den USA waren, haben mir sehr viel gegeben.“
Tabea experimentiert gern mit ihrer Frisur
Um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen, experimentiert Tabea Schendekehl gern mit ihrer Frisur. Wer Bilder von den Großereignissen der vergangenen Jahre nebeneinander legt, wird keines finden, das im Hinblick auf ihre Haarpracht dem anderen gleicht. „Im Leistungssport, wo die Kleidung oft uniformiert ist, sind die Frisur oder Schmuck ein Weg, Individualität auszudrücken“, sagt sie. Die Erfahrung, sich nahezu komplett von seinen Haaren zu trennen, wie es Tabea Schendekehl mit dem „Buzz Cut“ genannten Style schon dreimal getan hat, könne sie als Akt der Befreiung sehr empfehlen. Bei der „Sportler des Jahres“-Gala im vergangenen Jahr, als sie mit dem Doppelvierer-Team für Olympiabronze geehrt wurde, hatte sie sich Blumen in den blondgefärbten Buzz Cut einfärben lassen, passend dazu trug sie eine Blumenkrawatte.
Die Haare sind längst nachgewachsen, auch die Hoffnung, dass der Achter unter ihrem Beitrag aufblühen kann, gedeiht Tag um Tag mehr. Doch selbst, wenn es nichts wird mit dem Erreichen der Ziele, wähnt Tabea Schendekehl sich gewappnet für das, was kommt. Sie möchte bis Los Angeles vieles dem Rudern unterordnen und sich „noch einmal voll committen“. Aber sie weiß, dass es keine weitere Medaille braucht, um glücklich sein zu dürfen mit dem, was und wer sie ist. Und das ist mehr wert als Gold, Silber, Bronze.