Die Erwartungen im Vorfeld waren sehr niedrig, die Vorzeichen schwierig: Corona-Pandemie, strenge Hygienemaßnahmen, Winterspiele an einem Ort, wo 2008 noch die Sommerspiele stattfanden und in einem Land mit schwieriger Menschenrechtslage – und dazu startete Russland einen Tag vor der Abreise des Team Deutschland Paralympics die Invasion in der Ukraine. Es lagen große Schatten über den Paralympischen Winterspielen und die weltpolitische Lage machte auch vor dem großen sportlichen Highlight für Menschen mit Behinderung nicht halt. Dennoch rückte nach einer emotionalen und berührenden Eröffnungsfeier mehr und mehr der Sport in den Fokus. In den 78 Medaillenentscheidungen gelangen der deutschen Mannschaft einige Überraschungen und Sensationen: In der Endabrechnung gab es 19 Mal Edelmetall beim neunfachen Debütantenball. Denn von den 17 deutschen Athletinnen und Athleten feierten über die Hälfte ihre Paralympics-Premiere. Zählt man die fünf Guides hinzu, sind es von 22 sogar 14 Debütantinnen und Debütanten.
Im Medaillenspiegel belegte das Team Deutschland Paralympics mit vier Mal Gold, acht Mal Silber und sieben Mal Bronze den siebten Platz – und hat damit Rang eins im ewigen Medaillenspiegel vor Norwegen verteidigt. Blickt man auf die Anzahl, sammelte Deutschland sogar die fünftmeisten Edelmetalle aller teilnehmenden Nationen, hinzu kamen 19 Platzierungen auf den Rängen vier bis acht – eine hervorragende Bilanz angesichts einer kleinen Mannschaft, die sich mitten im Umbruch befindet. Zudem waren mit Anna Schaffelhuber (Karriereende), Andrea Eskau und Clara Klug (beide verletzt) drei Athletinnen nicht vor Ort, die bei den Winterspielen in PyeongChang vor vier Jahren für mehr als die Hälfte aller deutschen Medaillen sorgten. Damals holte die deutsche Mannschaft exakt die gleiche Anzahl an Edelmetall wie in Südkorea 2018. Auch wenn russische und belarussische Athlet*innen infolge des Ausschlusses kurz vor Beginn der Paralympics nicht am Start waren, hat das Team Deutschland Paralympics die sportlichen Erwartungen deutlich übertroffen. Acht deutsche Sportlerinnen und Sportler schafften den Sprung aufs Podium.
Quade: „Völlig unerwartet, dass sie solche Kracher loslassen“
„Hätte jemand vor den Spielen gesagt, dass wir so viele Medaillen gewinnen und so viele tolle vierte bis achte Plätze holen – das hätte ich nicht für möglich gehalten“, sagt DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher und fügt an: „Wir haben spannende und teils dramatische Wettkämpfe erlebt mit hauchdünnen Entscheidungen, mal zu unseren Gunsten, mal haben wir einen noch besseren Platz knapp verpasst. Das macht den Sport aus und für diese Emotionen lieben wir den Sport. Die Ergebnisse unterstreichen, dass wir auf einem guten Weg sind und unsere Trainer und Betreuer einen super Job machen. Klar ist aber auch, dass wir uns keinen Zentimeter zurücklehnen dürfen und den eingeschlagenen Weg konsequent weiter beschreiten müssen. Das Nachwuchsproblem ist und bleibt akut.“
„Wir können insgesamt sehr zufrieden sein“, sagt Dr. Karl Quade, Chef de Mission und Vizepräsident Leistungssport im DBS. „Anna-Lena Forster hat dem Druck standgehalten und eine hervorragende Ausbeute eingefahren. Auch die jungen Athletinnen und Athleten haben tolle Wettkämpfe abgeliefert. Gerade im Para Biathlon und Para Langlauf haben sie Top-Leistungen gezeigt. Dass sie solche Kracher loslassen, das kam für uns in dieser Form völlig unerwartet und wird auch nicht dadurch geschmälert, dass Russland nicht am Start war.“ Geht es nach Quade, war das erst der Startschuss des Umbruchs im deutschen Para Wintersport. „Ich bin mir sicher, dass wir in vier Jahren in Cortina noch einige weitere neue Gesichter sehen werden. Wir haben inzwischen Strukturen geschaffen, die gut funktionieren. Es gibt Nachwuchs-Bundestrainer, spezielle Projektstellen bspw. für Blinden- oder Schneesport und immer mehr Talentscouts in unseren Landesverbänden. Das müssen wir weiter vorantreiben“, betont Quade.
Anna-Lena Forster: „Für mich liefen die Spiele hervorragend“
Für zwei Premieren sorgte Anna-Lena Forster: Die Monoskifahrerin holte an Tag eins mit Silber in der Abfahrt die erste deutsche Medaille dieser Spiele, tags darauf Silber im Super-G und jubelte nach einer emotionalen Achterbahnfahrt zwei Tage später über den Paralympics-Sieg in der Super-Kombination – es war eine sichtliche Befreiung. Anschließend folgten im Riesenslalom Platz vier und im Slalom umjubeltes Gold zum Abschluss. „Für mich persönlich liefen die Spiele hervorragend. Gerade die erste Goldmedaille nach zweimal Silber zuvor war so emotional und auch erleichternd, weil viel Druck von außen kam“, sagt die 26-Jährige, die schon vor ihrem gemeinsamen Auftritt mit Para Biathlet Martin Fleig als Fahnenträgerin bei der Eröffnungsfeier das deutsche Gesicht der Paralympischen Winterspiele war – mit allen dazugehörigen Erwartungen.
Doch mit Beginn der Spiele kamen weitere Gesichter hinzu. Allen voran ein Debütanten-Trio im Para Biathlon und Para Langlauf: Die beiden Duos mit Sehbehinderung, Leonie Walter und Pirmin Strecker (1x Gold und 3x Bronze) sowie Linn Kazmaier und Florian Baumann (1x Gold, 3x Silber, 1x Bronze), begeisterten ebenso wie Marco Maier, der sich im Para Biathlon-Sprint und im Para Langlauf-Sprint in die Weltspitze katapultierte und bewies, dass sein Weltcup-Sieg bei der Generalprobe vor den Paralympics kein positiver Ausrutscher war. Für Leonie Walter, die im Weltcup im Dezember 2021 einmal auf Rang drei landete, ging es auf der Strecke in Zhangjiakou sogar ganz nach oben aufs Podest: Im Para Biathlon über die mittlere Distanz blieb Walter bei 20 Schüssen fehlerfrei und rettete mit letzter Kraft 3,7 Sekunden Vorsprung vor der ukrainischen Favoritin Oksana Shyshkova ins Ziel. Auch für Linn Kazmaier, mit 15 Jahren das Küken im Team Deutschland Paralympics, waren es unvergessliche Spiele. Unbekümmert und mit starken Leistungen erklommen Kazmaier und Baumann sensationelle fünf Mal das Podest – mit der Krönung am vorletzten Wettkampftag: Im Para Langlauf über 10 Kilometer lief das Duo allen davon und feierte einen Gold-Triumph.
Dass mit Anja Wicker, Martin Fleig, der seine grandiose Karriere mit Abschluss dieser Paralympics beendet hat, und Andrea Rothfuss auch noch die „alten Hasen“ Edelmetall mit in die Heimat nehmen können, rundet die erfolgreichen Spiele aus sportlicher Sicht ab. Dazu freute sich Anna-Maria Rieder bei ihrer zweiten Teilnahme über ihre erste Paralympics-Medaille. Die 22-Jährige gewann zum Abschluss Bronze im Slalom. Auch die deutschen Para Snowboarder machten Werbung für ihre Sportart – und Christian Schmiedt schrammte zweimal als Elfter knapp an einer Top-10-Platzierung vorbei. Erst zum zweiten Mal war Deutschland in der Sportart vertreten, die 2014 paralympische Premiere feierte. Diesmal war ein Debütanten-Trio am Start. „Dafür, dass wir erst seit vier Jahren ein Team sind, nicht die Trainingsmöglichkeiten wie andere Nationen haben und trotzdem akzeptable Leistungen abliefern – da bin ich stolz auf die Jungs“, resümierte Cheftrainer André Stötzer.
Klassifizierung: „Das IPC und die Fachverbände haben eine hohe Verantwortung“
International sorgte vor allem China für Aufsehen. Bislang gewann das Gastgeberland bei Paralympischen Winterspielen eine Medaille – Gold im Rollstuhlcurling vor vier Jahren in PyeongChang. Diesmal landete China auf Platz eins im Medaillenspiegel. Erst danach folgten mit deutlichem Abstand im Goldmedaillen-Ranking traditionell starke Para Wintersport-Nationen wie Ukraine, Kanada, Frankreich, die USA und Österreich. „Es ist krass, wie die Chinesen teilweise die restliche Weltspitze deklassiert haben – und das sind ja auch keine Hampelmänner“, sagt Martin Fleig. Man müsse auch berücksichtigen, dass China wahnsinnig viel investiert hätte, erklärt Karl Quade. „Sie haben viele finanzielle Mittel und mehr Menschen mit Behinderung als Deutschland Einwohner hat. Man hat von außen allerdings schon den Eindruck, dass in Einzelfällen falsch klassifiziert wurde. Es ist sehr unglücklich, dass China durch die Gastgeber-Slots keine sportliche Qualifikation mehr erbringen musste. Daher wurden die Athletinnen und Athleten einmal klassifiziert und tauchten dann größtenteils erst wieder bei den Paralympics auf.“ So bleibt ein fader Beigeschmack.
Generell sei eine valide Klassifizierung äußerst wichtig für den Para Sport. „Da tragen das IPC und die Fachverbände eine hohe Verantwortung. Die Rahmenbedingungen müssen so sein, dass sie möglichst faire Wettkämpfe garantieren. Meiner Meinung nach brauchen wir weltweit spezialisierte Klassifizierungszentren mit hauptamtlichen Experten. Das kostet zwar viel Geld, allerdings wird der Para Sport auch immer professioneller und für die Athletinnen und Athleten hängt sehr viel daran“, erklärt Quade. Friedhelm Julius Beucher ergänzt: „Dieses Thema muss ganz nach oben auf die Agenda des IPC. Die Klassifizierung ist die Achillesferse des internationalen Para Sports.“
Beucher: „Sportlich tolle Momente erlebt – doch fröhliche Spiele waren das nicht“
„Rein auf den Sport bezogen, waren es für uns gute Spiele mit vielen Emotionen und tollen Momenten“, sagt Friedhelm Julius Beucher. Darüber hinaus fällt jegliche Einordnung schwer. „Fröhliche Spiele, so wie wir es aus der Vergangenheit kennen und lieben, waren das nicht. Einige Tausend Kilometer weiter tobt ein grausamer Krieg, das geht an niemandem spurlos vorbei. Die ukrainische Mannschaft bangt um Familien, Verwandte und Freunde, sie verdient nicht nur unser Mitgefühl, sondern auch Solidarität. Die Medaillen der Ukraine sind auch Medaillen des Friedens. Das ist eine wichtige Botschaft, die von den Paralympics in die Welt geht“, betont der DBS-Präsident.
Die Corona-Pandemie spielte indes eine deutlich kleinere Rolle als im Vorfeld erwartet. Zwar stellten die Maßnahmen im Vorfeld alle Teilnehmer*innen auf eine harte Probe, doch die befürchteten Szenarien blieben aus. Mit nur 18 positiven Fällen bei Ankunft am Flughafen und sechs im „Closed Loop“ insgesamt, darunter keiner im deutschen Team, fiel die Anzahl nicht nur absolut, sondern auch relativ deutlich geringer aus als bei den Olympischen Spielen. „Vor der Abreise war ich ziemlich nervös und wir hatten alle Angst vor einem positiven Test. Aber sobald man es ins Paralympische Dorf geschafft hatte, hat man sich besser gefühlt und wurde von Tag zu Tag entspannter. Mit Blick auf Corona waren wir wohl am sichersten Ort der Welt“, berichtet Anna-Lena Forster, die bei ihren dritten Spielen jedoch drei Dinge besonders vermisste: ihre Familie, den restlichen Teil des Team Deutschland Paralympics, der im anderen Dorf in Zhangjiakou untergebracht war, und das Deutsche Haus Paralympics. „Das ist als Treffpunkt immer genial. Daher bleiben die Spiele in PyeongChang auch mein bisheriges Highlight.“
Dennoch war ihre Zimmerkollegin Andrea Rothfuss durchaus angetan von der Zeit in China. „Es herrschte ein tolles Flair und es war viel von dem vorhanden, was die Spiele ausmacht: top Bedingungen, sehr freundliche und hilfsbereite Volunteers, gemeinsame Freude, gemeinsames Leid, das Miteinander – diese Emotionen waren auch hier zu spüren und davon werden die Spiele getragen, egal ob Pandemie oder nicht“, sagt die 32-Jährige. Und die muss es wissen, schließlich erlebte Rothfuss bereits ihre fünften Paralympics. Ob noch eine weitere Teilnahme hinzukommt? Das hält sie sich offen. „Die WM im nächsten Jahr möchte ich auf jeden Fall noch fahren und dann schauen wir von Jahr zu Jahr.“
Was bleibt von den Paralympics in Peking? Zeichen des Friedens in schwierigen Zeiten. Gut organisierte Spiele, bei denen Corona kaum eine Rolle spielte. Spannende Wettkämpfe mit einem Team Deutschland Paralympics, das mit vielen Medaillen sowie vorderen Platzierungen sportlich deutlich mehr auftrumpfte als angenommen. Die zuvor niedrigen Erwartungen wurden weit übertroffen. Und was bleibt noch? Die Vorfreude auf die Paralympischen Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezzo.
(Quelle: DBS)