„Ganz ohne Kanupolo kann ich noch nicht leben“
Leonie Wagner ist seit Mai 2024 Cheftrainerin und Nationalspielerin im Kanupolo. Bei der EM in Frankreich beendet die 28-Jährige an diesem Wochenende ihre internationale Karriere - und freut sich sehr auf den nächsten Lebensabschnitt im Leistungssport.

09.09.2025

Sie wird weinen, ganz bestimmt. Aber mehr als die Tränen, die fließen werden, sieht Leonie Wagner nicht, wenn sie an das kommende Wochenende denkt. „Ich versuche, mir nicht zu viel auszumalen. Es kommt, wie es kommt, und so werde ich es annehmen“, sagt die 28-Jährige mit Blick auf den emotionalen Höhepunkt, der auf sie wartet. Bei der EM im Kanupolo, zu der sich von diesem Donnerstag bis Sonntag in Avranches in der französischen Region Normandie die besten Frauen-, Männer- und U-21-Teams des Kontinents treffen, erlebt Leonie Wagner ihr letztes internationales Turnier. Und sie verhehlt nicht, dass dieser Abschied ein Einschnitt sein wird, der nachhallt. „Ein großer Teil meines Selbstbewusstseins kommt über den Sport. Die Gedanken, dass es vielleicht nie mehr etwas geben wird, das solche Emotionen auslöst, sind normal. Die Unsicherheit, wer ich ohne meinen Sport noch bin, kommt schon manchmal auf. Trotzdem fühlt sich die Entscheidung richtig an“, sagt sie.
Wer denkt, dass auch im Kanupolo 28 noch kein Alter ist, in dem der Abschied vom Leistungssport zwingend erscheint, liegt richtig. Für Leonie Wagner jedoch ist er alternativlos, was daran liegt, dass sie dem internationalen Kanupolo erhalten bleiben will. Seit Mai 2024 ist die gebürtige Bayerin in Personalunion als Cheftrainerin für die vier deutschen Kanupolo-Nationalteams verantwortlich. Es ist die einzige bezahlte Vollzeitstelle, die im Deutschen Kanu-Verband (DKV) für den Nischensport Kanupolo existiert, entsprechend zeitintensiv ist sie angelegt. „Dass ich das Ganze mehr als ein Jahr in Doppelfunktion ausüben durfte, war ein Zugeständnis, das ich dem DKV abringen konnte. Aber jetzt merke ich, dass ich langsam an Grenzen stoße, deshalb ist es an der Zeit, mich auf das Amt als Cheftrainerin zu konzentrieren“, sagt sie.
Mitte August gewann sie in China World-Games-Gold
Ihr Wunsch war gewesen, noch einmal die World Games als Spielerin zu erleben. Die Weltspiele der nicht-olympischen Sportarten sind der sportliche Höhepunkt für die Polo-Kanut*innen, und weil Mitte August in Chengdu (China) die beiden deutschen Teams die Goldmedaille gewinnen konnten, ist Leonie Wagner umso dankbarer dafür, den Rücktritt hinausgezögert zu haben. „Nachdem klar war, dass in diesem Sommer für mich als Spielerin Schluss ist, habe ich angefangen, alles umso bewusster zu erleben. In Chengdu habe ich jeden Moment in mich aufgesaugt und genießen können. Es war eine wundervolle Zeit, und ich bin sicher, dass das bei der EM ähnlich intensiv sein wird“, sagt sie.
Zwar seien die beiden Turniere kaum miteinander zu vergleichen, weil die nur alle vier Jahre stattfindenden World Games sportlich und emotional hochwertiger eingestuft werden als das Kontinentalturnier, das im Zweijahresturnus ausgetragen wird. „Aber wir sind Titelverteidiger und wollen unseren Status untermauern“, sagt Leonie. Sorge, dass das World-Games-Gold Kratzer bekommen könnte, sollte die Titelverteidigung bei der EM misslingen, hat sie nicht. „Man muss die beiden Turniere losgelöst voneinander betrachten. Wir wollten nach Rang fünf bei der WM 2024 unbedingt in Chengdu der Welt beweisen, was wir wirklich können. Das haben wir richtig krass durchgezogen, aber nun geht es bei der EM wieder von vorn los. Damit muss man auch mental umgehen können.“
Die Grundlage dafür zu legen, dass das auch künftig den deutschen Auswahlteams gelingt, ist eine der Aufgaben, die in ihrer „neuen“ Funktion auf Leonie Wagner warten. Die Betreuung der Teams obliegt in erster Linie zwar den jeweils zuständigen Bundestrainern, mit denen sie sich eng abstimmt. „Ich bin als Bindeglied zwischen den Nationalteams und dem Verband dafür zuständig, die Planung rund um die Teams zu gewährleisten. Gemeinsam im Trainerteam legen wir fest, welche Maßnahmen notwendig sind, welche Wettkämpfe wir besetzen und wie wir das finanzieren, und dann spreche ich das mit den Ressortleitern ab. Es ist ein sehr spannendes Berufsfeld, auf das ich mich wirklich sehr freue“, sagt sie.
Weiterhin im System Leistungssport zu verbleiben, das ist für Leonie Wagner ein konsequenter Schritt. 2005 bestritt sie für den PSC Coburg ihren ersten Wettkampf im Kanupolo. Seitdem hat sie ihren Heimatverein, für den ihr Großvater bereits im Vorstand saß und dessen Kanupolo-Abteilung von ihrem Vater mit aufgebaut wurde, nie verlassen. Am vergangenen Wochenende belegten ihr Verein, mit dem sie fünfmal den nationalen Titel gewinnen konnte, und sie bei den deutschen Meisterschaften in Brandenburg an der Havel Rang drei, der Titel ging bei Frauen und Männern an den KSV Rothe Mühle Essen. In der Bundesliga wird sie auch weiter ins Boot steigen. „Ganz ohne aktiv Kanupolo zu spielen kann ich noch nicht leben“, sagt sie und lacht, auch wenn dieser Satz beileibe ernst gemeint ist.
Eine Abschiedsparty ist für den Winter geplant
Den besonderen Reiz ihres Sports beschreibt Leonie Wagner mit der Mischung aus unterschiedlichen Anforderungen. „Es ist wie Handball im Kajak, hat aber auch Elemente aus dem Rugby und ist der einzige Ballsport auf dem Wasser. Wasser ist mein Element, ich mag Zweikämpfe genauso wie den taktischen Anteil des Sports. Außerdem liebe ich die familiäre Atmosphäre, die Kanupolo bietet. Es vereint alles, was ich an Sport mag, deshalb gibt es nichts anderes, was mir so extrem viel Spaß macht“, sagt sie. Kein Wunder also, dass sie vor 13 Jahren mit dem Eintritt in die deutsche Juniorinnenauswahl entschied, dem Kanupolo Vorrang vor der Sportakrobatik zu geben, die sie ebenfalls auf Leistungssportniveau ausgeübt hatte.
Die Konzentration auf ihr Amt als Cheftrainerin erlaubt Leonie Wagner ein neues Zeitmanagement. Sie wird an Wochenenden mehr freie Zeit haben, die sie nutzen will, um ihr Privatleben um Dinge wie Festivals oder Familienfeiern zu erweitern, die während der aktiven Karriere zu kurz kamen. Sie möchte Hobbys pflegen, andere Sportarten ausprobieren, Zeit mit Freunden verbringen. Und sie kann nun auch mal in den Wochen vor einem großen internationalen Event in den Urlaub gehen, was sie sich als Sportlerin nie erlauben konnte. „Es werden viele spannende Dinge kommen, auf die ich mich freue“, sagt sie, „aber ich bin froh, dass ich die Nationalmannschaften weiterhin eng begleiten kann, denn diese Welt ist einfach toll!“
Es ist eine Welt, die sie noch möglichst lange genießen möchte. Eine Abschiedsparty, um den Einschnitt des Karriereendes zu würdigen, ist dennoch geplant; im Winter, wenn ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Wobei stark zu bezweifeln ist, dass Ruhe ein Wert ist, der in Leonie Wagners Karriereplanung Eingang findet. Sie sprudelt über vor Ideen und Plänen, und wer sieht, wie konsequent sie ihren Weg bislang gegangen ist, wird nicht bezweifeln, dass das deutsche Kanupolo unter ihrer Leitung weiter blühen wird.