Kneipp ist aktueller denn je

"Die naturheilkundlichen Ansätze Kneipps sind ein aktives Training mit Langzeitwirkung", sagt Dr. Bernhard Uehleke von der Abteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhaus in Berlin im Interview.

 

Dr. Dr. Bernhard Uehleke praktiziert an der Abteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Foto: privat
Dr. Dr. Bernhard Uehleke praktiziert an der Abteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Foto: privat

Wellness, Anti-Aging, Spa, Thalasso, - um gesund und fit zu bleiben, gibt es heute eine Menge neuer Angebote. Ist da das, was sich Sebastian Kneipp vor über hundert Jahren ausdachte, nicht etwas altbacken?

Uehleke: Kneipp ist in unserer schnelllebigen Zeit aktueller denn je: Viele Wellness-Angebote konzentrieren sich auf Loslassen und Sich-Wohlfühlen. Darin sind sie der Kneippschen Zielsetzung ähnlich. Allerdings haben diese neuen Programme kaum eine langfristigen Wirkung: Sobald man die Wellness-Oase, den Beauty-Tempel und ähnliche Etablissements verlassen hat, vermisst man auch bald das Entspannungsgefühl. Dagegen sind die naturheilkundlichen Ansätze Kneipps ein aktives Training mit Langzeitwirkung. Das Training für das Stressystem härtet ab– und zwar gegen jede Form von Streß, auch gegen den gefährlichen psychischen Streß.

Hinter dem Stichwort Kneipp verbirgt sich ein ganzheitliches Naturheilverfahren. Können Sie in kurzen Worten erklären, was man unter einem ganzheitlichen Ansatz versteht?

Uehleke: Ich spreche lieber von einem breiten Ansatz statt den Modebegriff „ganzheitlich“ zu benutzen. Eine breite Behandlung oder Therapie berücksichtigt zugleich Körper, Geist und Seele – mit den Naturfaktoren Wasser, Ernährung, Bewegung, Heilpflanzen und Ordnung. Der Gegenpart zu einem solchen Ansatz ist eine Medizin, die sich nur auf ein Organ, auf einen Teilaspekt konzentriert. Durch die Zivilisation hat der Mensch verlernt, auf seine Instinkte zu hören – das glaubte schon Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert. Seine naturheilkundlichen Ansätze zielen darauf, dem Menschen wieder ein Leben im Einklang mit dem zu geben, was Gott oder die Evolution geschaffen hat.

Wie steht die Schulmedizin zu den Kneippschen Anwendungen?

Uehleke: Die fünf Säulen Kneipps kann man in unterschiedlichen Bereichen der Schulmedizin erkennen. Die Hydrotherapie beispielsweise ist ein Aspekt der physikalischen Medizin. Die Empfehlung Kneipps, sich regelmäßig aber mäßig zu bewegen, findet sich ähnlich in der modernen Sportmedizin. Gesunde Ernährung bedeutete schon bei Kneipp weitesgehend das Gleiche wie in der heutigen Ernährungsmedizin. Die Psychosomatik arbeitet wie die Ordnungstherapie mit der Erkenntnis, daß ein Leben im Ungleichgewicht psychisch wie physisch krank machen kann.

Wo sind die Grenzen von Naturheilkunde? Bei welchen Krankheiten sollte man sich lieber auf die Schulmedizin verlassen?

Uehleke: Bei akuten schweren Krankheiten oder Krebs ist der Patient sicher besser beraten, sich erst einmal schulmedizinisch behandeln zu lassen. Allerdings kann hier die Naturheilkunde ergänzend wirken, beispielsweise durch die Gabe von Kräutern. Jemand, der an einer schweren Depression erkrankt ist, dem wird Johanniskraut allein nicht helfen. Aber es ist möglich, daß zusätzlich zu der aufmunternden Wirkung von Licht, Luft und Bewegung dann auch diese Pflanze hilft, wo man sonst stärkere Antidepressiva zum Einsatz gebracht hätte.

Mit fast pawlowscher Gesetzmäßigkeit denken die meisten sofort ans Wassertreten, wenn Sie den Begriff Kneipp hören. Warum tue ich meinem Körper eigentlich etwas Gutes, wenn ich durchs Tretbecken stakse?

Uehleke: Ein Gang durch das kalte Wasser macht nach einem üppigen Mittagsessen frisch oder am Abend den Kopf leer für einen guten Schlaf. Wer solcherart regelmäßig macht, erreicht sogar noch viel mehr: Der ganze Organismus wird durchblutet und das Immunsystem gestärkt. Erwachsene wie Kinder-Kneippianer haben etwa 50% weniger Erkältungen. Und vor allem: Sie lassen sich nicht mehr so leicht ärgern, weil sie gegenüber Streß abgehärteter sind. Den gleichen Effekt hat übrigens Sport. Mein persönlicher Tipp sind Knie- oder Armgüsse. Die sind schnell und einfach Zuhause durchzuführen. Man beginnt den Guß an der rechten Fußspitze, geht hinten hoch bis zur Kniekehle, dann wieder runter und macht das gleiche von vorn. Das dauert nicht länger als eine Minute, aber man fühlt sich danach sehr erholt.

Ein Baustein der Kneipp-Philosophie ist die Lebensordnung. Kneipp erkannte, dass zu einem gesunden und glücklichen Leben ganz wesentlich ein nicht zu stressreicher Alltag gehört. Die meisten Menschen aber leiden unter permanenter Zeitnot. Haben Sie einen Tipp, wie man dennoch ausgeglichener leben kann?

Uehleke: Streß ist ein Synonym zu Zeitnot. Um bewusster zu leben, kann man damit beginnen, auf Körpersignale zu achten. Yoga, Meditation und ähnliches helfen dabei. Fragen wir uns, was wir beispielsweise von unseren Lebensstil aufgeben, wenn wir anfangen, uns vollwertig zu ernähren. Was sind unsere Lebensziele? Die Suche nach der Antwort kann dazu führen, daß der Stadtmensch seine Wochenenden in dem Gärtchen auf dem Lande verbringt oder der Manager nur noch halbtags arbeitet. Es müssen aber nicht gleich solch gravierende Änderungen sein: Vielleicht merken wir, daß uns ein Waldspaziergang besser tut, als das Bodybuilderstudio, in dem es nur um Muskeln und Leistung geht.

Herr Dr. Dr. Uehleke, wie sieht Ihr ganz persönlicher Kneipp-Alltag aus?

Uehleke: Ich gehe gern in die Sauna, bade im Winter in kalten Gewässern und mein Schuhwerk sind Sandalen, die mich nicht einengen. Und ich tanke frische Luft – am liebsten beim Cabriofahren durch die Natur.


  • Dr. Dr. Bernhard Uehleke praktiziert an der Abteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Foto: privat
    Dr. Dr. Bernhard Uehleke praktiziert an der Abteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Foto: privat