DOSB-Journalistenpreis: Der Meistertrainer vom Bodensee

Mit diesem Beitrag belegte Ingo Feiertag (36) den 2. Platz im vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema „Olympische Randgeschichten“.

Kristof Wilke (stehend) feiert den Sieg des Ruder Achters in London 2012. Foto: picture-alliance
Kristof Wilke (stehend) feiert den Sieg des Ruder Achters in London 2012. Foto: picture-alliance

Klaus Weber war der Jugendtrainer von Kristof Wilke. Der 63-Jährige hat den Olympiasieger gefördert. Ein Mann für alle Fälle beim RC Undine Radolfzell.

1. August 2012. Ein wunderschöner Sommertag. Das Vereinsheim des Ruderclub Undine Radolfzell, direkt am Ufer des Bodensees, platzt aus allen Nähten. Dutzende Menschen sitzen auf den Stühlen, auf dem Boden, drängen sich in den kleinen Raum. Alle wollen sie einen Blick auf den Fernseher erhaschen, über den die letzten Sekunden des Olympischen Ruderrennens flimmern. Als der Deutschland-Achter als Sieger ins Ziel fährt, liegen sich die Zuschauer in den Armen, sie schreien vor Freude, haben Tränen in den Augen. Im Boot auf dem Bildschirm legt sich ein Mann erschöpft zurück, den hier jeder kennt. Kristof Wilke. Der Schlagmann. Der Radolfzeller. Der Olympiasieger.

Vier Monate später, Anfang Dezember. Das Vereinsheim des RC Undine ist im Winter viele Tage wie ausgestorben. Einer jedoch ist immer da: Klaus Weber, den alle nur Beaty nennen, weil er als Schüler ein großer Fan der Beatles war. „Ich bin das Mädchen für alles im Verein“, sagt der 63-Jährige. Die Tasse in seiner Hand erfüllt den Raum mit dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Das Mädchen für alles. Das klingt nach Zeugwart, nach Hausmeister. Natürlich gehört auch die Werkstatt im Bootshaus zu seinem zweiten Heim. Da macht der frühere Kfz-Mechaniker- und Karosseriebau-Meister, „was halt so anfällt“, wie er sagt. „Rollsitze reparieren, Löcher stopfen, mal eine Lackierung erneuern. Kleinigkeiten. Hier ä Löchle, dort ä Löchle.“ Alles wichtig und doch nur nützliche Nebensache. Denn in erster Linie ist Klaus Weber seit 1996 der Trainer der Wettkampfgruppe. Er hat Kristof Wilke auf dem Weg zum Olympiasieger entscheidend geprägt.

Weber ist einer, der gerne mit anpackt, wenn etwas zu tun ist. Er ist ein echter Macher, ein Handwerker fürs Grobe, aber auch einer mit dem feinen Händchen für junge Ruder-Talente, die er in schöner Regelmäßigkeit ganz nach oben bringt. Björn Spaeter 2000, Andreas Penkner 2004 und 2008, schließlich Kristof Wilke 2008 und 2012 – in Webers 16-jähriger Ägide waren Ruderer aus Radolfzell ununterbrochen bei Olympischen Spielen. Der Höhepunkt dabei war – natürlich – Wilkes Goldgewinn.

Am 1. August verfolgt auch Weber das Achter-Finale von London im Vereinsheim. Das Undine-Urgestein, wie Vorstand Lutz Reichelt ihn nennt, steht vor dem Fernseher. Weber ist nervös, angespannt, wie immer, wenn einer seiner Jungs auf einer wichtigen Regatta ist. Wenn das Rennen erst einmal läuft, bist du als Trainer hilflos. Ob direkt an der Strecke, oder wie jetzt, 800 Kilometer Luftlinie vom Lake Dorney in Eton entfernt. Weber kann den Start kaum erwarten, fiebert mit seinem Kristof, fährt in Gedanken mit. In dem Moment spielt es keine Rolle, dass Wilke schon seit sieben Jahren in Dortmund lebt und trainiert. Die meisten machen wie er nach dem Abitur den nächsten Schritt und verlassen den Bodensee.

Webers Sportler sind ausnahmslos Schüler, zwischen 14 und 18 Jahre alt. „Als Berufstätiger kannst du das kaum bewältigen“, sagt der Trainer. „Die Grundnorm für A-Jugendliche sind zwölf Stunden Training pro Woche, meine Spitzenathleten trainieren bis zu 15 Stunden“, fährt er fort. Zwischen den beiden kraftraubenden Winter-Einheiten sitzen die Teenager hier an den Holztischen und machen ihre Hausaufgaben. Seit einigen Wochen sind sie ihrem großen Idol Kristof Wilke wieder ganz nah. An der Wand, dort wo im Sommer das Olympiarennen übertragen wurde, hängen drei riesenhafte Bilder aus London. Vor einem schwarzen Hintergrund mimt der vereinseigene Olympiasieger im Gold-Achter den Usain Bolt, auf rotem Grund sieht man den Radolfzeller in Großaufnahme bei der Medaillenübergabe selig lächeln und im goldenen Passepartout als Fahnenträger bei der Abschlussfeier.

Es ist noch nicht lange her, da saß der heute 27-Jährige selbst an einem dieser Tische. Büffelte nach dem Training für die Schule, ging wieder nach nebenan in die Halle, um an Kraft und Ausdauer zu feilen, bevor er seine Siebensachen packte und spät abends im Dunkeln nach Hause auf die Höri fuhr. Da war Kristof Wilke noch nicht Olympiasieger, Deutschlands Team-Sportler des Jahres 2012. Ein talentierter Junge war er, als er 2001mit einer Gruppe von Gaienhofener Mitschülern zum RC Undine kam, das schon, aber auch „ein schmales Büble, ein echtes Krinkele“, wie sich Trainer Weber schmunzelnd erinnert: „Das Leistungsvermögen hat man bei Kristof schon immer gesehen, aber nicht, dass er mal Olympiasieger wird. In dem Bereich waren andere auch.“

Ein Krinkele, wie man in Südbaden zu einem schmächtigen Bürschchen sagt, ist Wilke längst nicht mehr. Der Modellathlet verteilt 92 Kilogramm auf seine 1,90 Meter. Am 1. August 2012 macht Wilke bei Olympia das Rennen seines Lebens, mit schmerzverzerrtem Gesicht treibt der Kraftprotz sein Boot zum Gold. Wilke hechelt in London, Weber hält in Radolfzell die Luft an. 5:48,75 Minuten. Eine gefühlte Ewigkeit, in der seine Gedanken Achterbahn fahren.

Hunderte junger Männer wurden von Klaus Weber ausgebildet, haben nach seinen Plänen gearbeitet, gewannen Medaillen zuhauf. „Dabei habe ich überhaupt keinen Trainerschein“, sagt der Radolfzeller und lacht laut. „Ich wollte das alles gar nie in diesem Umfang machen. Da ich auch beruflich stark engagiert war, war es gar nicht möglich, den Schein zu machen.“ Klaus Weber ist kein Trainings-Wissenschaftler, kein großer Theoretiker. Seine Stärken sind die Erfahrung und das  Fingerspitzengefühl im Umgang mit jungen Leuten. Relativ spät hat er erst zu dem Sport gefunden, der längst sein Leben bestimmt. Erst mit 18 Jahren, als er sein eigenes Geld verdiente, konnte er sich das damals noch sehr elitäre Rudern leisten. In der heutigen U 23 schaffte der junge Weber es bis in die deutsche Spitze, ehe er seine Karriere beendete. Als Aktiver und später auch als Trainer wusste er, dass der Beruf mindestens genauso wichtig ist wie der Sport. Vielleicht ist er auch deshalb kein engstirniger, besessener Coach. „In gewisser Weise bin ich schon streng“, sagt Weber und grinst, „aber ich fordere nichts Unmenschliches. Wenn sich einer Mühe gibt, dann fährt er bei mir auf Regatten, ob er nun gut ist oder schlecht. Es wird nicht jeder Weltmeister, deutscher Meister oder baden-württembergischer Meister.“

Ein letztes Mal zurück in den August. Olympiasieger, das ist auch für Klaus Weber etwas ganz Besonderes. Die letzten Meter eines dramatischen Rennens. In Radolfzell starren die Zuschauer auf die TV-Übertragung. Die einen haben die Hände gefaltet, andere kauen nervös an den Fingernägeln. Dann ist es geschafft. Mit 0,4 Sekunden Vorsprung kommt Deutschland, kommt ihr Kristof Wilke ins Ziel. Klaus Weber reißt die Arme in die Höhe, jubelt.

Heute ist ein schöner klarer Wintertag. Der Schnee knirscht unter Webers Schuhen. Kalter Wind weht, als der Trainer vom Rasen vor dem Vereinsheim aufs Wasser blickt, während seine Schüler nur ein paar Meter weiter in der Halle schwitzen. „Ich bin schon stolz“, sagt Weber und versteckt seine Hände in den warmen Hosentaschen, „ich habe ja auch einen kleinen Anteil an den Erfolgen.“ Die Konturen der Insel Reichenau verschwimmen im Nebel, der in diesen Monaten in der Bodenseeregion schon früh am Tag den Abend ankündigt. Fast wie an der Themse in London. Oder wie am Lake Dorney in Eton.

(Quelle: Ingo Feiertag/Südkurier)

Hinweis: Dieser Beitrag von Ingo Feiertag (36) ist am 22. Dezember 2012 im Südkurier erschienen. Damit gewann der Allensbacher den 2. Preis im vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema „Olympische Randgeschichten“. Der Beitrag ist nicht zur Weiternutzung für Vereine und Verbände freigegeben.


  • Kristof Wilke (stehend) feiert den Sieg des Ruder Achters in London 2012. Foto: picture-alliance
    Kristof Wilke (stehend) feiert den Sieg des Ruder Achters in London 2012. Foto: picture-alliance
  • Klaus Weber förderte als Jugendtrainer den Olympiasieger Kristof Wilke. Foto: RC Undine Radolfzell
    Klaus Weber förderte als Jugendtrainer den Olympiasieger Kristof Wilke. Foto: RC Undine Radolfzell