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Ein letztes Mal ihren geliebten Sport genießen

Lisa Mayer wird ihre Leichtathletik-Karriere nach der WM in Japan beenden. In Tokio geht die 29-Jährige im Einzel über 100 Meter an den Start und hofft auf ein Happy End mit der Staffel. Was danach kommt, darüber entscheidet sie im Herbst.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

09.09.2025

Eine Sportlerin wirft Kusshände
Lisa Mayer lässt sich in Paris vom Publikum feiern, nachdem sie Bronze mit der Staffel gewonnen hat.

Die Gedanken an das, was kommen kann, versucht sie so gut wie möglich zu verdrängen. Nicht, weil Lisa Mayer ein Mensch ist, der nicht an morgen denkt oder naiv an Dinge herangeht. Sondern weil sie aus der Erfahrung aus gut einem Jahrzehnt im Hochleistungssport weiß, dass es oft anders kommt, als man gedacht hätte. Und so steht für die 29 Jahre alte Topathletin vom Sprintteam Wetzlar von diesem Samstag an, wenn in Tokio die Leichtathletik-WM startet, nur eins im Vordergrund: „Ich möchte unbedingt noch einmal optimal performen und gute Rennen auf die Bahn bringen!“ Ein letztes Mal alles herausholen aus dem geschundenen Körper, ehe sie dann nach den Welttitelkämpfen in Japans Hauptstadt ihre aktive Karriere beendet.

Die Entscheidung für diesen Schritt hat Lisa Mayer vor den deutschen Meisterschaften Ende Juli getroffen. Nachdem sie ihr enges Umfeld eingeweiht hatte, machte sie ihn Ende August publik - und war überwältigt von der Resonanz, die sie darauf erhielt. Umso schwieriger ist es, angesichts der vielfältigen Reaktionen den Fokus auf das zu richten, was nun ein letztes Mal der Mittelpunkt ihres Lebens ist. Wenn alles optimal läuft, dann kommt zu ihrem Einzelstart über die 100 Meter, der am Auftaktwochenende ansteht, auch ein Einsatz in der 4x100-Meter-Staffel dazu, der für das Schlusswochenende (20./21.9.) angesetzt ist. „Der Einzelstart war mein größtes Saisonziel, deshalb bin ich schon jetzt sehr glücklich, dass ich das geschafft habe. Aber mit der Staffel habe ich meine größten Erfolge gefeiert, insofern wäre es ein perfektes Happy End, wenn ich noch ein letztes Mal mit dem Team um eine Medaille kämpfen könnte“, sagt sie.

Olympia-Bronze mit der Staffel in Paris überstrahlt alles 

Ohne Frage: Die Bronzemedaille, die Lisa Mayer 2024 mit der Staffel bei den Olympischen Spielen in Paris gewann, überstrahlt sogar das 2022 bei den European Championships in München gewonnene EM-Gold. „Das waren herausragende Momente, die mir für immer bleiben werden“, sagt sie, „ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das erleben konnte.“ Momente, die sie als Belohnung für all die Mühen betrachtet, die ihr insbesondere ihr verletzungsanfälliger Körper bereitet hat. Auch in dieser Saison lief einiges anders als erhofft, Probleme mit der Muskulatur im Rücken und im Gesäß, die auch in die Beine ausstrahlten, zermürbten sie einmal mehr.

Umso glücklicher ist Lisa Mayer, die seit einer Woche mit dem 80 Teilnehmenden umfassenden deutschen Team im Vorbereitungscamp in Miyazaki auf der Insel Kyushu trainiert, dass sie ihr Karriereende nicht als physisch erzwungen empfinden muss. „Ich wollte diese Entscheidung immer selbstbestimmt treffen und nicht, weil es körperlich nicht mehr geht“, sagt sie, „ich fühle mich seit ein paar Wochen wieder topfit, spüre aber auch, wie sehr ich mit meiner Entscheidung, mich nun neuen Dingen zuzuwenden, im Reinen bin. Es fühlt sich absolut richtig an, und deshalb kann ich mit nichts als Vorfreude in meine letzte WM starten“, sagt sie.

Einfach nur mitlaufen, das wäre der gebürtigen Gießenerin, die im Frankfurter Stadtteil Niederrad wohnt, aber deutlich zu wenig. „Mein Anspruch ist, das Halbfinale zu erreichen. Ich weiß, dass ich dafür in die Nähe meiner Bestzeit von 11,10 Sekunden laufen muss. Aber ich glaube, dass ich das draufhabe. Der Kopf wird entscheidend sein“, sagt sie. Ein starker Auftritt im Einzel dürfte ihr zudem die Eintrittskarte zum Staffelwettkampf sichern. Die interne Konkurrenz ist mit Gina Lückenkemper (28/SCC Berlin), Sina Mayer (30/LAZ Zweibrücken), die das deutsche Sprint-Trio im 100-Meter-Einzelrennen komplettieren, Sophia Junk (26/LG Rhein-Wied), Rebekka Haase (32/Sprintteam Wetzlar) und Jolina Ernst (21/TV Wattenscheid) immens. „Wir sind alle auf Augenhöhe, das macht die Stärke unseres Teams aus. Aber selbst wenn ich nur als Ersatzläuferin dabei wäre, würde ich mich natürlich zu 100 Prozent einbringen, um eine WM-Medaille zu holen!“

  • Lisa Mayer

    Ehrlich gesagt mache ich mir über das berüchtigte schwarze Loch keine Gedanken. Die Vorfreude, all das zu entdecken, was auf mich wartet, erzeugt so viele positive Gefühle, dass ich für Negativität keinen Raum finde.

    Lisa Mayer
    Europameisterin und Olympia-Bronzegewinnerin mit der 4x100-Meter-Staffel
    Sprintteam Wetzlar

    Eine Erfahrung, auf die Lisa Mayer zum Ende ihrer Karriere gern verzichtet hätte, ist die Einführung des Tests auf das SRY-Gen, mit dem das biologische Geschlecht bestimmt werden soll. Seit dem 1. September besteht der Weltverband World Athletics (WA) auf diesen Nachweis, um die weibliche Kategorie zu schützen - und hat damit weltweit kontroverse Diskussionen ausgelöst. „Es ist ein sehr sensibles und spannendes Thema, denn der Schutz von Frauen ist sehr wichtig, deshalb ist die Intention des Weltverbands nachvollziehbar“, sagt Lisa Mayer. Ihr größter Kritikpunkt ist die sehr dürftige Informationspolitik seitens World Athletics und der sehr kurze Vorlauf von nur sechs Wochen von der Entscheidung für die Durchführung der Tests bis zu deren erstmaliger Umsetzung.

    „Man muss bedenken, dass Betroffenen, die nicht mehr in der weiblichen Kategorie starten dürfen, innerhalb weniger Wochen die Lebensgrundlage entzogen wird. Das ist hart und hätte anders geregelt werden können“, sagt sie. Zudem verursache die Kurzfristigkeit Unruhe zur Unzeit. „Es ist ein ständiges Medienthema, obwohl doch gerade jetzt der Sport im Mittelpunkt stehen sollte. Angesichts der Komplexität hätte ich es besser gefunden, sich die nötige Zeit mit der Umsetzung zu geben. So etwas kurz vor dem Saisonhöhepunkt durchzuziehen, finde ich sehr schade und auch ein Stück weit unprofessionell, auch weil ich befürchte, dass nicht alle nationalen Verbände so schnell und gut gehandelt haben wie unserer.“

    Nachdem die WA-Entscheidung viele Fragen offen ließ und die Umsetzung und Finanzierung der Tests auf die nationalen Verbände abgewälzt wurde, ist Lisa Mayer für das Engagement des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) sehr dankbar. „Der DLV hat uns umfassend informiert, er hat sich darum gekümmert, dass wir ein Testkit zugeschickt bekommen haben, und uns das obligatorische Aufklärungsgespräch mit einer Expertin ermöglicht“, sagt sie. Einzig die Blutentnahme musste sie selbst organisieren. Das Ergebnis des Tests kennt bislang neben dem zuständigen Labor nur sie selbst, es ist auf Nachfrage dem Weltverband vorzulegen. Wie valide es ist, kann Lisa Mayer nicht einschätzen. „Ich habe versucht, mich in die Thematik einzulesen, habe aber keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür finden können, dass das SRY-Gen wirklich männlich macht. Deshalb fürchte ich, dass dieses Thema den Sport noch lange beschäftigen wird“, sagt sie.

    Lisa Mayer möchte Sport neu für sich entdecken

    Sie selbst kann das Ganze künftig aus der Ferne beobachten. Sicher ist aber, dass der Sport auch weiterhin zu ihrem Leben gehören soll. „Sport war bislang mein Leben und wird immer ein Teil meines Lebens bleiben. Aber wie und wo genau ich mich künftig engagiere, ist noch nicht klar“, sagt sie. Nach der Bekanntgabe ihrer Entscheidung seien „zwei, drei Türen aufgegangen, und jetzt muss ich schauen, durch welche ich gehen möchte.“ Den Herbst will Lisa Mayer nutzen, um ihre Gedanken neu zu ordnen. Sie hat ein abgeschlossenes Studium der Germanistik und Geografie. Sie interessiert sich sehr für Literatur, schreibt für die DOSB-Medien seit Jahresbeginn ihre eigene Kolumne „Lisas Literatur-Likes“. Und sie freut sich darauf, Sport für sich neu zu entdecken. „Morgens aufzustehen und das zu machen, worauf ich Lust habe, anstatt das tun zu müssen, was der Trainingsplan vorschreibt - das ist ein Traum. Ich werde ganz viel ausprobieren!“

    Sorge vor dem berüchtigten „schwarzen Loch“, in das Leistungssportler*innen nach dem Karriereende zu fallen drohen, weil sie plötzlich spüren, dass in ihrem Leben vielleicht nie wieder etwas kommt, was sie so gut können wie ihren Sport, hat Lisa Mayer keine. „Ehrlich gesagt mache ich mir darüber keine Gedanken. Die Vorfreude, all das zu entdecken, was auf mich wartet, erzeugt so viele positive Gefühle, dass ich für Negativität keinen Raum finde“, sagt sie. Um die aufkommende Emotionalität zu kanalisieren, wird sie vor dem WM-Start intensiv mit ihrer Sportpsychologin kommunizieren. „Aber aktuell ist da nur das Gefühl, dass ich genießen will, was kommt“, sagt sie.

    An diesem Mittwoch soll sich zudem ein Kreis schließen, der seit 2021 offen ist. Damals war das deutsche Leichtathletik-Team zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Tokio ebenfalls in Miyazaki gewesen. Im letzten Training verletzte sich Lisa Mayer so schwer, dass sie auf den Saisonhöhepunkt verzichten und stattdessen in die Heimat zurückreisen musste. Diesmal will sie den Flieger in Richtung Tokio besteigen. „Ich glaube, das wird richtig gut“, sagt sie. Ob sie ihren Wettkampf meint oder das Leben danach, bleibt offen – und es ist ihr zu wünschen, dass es auf beides zutrifft.

    DLV-Mediziner Karsten Hollander erklärt den Gentest

    Das SRY-Gen liegt auf dem Y-Chromosom und steuert die Entwicklung der Hoden, also den Beginn der männlichen Geschlechtsentwicklung. Ist es vorhanden und funktionsfähig, entwickelt sich ein Embryo männlich, fehlt es oder ist es defekt, entwickelt er sich weiblich. Die Abwesenheit des SRY-Gens spricht sehr stark für eine weibliche Entwicklung, ist aber kein 100%iger Garant, da selten auch andere Gene die Geschlechtsentwicklung beeinflussen können.

    Ein einmaliger Test auf das SRY-Gen ist laut World Athletics lebenslang gültig, da das Gen unveränderlich im Erbgut liegt. Ein SRY-Test prüft das Genom selbst. Das Ergebnis lässt sich nicht einfach manipulieren, weil die DNA in allen Körperzellen gleich ist. Nur durch schwerwiegende Laborfehler, falsche Probenentnahme oder gezielte Fälschung des untersuchten Materials könnte ein falsches Resultat entstehen - biologisch lässt sich das Gen nicht verstecken oder verändern.

    Zunächst hat der DLV alle deutschen Athletinnen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits für die Weltmeisterschaften qualifiziert hatten oder Chancen auf eine WM-Nominierung besaßen, mit einem Schreiben über die von World Athletics eingeführten Gentests zum Nachweis des biologischen Geschlechts informiert. Vor der Testung war ein Aufklärungsgespräch mit einer Fachärztin oder einem Facharzt für Humangenetik notwendig. Die Organisation und Durchführung der Gespräche erfolgten unmittelbar durch die betreffenden medizinischen Dienstleister und ihre spezialisierten Ärztinnen und Ärzte. Anschließend mussten die Athletinnen eine Blutentnahme durchführen lassen.

    Um den Ablauf - insbesondere mit Blick auf die Kurzfristigkeit - zu erleichtern, hat der DLV mit verschiedenen geeigneten Anbietern für medizinische Dienstleistungen in diesem Spezialgebiet gesprochen. So konnten kurzfristig Angebote geschaffen werden. Die betreffenden Anbieter stellten zeitnah Testkits zur Verfügung und führten die Analysen der Proben in eigenen Diagnostiklaboren durch. Die Analyse dauert rund zwei Wochen. Nach Zusendung der Testkits konnten die Athletinnen in Deutschland die benötigte Blutabnahme beim Hausarzt, einem DLV-Verbandsarzt oder einem Bundesstützpunkt-Arzt durchführen lassen. Da sich einige Athletinnen im Ausland auf die WM vorbereiten, zum Beispiel im Trainingslager in St. Moritz, gab es auch die Möglichkeit, sich in der Schweiz sowie in den USA und in Spanien zu testen. Der Versand des Testkits an das Labor erfolgte dann entweder durch die Ärzte oder direkt durch die Athletinnen.

    Die Ergebnisse der Tests erhält der DLV nicht. Sie müssen ausschließlich auf Nachfrage des Medical Delegate von World Athletics über eine verschlüsselte E-Mail von den Athletinnen an den Medical Delegate gesendet werden.

    Ein Test kostet je nach Labor mehrere Hundert Euro. Angesichts der extremen Kurzfristigkeit hat zunächst der DLV die Kosten übernommen. Es werden derzeit verschiedene Möglichkeiten einer Finanzierung geprüft. World Athletics sieht bei der Bezahlung die nationalen Verbände in der Verantwortung. Der Weltverband hat lediglich angekündigt, sich mit 100 US-Dollar pro Test zu beteiligen. Allerdings nur für Athletinnen, die dann auch tatsächlich bei der WM starten. 

    Medizinisch gesehen geben Tests Hinweise auf genetische oder chromosomale Merkmale, aber keine absolute Aussage über Geschlechtsidentität, Hormonsituation oder sportliche Leistungsfähigkeit. Es ist denkbar, dass Athletinnen die Entscheidung anfechten könnten, da genetische Tests allein keine eindeutige Aussage über Geschlecht oder sportliche Leistungsfähigkeit zulassen.

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