„Die Kombination aus Zuschauen und Mitmachen ist etwas Wunderbares“
Fabian Wegmann, früher als Profi und heute als Renndirektor auf Topniveau unterwegs, spricht über den Radsport-Boom in Deutschland, die unverzichtbare Arbeit der Vereine und darüber, was er sich von Tour-Senkrechtstarter Florian Lipowitz erhofft.

28.07.2025

Der Sommer ist für Fabian Wegmann die intensivste Jahreszeit. Als Experte für die ARD war er in den vergangenen drei Wochen bei der Tour de France unterwegs, als Renndirektor der ADAC Cyclassics in Hamburg und der Deutschland-Tour stehen im August große Veranstaltungen in der Heimat an. Doch der 45-Jährige geht alle Herausforderungen mit Gelassenheit an, schließlich liebt er den Radsport. Über diese Leidenschaft haben wir mit ihm gesprochen.
DOSB: Fabian, du bist in den vergangenen Wochen bei der Tour de France sehr viel in Frankreich unterwegs gewesen und hast den Hype, der um Florian Lipowitz entstanden ist, aus der Ferne miterlebt. Wie beurteilst du, was seine grandiose Leistung für den Radsport in Deutschland bewirken kann?
Fabian Wegmann: Zunächst möchte ich feststellen, dass wir schon in den vergangenen Jahren beobachtet haben, dass immer mehr deutsche Fans in Frankreich waren. In diesem Jahr war noch einmal ein deutlicher Anstieg zu beobachten, und der liegt nicht primär an Florian, denn einen Besuch bei der Tour plant man ja nicht mal eben spontan. Dennoch bin natürlich auch ich maximal begeistert von seiner Leistung und hoffe, dass sie noch einmal einen weiteren Aufschwung für unseren Sport bringt. Wir beobachten seit Jahren auch bei den Jedermann-Rennen einen Anstieg der Teilnehmenden-Zahlen, und wenn dann einer bei den größten Rennen vorn mitfährt, steigt das Radsport-Fieber noch einmal an.
Was traust du Florian Lipowitz mittelfristig zu? Müssen wir aufpassen, nicht zu euphorisch zu sein?
Grundsätzlich ist eine gewisse Zurückhaltung nie verkehrt, wir hatten vor sechs Jahren, als er Vierter der Tour geworden ist, schon einmal einen ähnlichen Hype um Emanuel Buchmann, der dann von seinem schweren Sturz zurückgeworfen wurde und gerade ein wenig um den Anschluss kämpft. Aber wenn Florian gesund bleibt, dann kann er sich als Top-fünf-Kandidat etablieren und auch Großes gewinnen. Man darf nicht vergessen, dass er erst 24 Jahre alt und seit drei Jahren Profi ist und nicht aus dem Radsport, sondern aus dem Biathlon kommt. Sein großes Potenzial hat er schon mit Platz sieben bei der Vuelta im vergangenen Jahr gezeigt, er war dieses Jahr Zweiter bei Paris-Nizza und Dritter bei der Dauphiné. Zu Vingegaard und Pogacar ist es noch ein Stück, aber die werden auch nicht ewig auf diesem Niveau fahren.
Täuscht der Eindruck, oder ist die Zeit, in der in Deutschland im Radsport vor allem über die Dopingproblematik gesprochen wurde, vorbei und die Leistungen, die die Sportlerinnen und Sportler erbringen, stehen wieder mehr im Mittelpunkt?
Ich teile diesen Eindruck. Mein Gefühl ist, dass die Menschen die vielen Anstrengungen honorieren, die der Radsport in der Bekämpfung des Dopings unternommen hat, wie die Einführung des Blutpasses oder die frühzeitigen Verbote von Mitteln, noch bevor diese auf der NADA-Liste auftauchen. Wir müssen realistisch sein: Es wird niemals den komplett sauberen Sport geben, weder im Radsport noch anderswo. Es gibt im Sport und in der Gesellschaft immer schwarze Schafe. Einzelfälle sind nie auszuschließen. Aber ein Team, das durch die Bank weg dopt, gibt es nicht mehr, davon bin ich überzeugt. Ich finde auch, dass der Radsport mit dem Thema mittlerweile sehr transparent umgeht. Und ich bin überzeugt, dass die Fans die Leistungen, die die Fahrer bringen, zu würdigen wissen. Wer sich, so wie es auch in diesem Jahr zu Tausenden der Fall war, selbst den Mont Ventoux auf dem Rad hinaufquält und dann sieht, in welchem Tempo die Profis mit schon zwei Wochen voller harter Etappen in den Beinen hinaufrasen, der kann dafür nur Anerkennung empfinden.
Sprechen wir also über den Radsport-Boom in Deutschland. Begonnen hat dieser während der Pandemie. Ist der Radsport ein Corona-Gewinner?
Zumindest lässt sich feststellen, dass die Zahlen seitdem deutlich ansteigen. Ich denke, fast jeder konnte das in seinem Freundeskreis beobachten, dass viele von Sportarten, die sie auf einmal nicht mehr ausüben durften, aufs Rad umgestiegen sind. Das zeigt sich nicht nur an den Verkaufszahlen, die die Industrie aufweisen konnte, sondern auch an wachsenden Mitgliedsbeständen. In meinem Verein hatten wir vor Corona rund 160 Mitglieder und haben 30 bis 35 Lizenzen für die Teilnahme an Rennen ausgegeben. Dieses Jahr liegen wir bei 300 Mitgliedern und 90 Lizenzen. Vor allem der Anteil der Frauen ist überproportional gewachsen. Ich bin in meiner Heimat Münster Mitorganisator des kleinen Rennens „Rund um die Marktallee“. Als wir vor ein paar Jahren starteten, hatten wir acht Frauen dabei. Dieses Jahr sind es schon 38 und 50 Männer, da ist schon fast Geschlechterparität erreicht. Vor Corona gab es sonntags eine Hobbygruppe, die gemeinsame Touren angeboten hat. Heute kann man jeden Abend fünf, sechs solcher Gruppen finden. Da ist wirklich sehr viel passiert.
Das Eine ist, während der Pandemie mit dem Radfahren zu beginnen, weil es kaum Alternativen gab. Das Andere, dann auch dabei zu bleiben. Was sind aus deiner Sicht die Vorzüge, die Menschen im Radsport halten?
Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch, der auf ein Rennrad steigt und eine Tour fährt, sehr schnell spürt, wie schön das ist. Im Vergleich zum Joggen, das ja ebenfalls boomt, hat man einen deutlich größeren Radius. Wenn ich eine Stunde laufe, was in etwa der Belastung von zwei Stunden schnellem Radfahren entspricht, schaffe ich als Hobbyläufer zehn, vielleicht zwölf Kilometer. Auf dem Rad sind 50 bis 60 Kilometer kein Problem, dadurch sieht man viel mehr von der Umgebung. Und ich glaube, dass auch die Bekleidung eine Rolle spielt. Früher waren Radsport-Klamotten furchtbar bunt, man konnte als Highlight vielleicht ein Team-Trikot kaufen, das war es auch schon. Heute gibt es sehr stylische Funktionskleidung, was insbesondere Frauen zu schätzen wissen.
Allerdings dürfen wir den Fakt nicht unterschlagen, dass die Ausrüstung ihren Preis hat. Radsport ist nichts für Menschen mit wenig Geld.
Das stimmt leider. Zwar gibt es einen sehr anständigen Zweitmarkt im Internet, man kann dort qualitativ hochwertige Räder zu vergleichsweise günstigen Preisen kaufen und muss nicht zwingend ins oberste Regal greifen. Aber 1000 Euro bleiben 1000 Euro, inklusive der Kleidung läppert sich das schon, was den Radsport eben deutlich teurer macht als Laufen, wo ein gutes Paar Schuhe ausreicht, um loszulegen. Es gibt aber auch andere Lösungsansätze. In Vereinen wird viel Geld in den Nachwuchs gesteckt oder für Mitglieder eingesetzt, die es nicht so dicke haben, damit Räder und auch Schutzausrüstung gestellt werden können. Dank des Mitgliederbooms bleibt dafür auch mehr Geld übrig. Da ist also schon einiges möglich.
Das verstehen wir als klares Plädoyer für einen Vereinseintritt, obwohl viele Menschen Radsport als Hobby lieber unorganisiert betreiben…
Das ist auch genauso gemeint. Unsere Vereine – und das gilt natürlich nicht nur für den Radsport – leisten in Deutschland extrem wichtige Arbeit. Aber sie haben es schwer, ausreichend ehrenamtliche Helferinnen und Helfer zu finden, um auch der gestiegenen Nachfrage Herr zu werden. Deshalb appelliere ich an all diejenigen, die gern Radsport betreiben, aber das bislang unorganisiert tun: Tretet in den Verein in eurer Nähe ein! Damit leistet ihr einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung und ermöglicht es, dem Nachwuchs Gutes zu tun. Und wer dann noch in der Lage ist, ein Amt zu übernehmen oder wenigstens ein paar Stunden für ehrenamtliche Tätigkeit zu opfern, der wird erleben, wie bereichernd Sport in der Gemeinschaft ist, wo Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft zusammenkommen und tun, was sie lieben.
Florian Lipowitz ist erst im Alter von 19 Jahren zum Radsport gewechselt, was beweist, dass auch Spätstarter weit kommen können. Ab welchem Alter würdest du dazu raten, Radrennen zu bestreiten?
Erste Rennen gibt es in der Altersklasse U11, aber man muss ja nicht auf der Straße beginnen, viele starten auch im Gelände. Aus meiner Sicht ist die Altersgruppe 10 bis 12 ein idealer Startpunkt. Man braucht schon eine gewisse Größe, um auf dem Rennrad klarzukommen. 1,45 Meter sind ein guter Richtwert. Bei Florian kam sicherlich erleichternd hinzu, dass er aus dem Biathlon kam und entsprechend athletisch ausgebildet war. Aber die Technik und das Teamverständnis, das es im Radrennsport braucht, ist innerhalb einiger Jahre zu erlernen, deshalb sehe ich da keine Obergrenze für den Einstieg.
Deutschland ist ein Land der Jedermann-Rennen, am 17. August werden zu den ADAC Cyclassics in Hamburg, deren Renndirektor du bist, wieder mehr als 11.000 Hobbysportler*innen erwartet. Warum funktioniert dieses Format so gut?
Weil die Teilnehmenden am selben Wochenende auf derselben Strecke wie die Profis unterwegs sind und sich deshalb auf eine einwandfrei gesicherte und durchgeplante Tour freuen können. Das holt die Leute komplett ab, weil sie sich mit den Profis identifizieren und sogar vergleichen können. Diese Veranstaltungen brauchen wir dringend, damit die Menschen spüren, dass Radrennfahren Spaß macht und gesund ist.
Welche Rolle spielen die großen Profirennen wie Cyclassics und die Deutschland-Tour Ende August für die Verfestigung der Radsport-Begeisterung?
Sie sind unsere Leuchttürme, denn die Faszination, die entsteht, wenn man als Zuschauer ein Profirennen live erlebt, trägt sehr viel dazu bei, es einmal selbst erleben zu wollen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir diese Events pflegen, aber auch, dass wir viele kleinere Rennen anbieten, um dem Nachwuchs Chancen zu geben, sich auszuprobieren und zu beweisen und dadurch den Schritt in den Hochleistungssport zu gehen. Die Verzahnung von Breiten- und Leistungssport ist etwas, das bei uns besonders gut funktioniert. Die Kombination aus Zuschauen und Mitmachen ist etwas ganz Wunderbares.
Als Renndirektor und TV-Experte lebst du diese Kombination sehr intensiv aus. Wie oft schaffst du es aber noch selbst, aufs Rad zu steigen?
Regelmäßig, und ich liebe es, weil ich spüre, wie gut es mir tut. Ich fühle mich nach jeder Einheit einfach besser. Vor drei Jahren hatte ich einen Kreuzbandriss, deshalb ist Joggen für mich mühsam, aber Radfahren geht immer, und das empfinden aus meiner Altersklasse mittlerweile viele so. Insofern bin ich sehr froh und dankbar, dass ich mich dem Radsport verschrieben habe und er mein Leben weiterhin bereichert.
Dann wünschen wir viel Vergnügen beim Rundendrehen und viel Erfolg für die anstehenden Veranstaltungen!
Zur Person
Fabian Wegmann (45) war von 2002 bis 2016 als Radprofi aktiv. Der Münsteraner war siebenmal bei der Tour de France am Start. Sein größter Coup gelang im 2004 im Trikot des Teams Gerolsteiner, als er als erster Deutscher die Bergwertung des Giro d'Italia gewinnen konnte. Etappensiege bei der Polen-Rundfahrt, der Kalifornien-Rundfahrt und der Dauphiné runden seine Karriere ab. Seit seinem Rücktritt vom aktiven Sport ist Fabian Wegmann in diversen Funktionen im Radsport tätig. Er ist Renndirektor beim Münsterland-Giro, den Cyclassics in Hamburg und bei der Deutschland-Tour und außerdem als TV-Experte für die ARD im Einsatz.