DOSB-Journalistenpreis: Zurück im Panzer

Mit diesem Beitrag gewann Katrin Freiburghaus (München) den vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema „Olympische Randgeschichten“.

Kim Platten verpasste wegen einer Verletzung die Olympischen Spiele in London. Foto: Thomas Jereczek
Kim Platten verpasste wegen einer Verletzung die Olympischen Spiele in London. Foto: Thomas Jereczek

Wer Kim Platten beim Training besucht und zu spät kommt, kann sich bis zum Schluss nicht sicher sein, ob sie es wirklich ist. So lange nicht, bis die Torhüterin des Münchner Sportclubs ihren Helm unter den Arm klemmt und den Rest ihrer abenteuerlichen Kluft ablegt, die sie vor der Zerstörungskraft des kleinen, harten Hockeyballs schützt. Vorher ist ihr Lachen hinter dem Visier nur zu erahnen, ihre schlanke Gestalt versteckt hinter einem Brustpanzer und Bergen von Schaumstoff. Es quietscht, wenn sie über den Kunstrasen in Richtung Tor stiefelt.

An einem Sommerabend, an dem die Luft so feucht ist wie in einem Gewächshaus, löst der Anblick ihrer dicken Verpackung klaustrophobische Phantasien aus. Der Gedanke an Franz Kafkas „Die Verwandlung“ drängt sich auf, an den armen Geschäftsreisenden Gregor Samsa, der eines Morgens als Käfer in seinem Bett erwacht. Gepanzert und verzweifelt.

Doch dann hört man Platten laut lachen und wird daran erinnert, dass man sich um diese 23-Jährige wirklich keine Sorgen machen muss. Sie ist froh, dass sie ihren Panzer endlich zurück hat. Auf den ersten Trainingstag in voller Ausrüstung hat sie mehr als acht Monate lang gewartet. Sie habe ihre Arbeitskleidung wirklich vermisst, sagt sie – und strahlt. Sie baut sich in ihrem Tor auf, lässt sich von Trainer Claas Henkel mit Bällen bewerfen und pariert mit allen Körperteilen. Um sie herum sieht es aus wie im Bällebad eines Möbelhauses.

Eigentlich hatte Platten Anfang Juli etwas ganz anderes vorgehabt, als zum Klubtraining zu gehen und nebenher an der Uni Klausuren zu schreiben. Sie hätte sich vorbereiten wollen auf ihre ersten Olympischen Spiele; trainieren, gesunde Sachen essen, darüber nachdenken, was sie alles mit nach London nehmen würde, solche Dinge. Aber ihr Kampf um das Olympia-Ticket war im vergangenen Herbst beendet, ehe er richtig begonnen hatte. Im Oktober, sechs Tage, nachdem sie von ihrer Nominierung für den olympischen Trainingskader erfahren hatte, genügte eine harmlose Sprintübung, um alles über den Haufen zu werfen. Platten kollidierte nach kurzer Distanz mit einer Mitspielerin. „Es war wirklich eine sehr unspektakuläre Szene“, sagt Claas Henkel. „Sie hat leider gereicht.“

Platten war in ihrem Leben nie zuvor verletzt gewesen, nicht einmal eine Zerrung hatte sie gehabt. Nun saß sie beim Radiologen. „Als es dort hieß, dass es zumindest eine Teilruptur des Kreuzbandes sei, konnte ich es nicht glauben. Ich hab’ den ganzen Tag geweint“, erzählt sie. Es ist einer der wenigen Momente, in denen sie beim Sprechen nicht lächelt. Als Sportlerin wusste sie sofort, was diese Diagnose bedeutete – als Medizinstudentin erst recht. Während die anderen Nationalspielerinnen – darunter Plattens Mitbewohnerin Hannah Krüger – begannen, zwischen den Ligaspielen von Lehrgang zu Lehrgang zu düsen, musste sich Platten an den Platz am Spielfeldrand gewöhnen – und an den Gedanken, dass es fortan neue Ziele in ihrem Leben gab.

2010 war sie aus ihrer Heimat Hamburg nach München gewechselt, unter anderem um der hohen Dichte an Nationaltorhüterinnen in der Hansestadt zu entkommen, die ihre Chancen auf eine Olympia-Teilnahme reduzierte. An ihrer Eckenabwehr hatte sie in der vorolympischen Saison arbeiten wollen, stattdessen übte sie Treppensteigen und Geradeauslaufen. „Es war komisch, nicht zu spielen, weil man so völlig machtlos dastand“, sagt sie, „es fällt schwer, das zu akzeptieren, weil man weiß, dass Olympia sehr cool gewesen wäre und man eine Chance gehabt hätte.“ Sie zuckt mit den Schultern und fügt hinzu: „Ich hätte es zumindest gerne probiert.“ Wieder schaut sie ernst ein Loch in die Luft, irgendwo über der Hockey-Anlage.

Ihr von allen im Verein gelobter Optimismus ist keine Gedankenlosigkeit. Platten weiß, dass sich manche Dinge nicht weglächeln lassen. Noch Monate nach der Verletzung gab es Tage, an denen der Schock zurückkam: „Da habe ich gedacht: ,Krass, Kim, du hast einen Kreuz-band-riss!‘ Ich konnte es nicht fassen.“ Wenn die deutschen Hockey-Teams in London um Medaillen spielen, wird Platten in Thailand Urlaub machen. „Es stand nie zur Debatte, nach England zu fahren“, sagt sie, „ich kann mir das nicht live anschauen.“ Es ließe sich gut damit leben, dass es nicht ihre Spiele sind. An dem Wissen, dass sie es hätten sein können, trägt sie schwerer.

„Olympia in Rio ist eh viel attraktiver“, sagt ihr Trainer mit gequältem Lächeln. Es ist ein schwacher Trost, Henkel weiß das. Gute Chancen hat Platten immerhin. Für London war sie eine von vier Kandidatinnen. „Zwei von denen hören definitiv auf“, sagt Henkel, „auch die Dritte wird Rio wohl nicht mehr spielen.“ Die Spiele 2016 sind damit zwar zeitlich weit entfernt, sportlich gesehen aber in Reichweite. Platten spricht darüber nicht, dafür ist sie zu bescheiden.

Sie hat auch keinen konkreten Plan für ihren Weg nach Rio, doch sie wirkt, als begleite sie der Gedanke an die nächste Chance wie selbstverständlich. „Sportler olympischer Sportarten denken in solchen Kategorien“, behauptet Henkel. Und tatsächlich: Wenn man Platten fragt, was passieren würde, wenn sie 2016 längst Ärztin und keine Nationalspielerin mehr wäre, lächelt sie den Einwurf einfach weg. Dann führt sie rasch allerlei Gründe dafür an, warum ein Studium schon mal länger dauern könne als gedacht. Und dann geht es weiter: Auf drei Vierteln des Feldes laufen die Männer des Münchner SC im Kreis. Im übrigen Viertel schnappt Platten unermüdlich nach Bällen. Sie trainiert für Olympia. In Rio. 2016.

(Quelle: Katrin Freiburghaus/Süddeutsche Zeitung)

Hinweis: Dieser Beitrag von Katrin Freiburghaus (29) ist am 12. Juli 2012 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Damit gewann die Münchnerin den 1. Preis im vom DOSB geförderten Berufswettbewerb des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) zum Thema „Olympische Randgeschichten“. Der Beitrag ist nicht zur Weiternutzung für Vereine und Verbände freigegeben.


  • Kim Platten verpasste wegen einer Verletzung die Olympischen Spiele in London. Foto: Thomas Jereczek
    Kim Platten verpasste wegen einer Verletzung die Olympischen Spiele in London. Foto: Thomas Jereczek