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„Hilfe zur Selbsthilfe ist der nachhaltigste Weg zur Problemlösung“

Dr. Christian Heiss (46) ist als Teampsychologe für die gesamte deutsche World-Games-Delegation zuständig. Im Gespräch erläutert er seine Arbeitsweise und erklärt weshalb er seine Wirksamkeit nicht nur an Betreuungskontakten misst.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

06.08.2025

Eine Gruppe Sportlerinnen
Mentale Gesundheit ist im Leistungssport ein wichtiges Element auf dem Weg zur optimalen Performance.

DOSB: Christian, du bist seit 20 Jahren in der Sportpsychologie tätig. Täuscht der Eindruck, dass sich zwar sehr viel entwickelt hat, aber das Thema mentale Gesundheit in manchen Teilen des Leistungssports noch immer sehr reserviert behandelt wird?

Christian Heiss: Grundsätzlich hat sich die Sportpsychologie positiv entwickelt, und zwar auf mehreren Ebenen. Zum einen ist die Grundkompetenz der Trainerinnen und Trainer durch verbesserte Ausbildung deutlich höher, das Know-how auf dem Gebiet hat sich vergrößert. Zum anderen gibt es in der Gesellschaft einen Trend zur Psychologisierung. Jugendliche und Erwachsene verwenden Fachvokabular wie Trigger, Trauma oder Narzissmus. Diese Begriffe werden immer häufiger verwendet, es wird generell deutlich mehr über mentale Gesundheit gesprochen. Dadurch ist das Thema auch im Sport weniger stigmatisiert als vor zehn Jahren. Darüber hinaus gibt heute keinen Bereich des Leistungssports mehr, in dem Sportpsychologie keine Rolle spielt. Der Eindruck, dass es dennoch in einigen Teilen des Leistungssports noch immer Vorbehalte gibt, täuscht allerdings nicht.

Wird mentale Gesundheit noch zu oft mit psychischer Erkrankung gleichgesetzt?

Es ist wichtig, dass wir die Begriffe voneinander abgrenzen. Mentale Gesundheit und krankheitswertige psychische Zustände sind unterschiedliche Bereiche. Die mentale Gesundheit kann beeinträchtigt sein, ohne dass eine psychische Erkrankung vorliegt. Menschen können auf den Punkt ihre Leistung abliefern und dennoch mental belastet sein. Unser Ansatz ist, dass wir die Gesundheit der Athletinnen und Athleten stärken wollen, weil daraus die nachhaltigste Leistung entsteht. Dabei ist die Stärkung des mentalen Bereichs durch mentales Training ein Teilbereich.

Du bist als Teampsychologe in Chengdu für die gesamte deutsche World-Games-Delegation zuständig. Worin siehst du deine wichtigste Aufgabe?

Meine Aufgaben beziehen sich auf verschiedene Bereiche. Im IOC gibt es seit Paris 2024 die klare Vorgabe, dass jedes NOK Welfare Officer benennen muss, die die mentale Gesundheit und den Schutz vor sexueller oder psychischer Gewalt prioritär behandeln. Diese Vorgabe gibt es bei World Games nicht, deshalb ist meine Rolle auch nicht so eindeutig definiert. Wichtig ist zu unterstreichen, dass ich mit meinen Kollegen aus dem Gesundheitsmanagement interdisziplinär zusammenarbeite, wir sind im Austausch miteinander und überlegen, wie wir als Unterstützungsteam Athleten und Trainer bestmöglich unterstützen können. Dazu bringe ich meine psychologische Kompetenz und Erfahrung mit ein. Dies betrifft zum Beispiel den Umgang mit emotional aufgeladenen Situationen im medizinischen oder physiotherapeutischen Arbeitsalltag. Ich finde es sehr gut, dass der DOSB dieses Angebot unterbreitet, denn nur wenige Fachverbände haben ihre eigenen Sportpsychologen dabei.

Wie unterscheidet sich deine Arbeit in China von der in deiner Praxis in Plochingen? Die meisten Athletinnen und Athleten, die hier zu dir kommen, kennst du kaum oder gar nicht. Erschwert das die Gespräche?

Meine Rolle hier ist definitiv eine andere als in Deutschland. Hier betreue ich Menschen, die mit einem akuten Anliegen zu mir kommen und auf eine schnelle Lösung hoffen. Das ist klassisches Notfallmanagement. Ich muss mich innerhalb kürzester Zeit auf neue Begebenheiten einstellen und Kurzzeit-Intervention beherrschen. Das ist eine besondere Herausforderung. Ganz wichtig: Ich mache hier keine Therapie, sondern erkenne und benenne Dinge, die kurzfristig veränderbar sind.

Du trägst ein Bändchen um dein Handgelenk, auf dem „What’s important now?“ steht. Ist das eine Art Motto für deine Arbeit?

Ganz genau. Es geht darum, dass wir herausarbeiten, was für diejenige Person, die sich mir anvertraut, gerade wichtig ist. Worum geht es im Wesentlichen? Wer zu mir kommt, hat sich meist im Dschungel seiner Psyche verlaufen. Meine Aufgabe ist es, mit der Person gemeinsam wieder auf einen sicheren, guten Pfad zu kommen und nicht, neues Dickicht zu pflanzen, indem ich zum Beispiel die Person, die Hilfe sucht, mit Input überlade. Ich muss nicht alles über den persönlichen Hintergrund wissen, es bedarf auch keiner vollumfänglichen Öffnung mir gegenüber. Für mich ist Zurückhaltung genauso okay wie Offenheit. Und selbstverständlich ist die Schweigepflicht mein höchstes Gut.

  • Christian Heiss

    Ich bin auch wirksam, wenn mich niemand braucht, ich messe meine eigene Performance nicht an der Zahl der Kontakte. Mir ist wichtig, dass ich sinnvolle Impulse setze.

    Christian Heiss
    Sportpsychologe
    Team D World Games

    Im Leistungssport geht es vorrangig um das Erreichen von Zielen, um eine optimale Performance. Braucht es dafür nicht eine längere und intensive Befassung mit der mentalen Komponente, oder kannst du kurzfristig dabei unterstützen, die bestmögliche Leistung bringen zu können?

    Bei Sportgroßveranstaltungen wie den World Games geht es um eine Balance zwischen mentaler Gesundheit und der Orientierung auf die Performance. Multisportevents haben eine immense Wirkkraft, die die Psyche deutlich stärker arbeiten lässt. Alle Athletinnen und Athleten, die hier sind, haben über mehrere Jahre nur für diesen Moment gearbeitet, manche sogar ihr halbes Leben. Das kann schnell zu einer mentalen Überforderung führen. Deshalb wollen wir hier einen Raum schaffen, in dem es möglich ist, den Umgang mit Überforderung managen zu können. Es ist mein viertes Multisportevent als begleitender Psychologe, das zweite in der Rolle als Mitglied des DOSB-Gesundheitsmanagements. Aus dieser Erfahrung heraus weiß ich, wie wichtig es ist, Ruhe und Stabilität zu schaffen. Wir bauen hier Strukturen auf, die es nachhaltig möglich machen, eine Leistungskultur zu entwickeln. Immer in dem Wissen, dass die, die zu mir kommen, nicht bei mir bleiben, sondern danach zurück in ihre Strukturen gehen.

    Oftmals sind in den bestehenden Strukturen die Trainer*innen erste Anlaufstelle für das Thema mentale Gesundheit. Ist der Satz „Jetzt ist der Trainer als Psychologe gefordert“ nicht aber falsch gedacht? Wofür gibt es denn Expert*innen auf dem Gebiet? Bei einem Beinbruch sagt doch auch niemand: „Jetzt ist der Trainer als Chirurg gefordert.“

    Tatsächlich sehe ich das Problem auf beiden Seiten. Eingangs habe ich gesagt, dass die Grundkompetenz von Trainern deutlich höher ist. Man hört aber vielfach nur Parolen, mit denen Zielzustände von Athleten benannt werden: Fokussiert bleiben, keine Zweifel haben, richtig durchziehen. Der Weg dahin oder die Kompetenzen dafür bleiben oft im Vagen, da gibt es Raum für Verbesserung. Ich würde mir wünschen, dass ein Cheftrainer klare Performance- und Erwartungskriterien auch für den Sportpsychologen anführt, wie er es auch beim Athletiktrainer macht. Wir brauchen eine einheitliche Sprache dazu. Da sehe ich allerdings auch die Sportpsychologie gefordert, besser zu erklären, was sie erreichen will und wie sie es erreichen kann. Klar ist: Trainer können nie komplett objektiv sein, weil sie zum Beispiel Nominierungsentscheidungen treffen. Das bedeutet, dass ihre Athletinnen und Athleten ihnen gegenüber oft nicht vollkommen offen sein können und wollen. Dafür kann die Sportpsychologie sichere Räume schaffen und für Klarheit und Struktur sorgen.

    Wie läuft ein Gespräch mit dir organisatorisch ab, wie kommen Athletinnen und Athleten mit dir in Kontakt?

    Über E-Mail an heiss(at)performance-entwicklung.de kann ein Termin gebucht werden. Ich habe einen Raum im Organisationsbüro des DOSB, dort können Einzelpersonen, aber auch Gruppen hinkommen. Vor Ort ermitteln wir dann den Bedarf. Nicht immer bin ich direkt am Gespräch beteiligt, manchmal setze ich auch nur einen Rahmen, damit Konflikte untereinander gelöst werden können. Hilfe zur Selbsthilfe ist meines Erachtens der nachhaltigste Weg zur Problemlösung.

    Wünscht man sich als verantwortlicher Sportpsychologe zwei Wochen Ruhe, weil das bedeutet, dass es allen mental gut geht? Oder möchtest du gern viel Arbeit haben, um zu unterstreichen, was Sportpsychologie alles kann?

    Ich bin Dienstleister für die Athletinnen und Athleten und den Staff. Wenn niemand kommt, drehe ich ja nicht Däumchen. Viel Arbeit findet im Hintergrund statt. Ich bin auch wirksam, wenn mich niemand braucht, ich messe meine eigene Performance nicht an der Zahl der Kontakte. Mir ist wichtig, dass ich sinnvolle Impulse setze. Es geht darum, den Menschen Chancen zu geben zu erleben, was ich mache. Dabei gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem Schaffen von erlebbaren Angeboten und sich gleichzeitig nicht aufzudrängen.

    Das heißt, anders als die Athlet*innen hast du für die World Games kein Performance-Ziel?

    Doch. Mein Ziel ist es, noch besser herauszufinden, welche meiner Arbeitsweisen zu mehr Reserviertheit bei Athleten und Trainern führt und welche zu mehr Akzeptanz. Es könnte zum Beispiel sein, dass vor allem während der Wettkämpfe Akzeptanz dann entsteht, wenn Sportler und Trainer konkret erleben: Da ist jemand, der mir bei etwas hilft, mit dem ich kämpfe. Mein Ziel ist, dass die, die zu mir kommen, dies möglichst oft erleben.

    Dafür wünschen wir viel Erfolg und danken für das Gespräch.

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