Thomas Bach 70: Die Schwierigkeit des Führens und Behauptens in extremen Zeiten

Dr. Thomas Bach ist Präsident des Internationalen Olympischen Komitees und Olympiasieger im Fechten. Anlässlich seines 70. Geburtstag am 29. Dezember 2023 widmet ihm Günter Deister, als ehemaliger Sportchef der Deutschen Presse Agentur langjähriger journalistischer Begleiter Bachs, ein ausführliches Porträt.

Copyright: IOC/Greg Martin
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Von Günter Deister

Er sei ein „intelligenter, strebsamer Bursche, der die Dinge durchschaut“, hat Willi Daume einmal über den jungen Thomas Bach gesagt. Und so rekrutierte er den jungen Rechtsreferendar und deutschen Athletensprecher beim wegweisenden Olympischen Kongress 1981 in Baden-Baden als internationalen Interessensvertreter für die Sportler. Zehn Jahre später dann, fünf Jahre vor seinem Tod, räumte Daume seinen Platz im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) für Bach. So hat der Mann, der dem deutschen Sport in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Form und Inhalt gab und 1980 bei der Wahl um die Präsidentschaft gegen den Spanier Juan Antonio Samaranch chancenlos unterlag, einen besonderen Anteil am olympischen Aufstieg von Bach.

Der hatte sein Schlüsselerlebnis 1980 als Mitglied einer kleinen Abordnung des deutschen Sports bei Helmut Schmidt mit dem vergeblichen Versuch, den Kanzler vom Boykott der Olympischen Spiele in Moskau abzubringen - die Sowjetunion hatte Afghanistan überfallen. Strikt „Nein“ sagte Schmidt damals unter Hinweis auf eine Solidaritätspflicht mit dem Bündnispartner USA, was er dann später als einen Fehler eingeräumt hat. Für den damals 26 Jahre alten Bach, Fecht-Olympiasieger 1976 in Montreal, war es „ein Urerlebnis, es hat mich bestärkt, mich für die Athleten einzusetzen“.

Aufgewachsen ist Bach in dem süddeutschen Städtchen Tauberbischofsheim. Fußballer wollte er werden, geworden ist er im dortigen Fechtzentrum ein Athlet der Extraklasse. Es kennzeichnete ihn, dass er seine größten sportlichen Erfolge als Teamworker feiern konnte: 1976 mit der Mannschaft Gold bei den Olympischen Spielen in Montreal, dazu noch zwei Weltmeisterschaften. Sein Studium der Rechts- und Politikwissenschaften mündete 1983 in eine Promotion mit Prädikatsexamen. Und längst war aus dem Athleten ein Athleten-Vertreter geworden, zuerst im nationalen Sport, dann im IOC.

Der Olympische Kongress 1981 in Baden-Baden öffnete Bach die Tür zur Internationalität. Zusammen mit Sebastian Coe, dem britischen Leichtathletik-Olympiasieger, führte er die Gruppe der vom IOC eingeladenen Athleten an. Und das mit eindrucksvollen Auftritten und Argumenten. Bach, den die Gruppe „Professor“ nannte, und Coe, dem sie den Beinamen „Shakespeare“ gab, prägten den Kongress mit ihren Forderungen: als eigentliche Träger der Olympischen Spiele ein Anrecht auf Mitsprache und Mitbestimmung im IOC, stärkere materielle Förderung, sogar eine lebenslange Sperre bei Dopingvergehen. Bach wurde Gründungsmitglied in der noch im selben Jahr gegründeten Athletenkommission.

Als 37-Jähriger erklomm Bach die nächste Stufe seiner steilen olympischen Karriere. Willi Daume, langjähriger Gestalter des westdeutschen Nachkriegssports und großzügiger Veranstalter der bis zum furchtbaren Terroranschlag von Palästinensern auf das israelische Team gelungenen Olympischen Spiele in München, machte 1991 seinen Platz im IOC frei für den inzwischen etablierten Wirtschaftsanwalt. Nun wurde der spanische IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zum Förderer für den strebsamen Deutschen. Der qualifizierte sich durch die Mitarbeit in diversen Kommissionen und schaffte es 1996 erstmals in das Exekutivkomitee. Seitdem gehörte Bach zum kleinen Kreis des olympischen Führungspersonals und ab 2001 zum wichtigsten Unterstützer des belgischen Samaranch-Nachfolgers Jacques Rogge.

Zu den olympischen Jahren der internationalen Lehre und Erfahrungen kamen nationale Ambitionen. In einem Kraftakt unter Mithilfe von Politik und Wirtschaft gelang es Bach, die konkurrierende Zweisamkeit von Deutschem Sportbund (DSB) und Nationalem Olympischen Komitee (NOK) zu der 28-Millionen Mitgliederorganisation Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) zu vereinen. Als ihr erster Präsident konnte er nun auf einer starke nationale Basis bauen. Längst auch international vernetzt, ausgebildet in allen Bereichen des Sports und dessen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bezügen, ging er am 10. September 2013 in Buenos Aires in das Wahlfinale des IOC. Es endete mit einem überlegenen Sieg, „dessen Bekanntgabe einer der emotionalsten meines Lebens war“.

Als Anführer einer Organisation mit globalem Anspruch wurde es zu seiner grundsätzlichen Aufgabe, ein friedliches Zusammenkommen in einer unfriedlichen Welt zu ermöglichen, immer in Abhängigkeit von den Kriegen, Krisen und Katastrophen dieser Welt und der Vielfalt von Kontinenten, Kulturen, Religionen, Weltanschauungen. Und all dies unter der Verpflichtung, olympische Teilhabe auch den armen und ärmsten Ländern zu ermöglichen. Den Millionen Flüchtlingen dieser Welt verschaffte Bach bei den Olympischen Spielen Sichtbarkeit durch die Teilnahme eines Teams der Heimatlosen.

Bach hat die Anstrengungen seiner beiden Vorgänger aktiviert und kanalisiert - und in wesentlichen Teilen modernisiert. Durch eine umfassende Agenda mit dem Anspruch, Olympische Spiele in einer zunehmend diversen Welt als einen der letzten friedlichen globalen Versammlungsplätze zu erhalten und zu festigen. Dazu gehörte in einer vom Kapital getriebenen Welt die Notwendigkeit, den olympischen Weltsport durch das Erschließen neuer Quellen finanziell zu unterstützen und Beistand und Anerkennung durch die Beobachterrolle des IOC bei den Vereinten Nationen zu festigen. Im Inneren ging es vor allem um die Veränderung und Stärkung von Strukturen. Der Internationale Sportgerichtshof CAS, die WADA als Weltagentur im Kampf gegen Doping im Zusammenwirken mit den nationalen Einrichtungen NADA und dazu die Internationale Testagentur ITA sind unter ihm gestärkt und unter fordernder Kritik erwachsen und damit zunehmend effizient geworden.

All dies wäre nicht möglich gewesen ohne jene 7,6 Milliarden Dollar, die der Wirtschaftsanwalt Bach für den olympischen Sport in der Phase 2017 bis 2020/21 erwirtschaftet hat. Die wegen Korona um ein Jahr verschobenen Spiele in Tokio wurden mit 1,89 Milliarden Dollar subventioniert, die Winterspiele in Peking mit 970 Millionen. Die beteiligten internationalen Sommersport-Verbände bekamen 540 Millionen ausgezahlt, 201 Millionen gingen an die Verbände des Winters. Paris 2024 wird vom IOC mit 1,8 Milliarden Dollar unterstützt. Jeden Tag, so die Hochrechnung des IOC, gehen gegenwärtig 4,2 Millionen Dollar in den internationalen olympischen Sport, mit den 206 Nationalen Olympischen Komitees als weitere Empfänger.

Revolutioniert hat Bach die Bestimmung der Austragungsorte für die Olympischen Spiele, und das aus guten Gründen. Die Vollversammlung, bisher beauftragt mit der Spiele-Vergabe und immer wieder in Verruf gekommen durch Korruption und Vorteilsnahme von IOC-Mitgliedern, hat ihre Entscheidungskraft eingebüßt. Nun darf sie nur noch absegnen, was ein ausgesuchtes Expertengremium ermittelt und dann die Exekutive beschlossen hat. Also auch kein Überbietungskampf mehr von Bewerbern, die früher schon mal mehr als 100 Millionen Dollar in ihre Kampagne gesteckt hatten, eingerechnet die Gaben an willige, aktenkundig gewordene Olympier und eine kleine Industrie der gierigen Mitverdiener. Bach hat das IOC auf 107 Mitgliedschaften geschrumpft, bemerkenswert ist dabei ein auf 41 Prozent gewachsener Rekord-Anteil von Frauen im einstigen Männer-Klub.

Eine andere von Bach durchgesetzte neue olympische Entschiedenheit fand ihren Ausdruck durch die Vergabe der Olympischen Spiele für Paris 2024 und Los Angeles 2028 im Doppelpack. Das australische Brisbane 2032 ist das Premiere-Produkt des neuen Auswahlverfahrens: eingehende Experten-Überprüfung, Absegnung durch die Exekutive, Bestätigung durch die Vollversammlung. Sollte sich in Deutschland die Fähigkeit und Bereitschaft für eine erstmals ernsthafte, von größtmöglicher Unterstützung getragene Olympia-Bewerbung erweisen, so ergäbe sich eine Chance auf die Ausrichtung von Olympischen Spiele für die Jahre 2036 oder 2040. Das IOC hat bereits jetzt ein knappes Dutzend Interessenten ausgemacht, darunter vor allem Neu Delhi von der neuen Supermacht Indien. Ob Bach dann bei der Vergabe noch im Amt ist, bleibt ungewiss. Nach der bestehenden Regel endet sein olympischer Job nach zwölf Chefjahren 2025.

Auf jeden Fall muss er sich noch um die immer dringlicher werdende olympische Wintersport-Problematik kümmern. Bisher geeignete Kandidaten schmelzen klimabedingt dahin. Eine wissenschaftliche Studie der Universität Innsbruck unter internationaler Beteiligung hat ergeben, dass von 21 bisherigen Olympia-Ausrichtern bis Mitte des Jahrhunderts nur noch vier bis neun sicher für eine Ausrichtung wären, ohne Kunstschnee ginge schon schon jetzt kaum etwas. Das japanische Sapporo, Ausrichter der Winterspiele 1972, wäre demnach zum Ende des Jahrhunderts bei unverändert hohen Emissionen der einzige Ort dieser klimatisch so fundamental bedrohten Welt, wo Winterspiele noch möglich wären. Zur Lösung der Gegenwartsprobleme hat sich das IOC festgelegt auf „gezielte Dialoge“, wie die Vorstufe von Vergaben nun heißt, mit Winterspielen in den französischen Alpen 2030 und 2034 mit einer Neuaufführung der Spiele von 2002 in Salt Lake City im US-Staat Utah, damals das Kainsmal aufgedeckter olympischer Korruption. Das soll möglichst bereits die IOC-Session im kommenden Jahr in Paris beschließen. Die Schweiz erhielt den Status „eines bevorzugten Gastgebers“ für die Winterspiele 2038.

Die nahe olympische Gegenwart trägt den Namen Paris und drückt gleichermaßen Hoffnung und Beschwernis aus. Die Hoffnungen ruhen auf einer Stadt, die Olympia einer der großartigsten Bühnen dieser Welt bereit stellen kann. Und auf einem Programm, das Bachs Agenda erstmals sichtbar macht. Nach vielfachen Ausdehnungen soll eine Rückführung der Teilnehmerzahlen auf 10.500 gelingen, und das erstmals in Geschlechtergleichheit bei der Zahl der Wettbewerbe und mit einer Anzahl von Mixed-Wettbewerben. Dazu wird es erneut ein Team der Flüchtlinge dieser Welt geben, wohl umfangreicher als bisher, was ein sichtbares Kennzeichen wär für die zunehmenden Katastrophen dieser Welt.

Und dann wird es, wenn Kriegstreiber Wladimir Putin es zulässt, auch den Einmarsch eines kleinen, von den internationalen Verbänden aussortierten und vom IOC zu genehmigenden russischen Teams geben, zur Namenlosigkeit verurteilt und anonymisiert auch durch eine vorgeschriebene Bekleidung.


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