Integration durch Sport - Der Kampf um ein Zuhause

Für die einen eine Freizeitbeschäftigung, für die anderen eine Möglichkeit, ein Zuhause zu finden. Die Kronshagener Initiative "Integration durch Sport" führt sozial Benachteiligte durch Judotraining auf den richtigen Weg

Bilder: Johanna Worm
Bilder: Johanna Worm

In der Sporthalle des TSV Kronshagen knien zwölf Kinder und Jugendliche barfuß im weißen Judoanzug in einem Kreis. Ein Plakat hängt an der Tür der Umkleidekabine. Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Respekt, Bescheidenheit, Mut und Selbstbeherrschung sollen nach dem Umziehen mit in die Halle genommen werden. „Rei“. Die Judoka verneigen sich synchron mit der Stirn zum Boden. Währenddessen gleiten die Hände in Form eines Dreiecks von den Oberschenkeln zur Judomatte. Daraufhin wird sich paarweise gegenüber platziert. „Hajime“: Der Kampf möge beginnen. „Integration durch Sport" heißt das Programm des Deutschen Olympischen Sportbundes, das seit 1990 bundesweit deutsche Spätaussiedler, benachteiligte deutsche Bürger und Migranten in Sportvereinen begleitet. Im Auftrag der Bundesregierung wurde es 1989 von Hans Hansen, dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Sportbundes und des Landessportbundes Schleswig-Holstein gegründet. Der TSV Kronshagen wurde im Jahre 2008 von dem Landessportverband Schleswig-Holstein, der das Programm mit Unterstützung des Bundesministeriums des Innern finanziert, als Stützpunktverein für „Integration durch Sport" mit dem Schwerpunkt Judo anerkannt. Bereits in den Jahren 2005/2006 gab es ein Fußball-Projekt für die Berta von Suttner Straße, in dem sehr viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben. Die Judoka im Alter von acht bis vierzehn Jahren trainieren bis zu fünfmal die Woche, um die Kunst der japanischen Kampfsportart zu erlernen und zu perfektionieren. Abgeleitet aus dem Japanischen steht Judo für „der sanfte Weg“ und beruht auf dem Prinzip „Siegen durch nachgeben“. Die Kampfsportart ist ein Weg zur Leibesertüchtigung und darüber hinaus eine Philosophie zur Entwicklung der Persönlichkeit. Judotrainer Daniel Lenk: „Neben der Freude an Bewegung lernen die Kinder und Jugendlichen gegenseitiges Helfen und einen bestmöglichen Einsatz von Körper und Geist“. Daniel ist Sportstudent an der CAU und finanziert sich mit dem Training sein Studium. Der 26-Jährige ist dreifacher Deutscher Vizemeister und kämpft seit dem siebzehnten Lebensjahr in der Bundesliga. Zusammen mit Issa Saroit unterrichtet er die Gruppe seit vier Jahren. Issa ist vor zehn Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommen und hat zunächst selbst an dem Programm teilgenommen, bevor er dort Trainer wurde. Der Russische Meister und siebenfache Deutsche Landesmeister kämpfte fünf Jahre lang in der Bundesliga. Derzeit tritt er für Kronshagen in der Regionalliga an. „Bei der Norddeutschen Meisterschaft durfte ich nicht mitmachen, weil ich keinen Pass habe“, bedauert der 29-jährige Usbeke. Auf Grund seines dreimonatigen Visums kann Issa sich durch das Unterrichten lediglich ein Taschengeld verdienen. Viel lieber würde er eine Festanstellung bekommen, um sich auch ein Studium finanzieren zu können. Durch die Arbeit im Verein versucht er, seinen Asylantenstatus abzulegen, um festangestellter Trainer für die Gruppe zu werden. „Ich habe mein Leben lang Judo gemacht und die Kinder hier sind wie meine Familie“, bemerkt er und richtet seine Augen zurück auf die Matte. Der zwölf Jahre alte Selim Musaev flüchtete mit seiner Familie vor sieben Jahren nach Deutschland. „Issa hat mir eines Tages einen Judoanzug in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle mal beim Training vorbeischauen“, sagt er und zieht seinen Gürtel enger. Mittlerweile ist Semi, wie ihn seine Freunde nennen, seit über einem Jahr dabei. Seine größten Erfolgserlebnisse waren bisher der dritte Platz bei der Norddeutschen Meisterschaft und der erste Platz bei einem internationalen Turnier in Hamburg. „Ich finde es super, dass auch andere Vereine aus Kiel oder Hamburg an dem Projekt teilnehmen. So findet man viele Freunde und kommt mal raus“, erzählt er begeistert. Inzwischen kämpfen die Kronshagener Judoka im Norden erfolgreich an der Spitze. „Die Jungs und Mädchen sind so motiviert, dass sie bereits mehrere Erfolge bei der U11 und U14 und der Norddeutschen Meisterschaft erzielt haben“, berichtet Daniel stolz. Den Teilnehmern werden nicht nur Disziplin und Verhaltensregeln nahe gelegt, sondern sie haben vor allem etwas Sinnvolles zu tun. Viele in der Gruppe hätten durch den gemeinsamen Sport ihr Deutsch verbessert und einen geregelten Tagesablauf. Auch der 14-jährige Agit Keskin zog vor dreizehn Jahren mit seiner Familie nach Kronshagen. Er kam durch einen Freund, der bereits an dem Programm teilnahm, in die Gruppe. Das Judofieber hat ihn gepackt. „Dadurch, dass ich jeden Tag in der Halle bin, habe ich keine Zeit mehr zum Scheißebauen“, sagt er. Seitdem er Sport treibe, hätte er seine Ernährung umgestellt und fühle sich körperlich fitter. Er weiß, dass er auf sein Gewicht achten muss, wenn ein Wettkampf bevorsteht. Das bedeutet Disziplin statt Burger. Selbst über die deutsche Grenze hinaus schlägt „Integration durch Sport" seine Wurzeln. In Frankreich besteht das Programm ebenfalls seit mehreren Jahren. Vergangenen November fand ein deutsch-französischer Fachkräfteaustausch statt, bei dem Mitarbeiter, die auf bundesweiter Ebene gesammelten Erfahrungen austauschten. Der Anlass für das Zusammentreffen lag auf der Hand. „Wir haben beobachtet, dass sowohl in Frankreich als auch in Deutschland das Thema Integration ein wichtiges politisches Thema ist und eine hohe Aktualität hat“, sagt Heike Kübler, stellvertretende Ressortleiterin des Programms. Sie zieht ein positives Resümee aus dem Fachkräfteaustausch: „Das war ein erster erfolgreicher Schritt. Jetzt müssen wir weitermachen und herausfinden, wo unsere Gemeinsamkeiten sind". Eine Fortsetzung halte sie für äußerst sinnvoll. „Mate“. Ehrfürchtige Stille herrscht. Mit gebanntem Blick beobachten die Judoka die Demonstration der Trainer. „Sode Tsuri Komi Goshi" steht auf dem Plan. Was sich für einige wie ein japanisches Hauptgericht anhört, ist ein nicht ganz einfacher Wurf über die Schulter. Nach genauer Anweisung, wie dieser zu bewältigen ist, versucht sich ein jeder mit seinem Partner. Nacheinander klatschen Arme auf die Matten, was ein schmerzvolles Fallen verhindert. Danach wird sich ein letztes Mal für heute in den Kreis gekniet, um sich voreinander zu verbeugen. Der Augenkontakt bleibt dabei so lange wie möglich erhalten. Respekt und Anmut liegen in der feuchtgeschwitzten Halle. Der Kampf auf der Matte ist vorbei. Der Kampf um ein gesichertes zu Hause geht für einige der Judoka jedoch weiter.


  • Bilder: Johanna Worm
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  • Integration 011