Der Erwartungsdruck wird immer größer

Einen offensiveren Umgang mit dem Thema Depression hat der Vizepräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Eberhard Gienger, gefordert.

DOSB-Vizepräsident Eberhard Gienger referierte zum Thema "Leistungssport und Überforderung". Copyright: picture-alliance
DOSB-Vizepräsident Eberhard Gienger referierte zum Thema "Leistungssport und Überforderung". Copyright: picture-alliance

Bei der letzten diesjährigen Veranstaltung des Wissenschaftsforums im Deutschen Bundestag referierte er in seiner Eigenschaft als CDU-Abgeordneter über das Thema „Leistungssport und Überforderung - Sport in der Medien- und Leistungsgesellschaft“. Dabei kam er zu der Erkenntnis, dass viele Top-Athleten heutzutage unter enormen Stress stünden, weil sie entweder um ihre finanzielle Existenzgrundlage oder den Rausschmiss aus einem Kader fürchteten. „Dagegen muss unbedingt etwas unternommen werden“, sagte er.

Der frühere Europa- und Weltmeister am Reck wies daraufhin, dass der Freitod von Robert Enke das letzte Glied in einer langen Kette gewesen sei, wo Sportler mit dem enormen Erwartungs-druck nicht mehr zurecht gekommen seien. Er nannte weitere Beispiele: Marco Pantani, Gewinner der Tour de France und des Giro di Italia, starb an einer Überdosis Kokain. Der frühere Tennisprofi André Agassi gab jüngst erst zu, Drogen konsumiert zu haben, weil er zeitweise keine Perspektive mehr gesehen habe. Der deutsche Skispringer Sven Hannawald entschied sich nach erfolgreicher Behandlung des Burnout-Syndroms, seine Karriere zu beenden. Fußballprofi Sebastian Deisler, der beim FC Bayern ausstieg, litt an Depression.

Gienger sagte, das Phänomen betreffe nicht nur den Spitzensport, sondern viele Bereiche des Lebens, ob nun im Beruf, Studium oder anderswo. Jeden Tag in Deutschland stürben vier Menschen, die sich vor einen Zug werfen, durchschnittlich gebe es jährlich 11.000 Selbsttötungen. Der mit Abstand häufigste Grund dafür seien die Folgen von Depression. Eine Volkskrankheit, die sich immer mehr ausdehne.

Hundertstelsekunden und Tausendstelpunkte

Im Sport seien die physischen und psychischen Anforderungen an die Athletinnen und Athleten extrem hoch, „weil inzwischen Hundertstelsekunden oder Tausendstelpunkte, was zu meiner aktiven Zeit noch nicht so der Fall war, über Sieg oder Niederlage entscheiden“, sagte Gienger. „Die internationale Spitze ist enorm dicht zusammengerückt, so dass Winzigkeiten den Ausschlag geben. Damit muss man erst einmal fertig werden.“

Dieser hohe Erwartungsdruck werde durch bestimmte Medien noch um ein Vielfaches geschürt, die nur den strahlenden Gewinner feierten. Da werde viel zu oft nach dem angelsächsischen Muster gehandelt, wonach der zweite Platz schon der erste der Verlierer sei. „Und der Sport ist nun einmal ein Spiegelbild unserer Gesellschaft“, so der Unions-Politiker, der sich für ein humanes, solidarisches und sensibles Miteinander aussprach, das schon im Kindesalter beginnen sollte. „Ich halte deshalb auch nichts von einer frühen Spezialisierung auf eine Sportart, weil das die motorische Vielfalt und die psychische Stabilität einschränkt. Neben Training und Wettkampf darf niemals die Freude und der Spaß am Sport zu kurz kommen.“

Gienger forderte, den Schleier des Schweigens über die Krankheit Depression zu durchbrechen, wobei ein Sich-Outen nicht als Schwäche verstanden werden dürfe. Stress gilt als Hauptauslöser für Depressionen. Das lasse sich im Hochschulsystem mit der Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem ebenso festmachen wie im Sport. „Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass bei den Spitzenathleten in Deutschland mehr denn je die ‚Duale Karriere‛ in den Vordergrund gerückt wird“, sagte Gienger, „damit ein Sportler noch ein zweites Standbein hat, wenn er, aus welchem Grund auch immer, seine Laufbahn vorzeitig beenden muss.“.

Die Offenheit, mit der sich Menschen ihren Ängsten stellten, könne auch dazu dienen, dass die Wissenschaft auf mehr spezifische Informationen zurückgreifen und neue Behandlungsmethoden entwickeln könne. Was wiederum den Betroffenen zugute komme, so Gienger. Früherkennung sei besonders wichtig, weil mit zunehmender Krankheitsdauer sich die Heilungschancen verschlechterten. „Aus diesem Grunde halte ich das Gespräch mit einem Hausarzt auch für sehr wichtig. Die Aufklärungsarbeit sollte eigentlich schon in den Schulen beginnen“, sagte er. Den Vereinen falle ebenfalls ein Großteil von Verantwortung zu. „Nicht jeder kann Olympiasieger werden, doch die kleinen persönlichen Erfolge, ob nun auf Kreis- oder Landesebene, sind es, die schon zur einer Befriedigung führen können.“

In gewisser Beziehung äußerte Gienger Verständnis dafür, wenn Menschen in auswegloser Situation zu Maßnahmen griffen, die eigentlich nicht zu rechtfertigen seien. „Auch ich befand mich einmal in einer sehr schwierigen Lage, als ich im Mai 2000 mit dem Fallschirm abstürzte, mir schwere Verletzungen zuzog und eine anfangs nicht erkannte Virusinfektion hinzukam. Da habe ich es vor Schmerzen kaum ausgehalten und konnte des nachts nicht schlafen. In diesen Momenten war es wichtig, dass ich ein gutes Umfeld hatte, das mir half, meine Probleme zu meistern.“

Mehr gegenseitiges Verständnis

Grundsätzlich sollte demnächst eine Debatte in Deutschland darüber geführt werden, wie die  Gemeinschaft psychisch Kranken helfen, ihnen den Druck vor der Verantwortung nehmen können, sagte der DOSB-Vize. „Da bin ich ganz der Meinung des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger, der bei der Trauerfeier für Robert Enke erklärte, dass Fußball nicht alles sei. Wir sollten dafür sorgen, dass das Menschliche wieder die Oberhand gewinnt.“ Der Sport ganz allgemein übe doch eine positive Ausstrahlung aus.

Nach dem tragischen Tod Enkes werde mehr gegenseitiges Verständnis, Solidarität und Sensibilität gebraucht. Von „Weicheiern“ zu sprechen, sei ganz und gar unpassend. Menschliche Schwächen und Nöte seien nichts, wofür man sich schämen müsse. Dazu könnten die Medien viel beitragen, indem sie die Privatsphäre achteten und mit den Sportlern fernab von jeglicher Sensationslust und Quotenjagd einen sachlichen und respektvollen Umgang pflegten.

Überforderung sei das zentrale Problem unserer heutigen Gesellschaft, im Sport und außerhalb. Deshalb lautete Giengers Schlusswort: „Der Begriff Krise darf uns nicht in die Resignation führen. Dafür enthält der Sport zu viele positive Elemente. Wir müssen die Chance nur nutzen.“


  • DOSB-Vizepräsident Eberhard Gienger referierte zum Thema "Leistungssport und Überforderung". Copyright: picture-alliance
    DOSB-Vizepräsident Eberhard Gienger referierte zum Thema "Leistungssport und Überforderung". Copyright: picture-alliance