Zwischen Stepper und Gleichgewichtskissen

Wie die drei Vereine der Brandenburgischen Sportjugend ältere Migranten/innen ab 60 Plus in Bewegung bringen, zeigt der fünfte Teil der Artikelreihe des Projekts „Zugewandert und Geblieben“ (ZuG).

Die ZuG-Teilnehmerinnen im Cottbusser Sportzentrum in Aktion.
Die ZuG-Teilnehmerinnen im Cottbusser Sportzentrum in Aktion.

Den Oberkörper leicht vorgebeugt, erhebt sich Sina Pavlova von einem Stuhl. Etwas wackelig. Denn mit ihren Füssen steht sie auf zwei Gleichgewichtskissen. „Unser Trainer quält uns gerne“, lacht die 73-Jährige im pinkfarbenen T-Shirt. Göran Kruse ist Übungsleiter und hat für seinen Kurs heute ein kleines Zirkeltraining aufgebaut: Stepper, Gewichtsstange und Hanteln. Die Gleichgewichtskissen, erläutert er, seien eine ausgezeichnete Übung für die Stärkung des Beckenbodens. Eine Station weiter stemmt die 76-Jährige Vasella Inna eine Gewichtsstange und freut sich: „Sport ist wie Adrenalin. Sport ist Leben.“

Durch die Fenster der Turnhalle im Cottbusser Sportzentrum scheint die Sonne. Im Hintergrund läuft Musik, denn mit Rhythmus gehen die Übungen leichter von der Hand. Jeden Freitagvormittag finden rund zwölf Frauen den Weg in das ZuG-Projekt, wärmen sich auf und schwitzen bei Ballspiel oder Aerobic. Das Besondere: Sie sind alle über 60 Jahre alt und sind aus Kasachstan, der Ukraine oder Russland migriert. „Bei uns geht es vor allem um den Spaß am Sport und zwischendurch wird gequatscht“, erklärt Göran Kruse. Er behält alle Teilnehmerinnen im Auge, korrigiert und erklärt. Seine anfänglichen Bedenken wegen möglicher Verständigungsprobleme haben sich inzwischen in Luft aufgelöst: „Rhythmus und Bewegung funktionieren auch ohne Sprache.“ Außerdem ist er begeistert, dass die Seniorinnen seinen Unterricht aufsaugen wie ein Schwamm. Alla Kremenetska ist ein bisschen außer Atem als sie sagt: „Der Trainer zeigt uns die Übungen und ich wiederhole sie dann zu Hause.“

Die Teilnehmerzahl des ZuG-Modellprojekts im Cottbusser Sportzentrum ist in der letzten Zeit stetig angestiegen. Göran Kruse denkt bereits über das Projektende im Dezember 2015 hinaus. „Vielleicht könnte aus der Gruppe eine feste Einrichtung daraus werden.“ Bernd Schädel, Koordinator für „Integration durch Sport“ in Südbrandenburg, wirft ein: „Wenn der Kurs ausläuft, sollen die Seniorinnen und Senioren eigentlich in den Verein übernommen werden.“ Auch wenn im Moment noch ungewiss ist, wie es nach dem Programmende weitergeht: Klar ist, dass die Frauen gerne weiter Sport treiben wollen. Dafür wären sie auch bereit fünf oder sechs Euro im Monat zu zahlen, weiß Bernd Schädel.

Ein Erfolg. Doch was inzwischen so mühelos klingt, beruht auf dem Engagement einer ganzen Reihe von Menschen. Für die Mitarbeiter der Brandenburgischen Sportjugend war es gar nicht einfach, die Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund in die Sporthallen zu locken. Die 28-jährige Victoria Arbuzova, Sportjugend-Koordinatorin für offene Integration, nennt drei Gründe dafür: „Zum einen wissen die älteren Menschen nicht, wie der Sport in Deutschland organisiert ist. In Russland beispielsweise, gibt es keine Sportvereine.“ Zweitens gingen die meisten älteren Menschen erst dann zum Sport, wenn der Arzt es ihnen verschreibt, erläutert die Sprachwissenschaftlerin. „In Russland treiben ältere Menschen generell weniger Sport.“ Und drittens komme erschwerend hinzu: „Natürlich gibt es auch Sprachschwierigkeiten und die meisten sind sehr skeptisch, wenn sie angesprochen werden. Sie haben Angst, dass das Angebot einen Haken hat.“

Aber wie hat das Team der Sportjugend die älteren Damen und Herren dann gewonnen? Uwe Koch ist der Projektleiter des Programms „Integration durch Sport“ für den Landessportbund Brandenburg und blickt auf 25 Jahre Integrationsarbeit zurück: „Wir sind in nahezu jedem Netzwerk vertreten und haben 200 bis 300 Partner, Einzelpersonen und Organisationen.“ Als sie begonnen haben das Senioren-Projekt aufzubauen, erzählt er, hätten sie zunächst nachgefragt, welche Vereine sich für ZuG interessieren. In einem weiteren Schritt haben sie dann die Diakonie, Migranten-Beratungsstellen oder die jüdische Gemeinde angesprochen. Manchmal fügt er hinzu, sei es auch einfach Glück einen Partner zu finden: „Sergey Sumin beispielsweise hat einen Gesundheitssportverein gegründet. Er ist selbst Migrant und hat einen sehr guten Kontakt zu Migranten.“ Uwe Koch lacht. „Wir nennen ihn den Zumba-König von Cottbus.“

Die obere Etage des Hauptbahnhof Cottbus: Im Gesundheitsverein „My Happy Body“ wummern lateinamerikanische Rhythmen. Die Sozialarbeiterin Alla Sumin öffnet die Tür zum Übungsraum: Vier Seniorinnen und zwei Senioren schwingen Arme und Beine im Takt der Musik, die Augen auf Sergey Sumin geheftet. Der tanzt vor und ruft ihnen knappe Anweisungen zu. „Das Knie! Hoch! Hoch! Hoch!“ Atemlos legen die Tänzer eine Pause ein und nachdem sie sich ein wenig erholt haben, beginnen sie zu schwärmen.

Die 79-jährige Natascha Noskova aus St. Petersburg etwa besucht den Kurs, weil sie gesund sein will, gute Laune mag und gerne mit Menschen kommuniziert. Mara Shevcherov ist 68 Jahre alt und steht kerzengerade da. „Seitdem ich Sport mache ist meine Herzerkrankung besser geworden.“ Sie tippt sich mit den Fingern auf die Brust. „Der Druck hier im Brustbereich hat nachgelassen und außerdem macht es einfach Spaß.“ Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus Russland, Usbekistan oder Weißrussland und haben über die jüdische Gemeinde vom ZuG-Projekt erfahren.

Der Zumba-König Sergey Sumin strahlt. Nachdem der junge Mann aus Russland migrierte, machte er in Deutschland ein Ausbildung als Sport-und Fitnesskaufmann und spezialisierte sich auf das Fitness-Konzept aus Kolumbien: „Zumba eignet sich ausgezeichnet für Senioren-Sport. Die Bewegungen machen Freude und man trainiert ohne es zu merken“ erklärt er. Mara Shevcherov ergänzt: „Die Übungen scheinen leicht zu sein, aber sie sind sehr effektiv.“ Mit dem Zumba-Training aufzuhören, das können sich die Tänzer nicht mehr vorstellen. „Unser Plan ist es, dass wir alle weitermachen!“ Dann drückt Sergey Sumin wieder die Play-Taste der Musikanlage und es geht weiter. „Nach rechts! Und eins! Zwei! Drei! Vier!“

Auch Bernd Schädel, ZuG-Koordinator für Südbrandenburg, grinst. „Sergey Sumin ist ein echter Glücksfall.“ Für die Integration im Sport sei es wichtig, dass Migranten als Führungspersonal agierten, erklärt der Sportlehrer und Geräteturner. Dass auch die Akquise erfolgreicher ist, wenn sie von Menschen mit Migrationshintergrund übernommen wird, das hat das Team der Sportjugend in Schwedt gelernt: Der Schwedter Sportverein interessierte sich sofort für das ZuG-Projekt, musste aber nach einigen Monaten feststellen, dass es an Teilnehmern mangelte. Daraufhin zog eine junge Sportjugend-Mitarbeiterin aus Kasachstan los. Sie wandte sich an die dortige Migranten-Beratungsstelle, beantwortete alle anstehenden Fragen auf Russisch und zwei Wochen später startete die Gruppe. „Bei einem so hochsensiblen Thema, wie die Gewinnung von älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist es wichtig, dass die Ansprache durch die Zielgruppe selbst erfolgt“, weiß der Projektleiter Uwe Koch. Migranten hätten da einfach mehr Einfühlungsvermögen. Er sei zwar für das Thema sensibilisiert, „aber am Ende bleibe ich Einheimischer.“

Mit Hilfe von migrantischen „Kümmerern“ konnten in Brandenburg bislang rund 100 Seniorinnen und Senioren für fünf Kurse gewonnen werden. Die teilnehmenden Vereine heißen My Happy Body Cottbus, Sport- und Gesundheitszentrum Cottbus, TSV Blau-Weiß Schwedt und Makkabi Brandenburg. Der Landessportbund Brandenburg ist eine von fünf bundesweit vom Deutschen Olympischen Sportbund ausgewählten Mitgliedsorganisationen, die sich an der Umsetzung des ZuG-Projektes beteiligen.
Doch warum bezeichnen alle Beteiligten die Senioren mit Migrationshintergrund als „hochsensibles“ Thema? Warum mangelt es von Seiten der Migranten an Vertrauen? Und warum gehen Einheimische mit älteren Migranten wenig sensibel um? Uwe Koch erklärt das so: „Diese Menschen haben viel Ablehnung und Ausgrenzung erlebt.“ Häufig herrsche in den Vereinen noch die Vorstellung eines assimilativen Integrationsmodells. Frei nach dem Motto: Ihr könnt mitmachen, aber ihr müsst euch unterordnen. „Das schreckt die Menschen ab. Sie wollen auf Augenhöhe kommunizieren. Es ist doch klar, dass ich nur irgendwo hingehe, wenn ich mich willkommen fühle.“

Uwe Koch seufzt. Er sieht sich von Seiten der Migranten und der Einheimischen gleichermaßen mit einer ganzen Reihe von Befindlichkeiten konfrontiert. In den Vereinen sei es zunächst einmal wichtig, das Bewusstsein für ein interkulturelles Miteinander zu schärfen. Für diesen Perspektivwechsel bietet der Soziologe schon mal ein Wochenendseminar mit dem Titel „Sport interkulturell“ an. Gleichzeitig weiß er aber, dass es für viele ehrenamtlich Aktive schwer ist, sich neben Familie und Beruf, auch noch die Zeit für eine Fortbildung zu nehmen. Dennoch ist der Projektleiter überzeugt: „Die Vereine müssen sich verändern. Wir brauchen dringend eine Willkommenskultur!“  

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 26/2015, Text: Antje Stiebitz)

Weitere Informationen zum Projekt „ZuG“ sowie den teilnehmenden Verbänden und Vereinen finden Sie hier.

Für Fragen und Anregungen steht Ihnen die Projektleiterin Verena Zschippang zur Verfügung.


  • Die ZuG-Teilnehmerinnen im Cottbusser Sportzentrum in Aktion.
    Die ZuG-Teilnehmerinnen im Cottbusser Sportzentrum in Aktion.
  • (alle Fotos: SJ Brandenburg)
    (alle Fotos: SJ Brandenburg)